OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20.03.2003 - 10 LA 30/03 - asyl.net: M3709
https://www.asyl.net/rsdb/M3709
Leitsatz:

Gefahren wegen HIV-Infektion sind in Ghana allgemeine Gefahren gem. §§ 53 Abs. 6 S. 2, 54 AuslG; eine extreme Gefährdung i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG liegt nach Ausbruch der AIDS-Erkrankung sowie im Falle des Abbruchs einer notwendigen medikamentösen Therapie, nicht jedoch im Stadium 1 (A 2) der Infektion vor. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Ghana, HIV/Aids, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Gefahrenbegriff, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, den die Klägerin auf die Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 Nrn. 1 und 3 AsylVfG gestützt hat, hat keinen Erfolg.

Denn das Urteil erweist sich analog § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.11.1996 - 3 A 3990/95 -). Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zutreffend ausgeführt, dass die Klägerin aufgrund ihrer HIV-Infektion im Stadium 1 (A 2) keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG besitzt.

Ohne dass das Verwaltungsgericht zu dieser Frage Stellung genommen hätte, ist mit dem Bundesamt in seinem Bescheid vom 12. November 2002 davon auszugehen, dass die Gefahr, die sich aus dem Auftreten von HIV-lnfektionen und deren unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten in Ghana ergibt, allgemein ist, weil sie eine Vielzahl von Personen, mithin eine ganze Bevölkerungsgruppe, betrifft. Auf die Begründung in dem angefochtenen Bescheid wird Bezug genommen. Auch das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 27.4.1998 - 9 C 13/97 -, NVwZ 1998, 973, 974) räumt ein, dass es allgemeinkundig sei, dass die Immunschwäche AIDS eine zumal in Afrika verbreitete Krankheit sei und die Zahl der HIV-lnfizierten dort besonders groß sei. Diese Einschätzung wird gestützt durch den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. November 2002, der von einer HIV-lnfektionsrate von ca. 4,6 % der Erwachsenen ausgeht.

Die Verwaltungsgerichte dürfen daher im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe angehören, für die - wie hier - ein Abschiebestopp nach § 54 AuslG nicht besteht, nur dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG zusprechen, wenn keine anderen Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG gegeben sind, eine Abschiebung aber Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

Das Vorliegen einer extremen Gefahr, die die Überwindung der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG in verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung rechtfertigt, bedarf mithin der Feststellung, dass der Klägerin bei ihrer Rückkehr nach Ghana der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit drohen würden und dass sie in eine solche Gefahr alsbald nach ihrer Rückkehr gerate (BVerwG, a.a.O., S. 268 m.w.N.).

Damit sind nicht nur Art und Intensität der drohenden Rechtsgutverletzungen, sondern auch die Unmittelbarkeit der Gefahr und ihr hoher Wahrscheinlichkeitsgrad angesprochen. Es ist indessen nicht gesagt, dass nur dann eine die Anwendung dieser Vorschrift rechtfertigende extreme Gefahrenlage besteht, wenn Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat, eintreten. Sie besteht beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (BVerwG, Beschl. v. 26.1.1999 - BVerwG 9 B 617.98 -, InfAuslR 1999, 265).

Eine extreme Gefahrenlage wird im Fall einer HIV-Infektion im Allgemeinen erst in deren Stadium 3 (AIDS) nach der CDC-Klassifikation erwogen (so OVG Hamburg,.Beschl. v. 13.10.2000 - 3 Bs 369/99 -, InfAuslR 2001, 132, 133 für den Fall einer lebensbedrohlichen Lage im Falle der Abschiebung). Eine extreme Gefahrenlage ist aber auch für das fortgeschrittene Stadium 2 (B 2 und B 3) der HIV-Infektion angenommen worden (VG Dresden, Urt. v. 28.5.2002 - A 12 K 31312/99 - und VG Gelsenkirchen, Urt. v. 25.11.2002 - 9a K 1157/00.A -), wenn der Ausländer bei Rückkehr nach Angola beziehungsweise Kamerun die Kosten für die erforderliche antiretrovirale Kombinationstherapie nicht aufbringen kann, was dazu führen würde, dass er an lebensgefährlichen Begleitinfektionen erkrankt und verstirbt. Insbesondere bei bereits aufgetretenen Komplikationen hätte der Abbruch der medikamentösen Therapie eine rasch erfolgende lebensbedrohliche Erkrankung und den Tod des Ausländers zur Folge (vgl. VG Gelsenkirchen, a.a.O.). Dagegen werden die strengen Voraussetzungen für die ausnahmsweise Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG als nicht erfüllt angesehen, wenn sich die HIV-lnfektion nach der CDC-Klassifikation im Stadium 1 (A 2) befindet, also nach Einschätzung des behandelnden Arztes bei Abbruch der Behandlung noch ca. fünf bis sieben Jahre vergehen würden, bevor es zu AIDS-assoziierten beziehungsweise AIDS-definierenden Erkrankungen kommen würde (VG Schwerin, Urt. v. 16.4.2002 - 11 A 2343/96 As -).

Nach diesen Maßstäben, denen der beschließende Senat folgt, erscheint es nach der Sach- und Aktenlage ausgeschlossen, dass von einer extremen Gefahrenlage für die Klägerin bei ihrer Rückkehr nach Ghana hinsichtlich ihrer HIV-lnfektion im Stadium 1 (A 2) ausgegangen werden kann. Denn nach ihrem eigenen Zulassungsvorbringen würde ohne Behandlung der HIV-lnfektion zu erwarten sein, dass die Erkrankung in ca. vier bis sechs Jahren (ärztliches Attest Dr. M. vom 23. Dezember 2002, Bl. 83 der Gerichtsakte) beziehungsweise innerhalb weniger Jahre (ärztliche Stellungnahme Dr. M. vom 3. Februar 2003, Bl. 84 der Gerichtsakte) zum Tode führen würde. Dabei ist der Klägerin erst durch das Attest vom 23. Dezember 2002 eine Verschlechterung der HIV-Infektion von A 1 nach A 2 der CDC-Klassifikation bescheinigt worden, so dass sich die Klägerin in der zweiten von neun Stufen und im mittleren Bereich des ersten Stadiums von dreien der Erkrankung befindet. Diese Tatsachen sprechen dagegen, einen Abschiebungsschutz

analog aus § 53 Abs. 6 AuslG herzuleiten, weil insofern mit dem Verwaltungsgericht nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Klägerin nach ihrer Abschiebung nach Ghana "alsbald" eine Verschlimmerung ihrer Krankheit oder den Tod im Sinne der Realisierung einer extremen Gefahrenlage erleiden müsste.