BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 24.06.2003 - 2 BvR 685/03 - asyl.net: M3906
https://www.asyl.net/rsdb/M3906
Leitsatz:

Auslieferung nach Indien trotz verbreiteter Folter und desolater Haftbedingungen.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Verfassungsbeschwerde, Indien, Auslieferung, Zusicherung, Auslieferungsvertrag, Völkerrecht, Folter, Willkür, Haftbedingungen, lebenslange Haft
Normen: GG Art. 25; BVerfGG § 93a Abs. 2
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht erfüllt sind. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, weil die aufgeworfenen Fragen in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung geklärt sind (vgl. BVerfGE 63, 332 337 f.>; 75, 1 18 ff.>). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Grundrechte angezeigt; sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 25 f.>).

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben deutsche Gerichte in Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 63, 332 337 f.>; 75, 1 19>).

2. Nach diesem verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab ist der Verfassungsbeschwerde ein Verfassungsverstoß durch die angefochtenen Entscheidungen nicht zu entnehmen.

a) Soweit der Beschwerdeführer unter Hinweis auf Berichte von amnesty international und Auswärtigem Amt geltend macht, ihm drohten als strafverdächtiger Person in Indien Folter und Misshandlungen, so rügt er im Kern die aus seiner Sicht falsche Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse seitens des Gerichts.

Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind Sache der dafür zuständigen Fachgerichte (vgl. BVerfGE 18, 85 93>; 30, 173 196 f>; 57, 250 272>; 74, 102 127> stRspr). Auch in Auslieferungsverfahren prüft das Bundesverfassungsgericht insoweit nur, ob die Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Dezember 2000 - 2 BvR 2184/00 -; vgl. 34 auch BVerfGE 80, 48 3). Diese Grenzen sind in dem hier zu entscheidenden Fall nicht überschritten.

aa) (1) Das Oberlandesgericht München stellt in seinem Beschluss vom 30. April 2003 bezüglich der behaupteten Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei einer Auslieferung ausdrücklich darauf ab, dass begründete Anhaltspunkte für die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung vorliegen müssen. Dieser Prüfungsmaßstab entspricht sowohl der vom Oberlandesgericht zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 1994 - 2 BvR 1193/93 -, NJW 1994, S. 2883 = NStZ 1994, S. 492) als auch der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989, Series A No. 161, S. 35 Ziff. 91 = NJW 1990, S. 2183, 2185 - Soering; Reports of Judgments and Decisions 1996-V, 1853, Ziff. 73 f. - Chahal), der inhaltlich gleichbedeutend von “begründeten Tatsachen” (substantial grounds) für ein "tatsächliches Risiko" (real risk) von Folter spricht.

(2) Eine Gefahr in dem beschriebenen Sinne kann angenommen werden, wenn stichhaltige Gründe vorgetragen sind, nach denen gerade in dem konkreten Fall eine "beachtliche Wahrscheinlichkeit" (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, abgedruckt in: Eser/Lagodny/Willkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung, 2. Aufl. 1993, Nr. U 202) besteht, in dem ersuchenden Staat das Opfer von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu werden.

Auf konkrete Anhaltspunkte gerade im Fall des Auszuliefernden kommt es in der Regel nur dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht (vgl. dazu den Wortlaut von Art. 3 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 – UN-Antifolterkonvention, BGBl 1990 II S. 246 248>). Die Auslieferung in Staaten, die eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschrechtsrechtsverletzungen aufweisen, wird regelmäßig die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der elementaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung begründen.

b) Es ist nicht ersichtlich, dass die Feststellungen in den angegriffenen Entscheidungen, mit denen eine entsprechende Gefahr von Folter für den Beschwerdeführer verneint wurde, willkürlich sind.

Für eine solche Annahme reicht der Hinweis des Beschwerdeführers auf die Berichte von amnesty international und des Auswärtigen Amtes, wonach Folterungen und Misshandlungen von strafverdächtigen Personen in Indien weit verbreitet sowie Folter eine "häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode" und ein Erpressungsmittel seien, nicht aus.

(1) Das Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss vom 30. April 2003 nicht in Zweifel gezogen, dass in Indien Folter zum Teil als Vernehmungsmethode oder als Erpressungsmittel angewendet wird. Für seine Einschätzung, dass dem Beschwerdeführer gleichwohl keine konkrete Gefahr von Folter drohe, hat es sich darauf gestützt, dass Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe zwar vorkämen, jedoch verstärkt rechtlich geahndet würden. Dies entspricht der Einschätzung des Auswärtigen Amtes in seinem Lagebericht "Indien". Ferner hat das Gericht darauf hingewiesen, dass Folter in Indien durch Gesetz verboten sei und nicht durch den Staat zielgerichtet gefördert werde, der indische Staat vielmehr Folterer bestrafe und in letzter Zeit auch eine Kampagne zur Bewusstseinserhöhung unter seinen Sicherheitskräften in die Wege geleitet habe. Auch dies findet seine Grundlage in dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes.

Bereits diese Gesichtspunkte lassen die Einschätzung des Oberlandesgerichts nachvollziehbar erscheinen, allein auf Grund des Umstandes, dass Folter in Indien eine häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode oder ein Erpressungsmittel sei, drohe dem Beschwerdeführer keine konkrete Gefahr von Folter mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, insgesamt sei Indien demnach kein Staat, in dem eine ständige Praxis umfassender oder systematischer Menschrechtsrechtsverletzungen herrsche.

(2) (a) Diese Einschätzung des Oberlandesgerichts wird auch von seiner Erwägung getragen, dass der zwischen Deutschland und Indien am 27. Juni 2001 geschlossene Auslieferungsvertrag zu berücksichtigen sei. Der Vertrag sei zwar noch nicht ratifiziert, der Umstand des Vertragsschlusses spreche jedoch dafür, dass die im Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes erwähnten Methoden gerade nicht der Normalfall seien, sondern Ausnahmecharakter hätten, andernfalls es nicht zu einem solchen Abkommen gekommen wäre. Dem kann der Beschwerdeführer nicht mit Erfolg entgegenhalten, dies sei eine willkürliche "hypothetische" Erwägung, da man angesichts der entgegenstehenden Erkenntnisse nicht vom Soll- auf den Ist-Zustand schließen könne.

(b) Die Tatsache des Vertragsschlusses unterstützt ein Verständnis des in seinen Aussagen heterogenen und auf die Situation politisch Verfolgter konzentrierten Asyllageberichts, wonach eine systematische menschenrechtswidrige Praxis gerade auch im Strafvollzug nicht bestehe, weil ansonsten unter Federführung des Auswärtigen Amtes ein Auslieferungsvertrag jedenfalls im Jahr 2001 gar nicht erst geschlossen worden wäre. Darüber hinaus mindert auch die Tatsache des Vertragsschlusses selbst eine etwaige Gefahr für den Beschwerdeführer, weil aus ihm heraus Rechtspflichten für die Republik Indien in Bezug auf die Achtung des menschenrechtlichen Mindeststandards im konkreten Fall der Auslieferung erwachsen.

Hierbei handelt es sich um Erwägungen, die einen Rückschluss auf die tatsächliche Lage in Indien für den Beschwerdeführer erlauben. In dem konkreten Fall hat die Bundesregierung die Auslieferung des Beschwerdeführers mit Verbalnote vom 23. April 2003 "nach Maßgabe der Grundsätze des deutsch-indischen Auslieferungsvertrages" bewilligt. Daraus folgt, dass das deutsch-indische Auslieferungsabkommen, obwohl nicht formell in Kraft getreten, auf Grund des völkerrechtlichen Frustrationsverbotes und der Ausgestaltung der Bewilligung materiell zur Grundlage der Auslieferung des Beschwerdeführers geworden ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Indien den Ratifikationsprozess bereits abgeschlossen und damit nochmals seinen Willen bekundet hat, die mit dem Abkommen begründeten völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten.

Hielte sich Indien nicht an die materiellen Regelungen des Abkommens, läge darin ein Verstoß gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen. Die Bewilligung steht demnach unter der Bedingung, dass Indien den Beschwerdeführer nach der Übergabe entsprechend den völkerrechtlichen Mindeststandards behandelt.

c) Im Hinblick auf menschenunwürdige Haftbedingungen gelten weitgehend die Ausführungen zur Gefahr der menschenrechtswidrigen Behandlung durch Folter (vgl. III. 2. a und b). Der Beschwerdeführer rügt auch insoweit im Kern die aus seiner Sicht unzureichende Auseinandersetzung des Gerichts mit den tatsächlichen Verhältnissen im indischen Strafvollzug.

aa) Diese Rüge wird vom Bundesverfassungsgericht am Maßstab des Willkürverbots des Art. 3 Abs. 1 GG nur daraufhin überprüft, ob die Rechtsanwendung und das dazu eingeschlagene Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, die Entscheidung beruhe auf sachfremden und daher willkürlichen Erwägungen (vgl. oben III. 2. a).

bb) Dies vermag die Beschwerdebegründung nicht darzutun. Der Hinweis des Beschwerdeführers auf die Berichte von amnesty international und den Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes reicht hierfür nicht aus.

Das Oberlandesgericht hat in der Begründung seines Beschlusses vom 30. April 2003 zu diesem Vorbringen zwar nur knapp im Anschluss an seine Ausführungen zu der geltend gemachten Foltergefahr erklärt, gleiches gelte für die vorgetragenen Haftbedingungen; Erkenntnisse für eine konkrete Gefahr für den Beschwerdeführer lägen nicht vor.

Damit hat das Gericht aber – jedenfalls auch – Bezug genommen auf seine tragende Erwägung zur Foltergefahr, bei der der Abschluss des deutsch-indischen Auslieferungsvertrags zu berücksichtigen sei. Aus den oben genannten Gründen kann für die Haftbedingungen im Strafverfahren und im Strafvollzug nichts anderes gelten als für die vom Beschwerdeführer angeführte Foltergefahr: Unabhängig von den Haftbedingungen für einen Großteil der Inhaftierten sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass speziell bei den von der Bundesrepublik Deutschland nach Indien ausgelieferten Personen dort die menschenrechtlichen Mindeststandards nicht eingehalten würden.