OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 10.05.2004 - 8 ME 30/04 - asyl.net: M5261
https://www.asyl.net/rsdb/M5261
Leitsatz:

1. Ein Ausnahmefall i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG liegt nur dann vor, wenn sowohl hinsichtlich der die Ausweisung tragenden spezial- als auch hinsichtlich der generalpräventiven Gründe atypische Umstände gegeben sind.

2. Die persönlichen Verhältnisse des Ausländers sind bei der Prüfung des Vorliegens eines Ausnahmefalles i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG nur zu berücksichtigen, soweit sie für die Gefahrenprognose von Bedeutung sind. Andernfalls sind sie erst bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob ein Ausnahmefall i.S.d. § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG vorliegt.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Jugoslawen, Albaner, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Ausweisung, Straftäter, Freiheitsstrafe, Ist-Ausweisung, Regelausweisung, Generalprävention, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Atypischer Ausnahmefall, Reststrafe, Bewährung, Strafaussetzung zur Bewährung, Besonderer Ausweisungsschutz, Deutschverheiratung, Schutz von Ehe und Familie, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 1; AuslG § 48 Abs. 1 S. 2; StGB § 57 Abs. 1; AuslG § 47 Abs. 3 S. 1; AuslG § 48 Abs. 1; AuslG § 8 Abs. 2 S. 2; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, soweit er sich gegen die Versagung der beantragten Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis richtet, mit der Begründung abgelehnt, dass dieser Erteilung bereits die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG entgegenstehe, da der Antragsteller zugleich sofort vollziehbar ausgewiesen worden ist. Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes sei die Rechtmäßigkeit dieser Ausweisung inzident zu überprüfen.

Das Verwaltungsgericht ist (inzident) zu Recht von der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ausgegangen.

Da § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG sowohl spezial- als auch generalpräventive Überlegungen zugrunde liegen, liegt abweichend von der Regelrechtsfolge ein Ausnahmefall nur dann vor, wenn in Bezug auf beide Ausweisungszwecke ein atypischer Fall gegeben ist. Bezüglich der Spezialprävention sind somit besondere Umstände erforderlich, aufgrund derer entweder die der Ausweisung zugrunde liegende Straftat als weniger gewichtig anzusehen ist oder keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Gefahr erneuter Verfehlungen des Antragstellers gegeben sind. Bezüglich der Generalprävention sind besondere Umstände erforderlich, die ausnahmsweise dazu führen, den Gedanken der Generalprävention als nicht zutreffend anzusehen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 6.2.2001 11 MA 415/01 ; OVG Münster, Beschl. v. 5.3.1998 18 B 1718/96 , InfAuslR 1998, 393, 394, VGH Mannheim, Beschl. v. 9.11.2001 10 S 1900/01 , InfAuslR 2002, 175, 176; OVG Hamburg, Beschl. v. 15.8.2002 3 Bs 127/02 , NordÖR 2003, 131 (Leitsatz), hier zitiert nach juris). Inwieweit die persönlichen Verhältnisse des Ausländers in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen sind, richtet sich nach dem Ausweisungszweck. So können etwa familiäre, wirtschaftliche und sonstige Bindungen zu erwägen sein, soweit sie für die Gefahrenprognose von Bedeutung sind. Fehlt es an einer solchen Bedeutung, so können derartige Bindungen erst bei der Prüfung berücksichtigt werden, ob eine Ausnahme von der Regel des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG vorliegt (BVerwG, Urt. v. 26.2.2002 1 C 21/00 , BVerwGE 116, 55, 63 f).

Hieran gemessen sind die Voraussetzungen für die Annahme des Ausnahmefalles im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG schon aus generalpräventiven Gründen nicht gegeben. Der Antragsteller ist im Zeitraum vom 9. Januar 1997 bis zum 13. November 2001, also innerhalb von fünf Jahren, wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mehreren Freiheitsstrafen von zusammen drei Jahren verurteilt worden.

Der Antragsteller hat durch die begangenen Straftaten den Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG erfüllt. Der Gesetzgeber hat durch die Einbeziehung von mehreren vorsätzlichen Straftaten, die innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, deutlich gemacht, dass sich unabhängig von der zugrundeliegenden Deliktsart grundsätzlich ein Anlass zur Abschreckung anderer Ausländer von der Begehung gleichartiger Straftaten auch aus der Häufigkeit der Begehung von vorsätzlichen Straftaten ergeben kann. Besondere Umstände, die vorliegend dazu führen könnten, diesen Gedanken der Generalprävention als nicht zutreffend anzusehen, sind nicht ersichtlich.

Im Übrigen ist vom Verwaltungsgericht zu Recht auch unter spezialpräventiven Gesichtspunkten ein Ausnahmefall im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG verneint worden. Der Antragsteller ist seit Dezember 1994 insgesamt zehnmal verurteilt worden. Die von dem Antragsteller dabei begangenen Straftaten sind in ihrer Gesamtheit und Häufigkeit auch nicht als weniger gewichtig einzustufen, da er seit der erstmaligen Einreise in das Bundesgebiet im (...) in dem Zeitraum von (...) trotz zwischenzeitlicher Haftverbüßung nicht nur wegen wiederholten Verstoßes gegen seine Aufenthaltsbeschränkungen (zu Geldstrafen) verurteilt worden ist, sondern auch wegen Unterschlagung, mehrfach wegen Diebstahlsdelikten, Bedrohung und zuletzt wegen unerlaubten Führens und Erwerbs einer Schusswaffe. Bei der Beurteilung, ob abweichend von der Regelvermutung vorliegend keine Gefahr besteht, dass der Antragsteller erneut Straftaten begehen wird, ist weiterhin zu seinen Lasten zu berücksichtigen, dass die ihm in den Urteilen des Amtsgerichts D. vom 23. März 1995, des Amtsgericht C. vom 20. November 1995 und des Amtsgerichts D. vom 9. Januar 1997 bewilligte Strafaussetzung zur Bewährung vom Landgericht Münster im Juli 1998 widerrufen worden ist. Der Widerruf der Bewährungsaussetzung war danach angesichts des umfangreichen strafrechtlichen Vorversagens, der hohen Rückfallgeschwindigkeit und der Schwere des Bewährungsversagens unumgänglich. Durch Beschluss des Landgerichts E. vom (...) ist der Antragsteller zwar nachfolgend zunächst bedingt aus der Strafhaft entlassen worden. Auch diese bedingte Entlassung musste jedoch durch Beschluss des Landgerichts E. vom (...) widerrufen werden, weil der Antragsteller im (...) einen gemeinschaftlichen Diebstahl in einem besonders schweren Fall begangen hat. Der damalige Widerruf ist damit begründet worden, dass es angesichts erheblicher und einschlägiger Vorstrafen sowie des Bewährungsversagens besonderer Feststellungen bedürfe, um dennoch zu einer positiven Prognose kommen zu können. Diese besondere Feststellung konnte das Landgericht E. nicht treffen. Danach ist er noch zweimal verurteilt worden, nämlich wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis im (...) und unerlaubten Erwerbs und unerlaubten Führens einer Schusswaffe im (...) . Bei dieser Sachlage bedürfte es zur Annahme einer fehlenden Wiederholungsgefahr i.S.d. § 48 Abs. 1 AuslG schon einer ganz erheblichen Verhaltensänderung und einer daraus folgenden ungewöhnlich günstigen Sozialprognose für den Antragsteller. Dies ist jedoch nicht glaubhaft gemacht worden.

Der Umstand, dass der Antragsteller zwei Drittel seiner Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts F. vom Juli 2000 und des Amtsgerichts D. vom November 2001 verbüßt hat und die Vollstreckung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden ist, genügt hierfür allein nicht (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 9.11.2001 10 S 1900/01 -, InfAuslR 2002, 175, 179).

§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG steht der Ausweisung des Antragstellers ebenfalls nicht entgegen. Danach wird ein Ausländer, der wie der Antragsteller nach § 48 Abs. 1 AuslG erhöhten Ausweisungsschutz genießt, in den Fällen des Abs. 1 in der Regel ausgewiesen. Regelfälle im Sinne dieser Vorschrift sind solche, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichliegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Ein Ausnahmefall liegt ferner vor, wenn der Ausweisung unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG höherrangiges Recht entgegen steht, die Ausweisung insbesondere mit Verfassungsrecht (z. B. mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder dem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG) nicht vereinbar ist. Ob ein Ausnahmefall gegeben ist, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung, bei der alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen, namentlich auch die in § 45 Abs. 2 AuslG an sich für die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde umschriebenen, zu berücksichtigen sind (vgl. Urt. d. BVerwG v. 26.2.2002 1 C 21/00 , BVerwGE 116, 55, 64 f.).

Dass ein solcher Ausnahmefall im Hinblick auf die Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes des Antragstellers und seine schutzwürdigen eigenen Bindungen im Bundesgebiet vorliegt, hat der Antragsteller nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich. Die Bindung des Antragstellers an seine deutsche Ehefrau begründet ebenfalls keinen Ausnahmefall im Sinne des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG. Für die Frage, welche Anforderungen an das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles zu stellen sind, ist zu berücksichtigen, dass das Ausländergesetz es grundsätzlich für zumutbar hält, dass ein Ausländer, der so schwerwiegende bzw. häufige Straftaten begangen hat, wie sie in § 47 Abs. 1 AuslG umschrieben sind, von seinem deutschen Ehegatten bzw. Familienangehörigen getrennt wird. Die damit regelmäßig verbundenen Belastungen des Ausländers und seiner Angehörigen entsprechen dem Willen des Gesetzes und begründen somit keinen Ausnahmefall (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.1.1997 1 B 256/96 Buchholz 402.240 § 47 AuslG Nr. 12). Bei schwerwiegender Straffälligkeit steht auch der Schutz der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 GG der Ausweisung grundsätzlich nicht entgegen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Folgen der Beendigung des Aufenthaltes im Hinblick auf eheliche und familiäre Belange im Verhältnis zu dem Gewicht des öffentlichen Interesses an der Ausweisung des Ausländers unverhältnismäßig hart wären (BVerwG, Urt. v. 29.9.1998 1 C 8/96 , NVwZ 1999, 303, 304).

Dies kann hier nicht festgestellt werden. Vorliegend besteht nämlich wegen der zahlreichen Straftaten des Antragstellers ein gewichtiges öffentliches Interesse an seiner Ausreise aus dem Bundesgebiet. Dem steht das Interesse der deutschen Ehefrau des Antragstellers an seinem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber. Dass sie auf seine finanzielle Unterstützung angewiesen wäre, ist nicht dargelegt worden. Allerdings beruft der Antragsteller sich unter Bezugnahme auf eine Bescheinigung der seine Ehefrau behandelnden Diplompsychologin I. sinngemäß darauf, dass er seine Ehefrau psychologisch unterstützten müsse. Sie befinde sich nämlich seit Bekanntwerden der ihm drohenden Abschiebung in einem "emotionalen Ausnahmezustand". Dass die deutsche Ehefrau eines Ausländers, der ausgewiesen wird, unter dem Ausweisungsdruck psychisch leidet, erscheint jedoch als ein allgemeines, mit der Ausweisung eines ausländischen Ehemannes regelmäßig einhergehendes Erscheinungsbild (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 30.4.1998 13 S 2514/97 , InfAuslR 1998, 335, 338). Dass die deutsche Ehefrau des Antragstellers bedingt durch seine Abschiebung dagegen in eine existenzielle psychische Notlage geriete und die Ausweisung deshalb unverhältnismäßig hart wäre, ist hingegen nicht glaubhaft gemacht worden.