BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 05.07.2004 - 2 BvR 225/00 - asyl.net: M5528
https://www.asyl.net/rsdb/M5528
Leitsatz:

Einem Asylbewerber, der in Untersuchungshaft genommen wird, ist es zuzumuten, seinen Prozessvertreter im Asylverfahren alsbald ohne schuldhaftes Zögern von der Haft zu informieren; keine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Verfassungsbeschwerde, Monatsfrist, Fristversäumnis, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Untersuchungshaft, Analphabeten, Sprachkenntnisse, Verschulden
Normen: BVerfGG § 93 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dem Beschwerdeführer nicht zu gewähren, weil er weder ausreichend dargelegt noch glaubhaft gemacht hat, dass er ohne Verschulden verhindert war, die versäumte Frist einzuhalten (§ 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

Ein Verschulden liegt vor, wenn ein Beschwerdeführer diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten ist (Lechner/Zuck, BVerfGG, 4. Aufl., 1996, § 93 Rn. 53; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., 2003, § 60 Rn. 9). Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht dürfen jedoch nicht überspannt werden; es kommt darauf an, ob dem Betroffenen nach den gesamten Umständen des Falles ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er die Frist versäumt hat bzw. nicht alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, damit das Hindernis baldmöglichst wegfällt (Kopp/Schenke, a.a.O., § 60 Rn. 9; Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 60 Rn. 19). Verschulden seines Anwalts wird dem Beschwerdeführer zugerechnet (vgl. § 93 Abs.. 2 Satz 6 BVerfGG).

Dass seine Bevollmächtigten den Beschwerdeführer nicht rechtzeitig über die den Rechtsweg abschließende Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs informieren konnten, ist der Tatsache geschuldet, dass er diese nicht über seinen neuen Aufenthaltsort in Kenntnis gesetzt hatte. Der Beschwerdeführer hat weder substantiiert dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass er tatsächlich daran gehindert gewesen wäre, seine Bevollmächtigten zu erreichen und dass ihm eine entsprechende Benachrichtigung unzumutbar gewesen wäre.

Selbst wenn man dem Vortrag des Beschwerdeführers Glauben schenkt, dass er in der Justizvollzugsanstalt nur die Telefonnummer seiner Bevollmächtigten besaß, nicht aber den Namen ihrer Kanzlei kannte, ist jedenfalls nicht dargelegt, dass er nicht die Möglichkeit gehabt hätte, seine Bevollmächtigten aus der Justizvollzugsanstalt heraus telefonisch zu erreichen und ihnen so seinen Aufenthaltswechsel mitzuteilen, um sicherzustellen, dass er Kenntnis von Verfahrensmitteilungen erhält. Stattdessen hat er lediglich die Behauptung aufgestellt, dass er nicht "ohne weiteres" aus der Justizvollzugsanstalt heraus habe telefonieren können. Zwar ist zutreffend, dass ein Untersuchungsgefangener ein Telefonat mit Personen außerhalb der Haftanstalt grundsätzlich wohl nur in Ausnahmefällen und nur mit Zustimmung der Anstaltsleitung oder des Richters führen kann (vgl. Boujong, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., 2003, § 119 Rn. 56). Der Beschwerdeführer hat indessen nicht einmal dargelegt, dass er um eine entsprechende Erlaubnis nachgesucht, geschweige denn, dass ihm eine solche Erlaubnis verweigert worden wäre.

Dem Beschwerdeführer, einem afrikanischen Asylbewerber, der nach eigenen Angaben Analphabet, gleichzeitig aber 1. Vorsitzender einer von ihm gegründeten exilpolitischen Vereinigung ist, wäre auch zumutbar gewesen zu versuchen, seine Bevollmächtigten auf seine Unterbringung in der Justizvollzugsanstalt zeitnah zu seiner Verhaftung hinzuweisen. Zum einen musste ihm aus dem vorangegangenen Klageverfahren bekannt sein, dass seine Erreichbarkeit auch für seine Bevollmächtigten von großer Bedeutung für das Verfahren oder die Einlegung von Rechtsmitteln ist. Zum anderen musste ihm auch bewusst sein, dass noch eine endgültige Entscheidung über den von ihm geltend gemachten Asylanspruch ausstand, zumal der Grund für seinen Aufenthalt in Deutschland gerade die Nachsuche um Asyl war.

Zwar wird man nicht verlangen können, dass ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Asylbewerber noch am Tage seiner Verhaftung und Verbringung in Untersuchungshaft oder unmittelbar danach seine Bevollmächtigten im Asylverfahren hiervon benachrichtigt. In Anbetracht der auch aus Sicht des Asylbewerbers nicht absehbaren Dauer der Untersuchungshaft muss sich ihm aber aufdrängen, dass er seine Bevollmächtigten im noch nicht abgeschlossenen Asylverfahren von der Verhaftung in Kenntnis setzt, um für diese erreichbar zu sein, sei es zur Übermittlung gerichtlicher Entscheidungen - etwa auch einer eventuellen Terminsladung des Verwaltungsgerichtshofs nach Zulassung der Berufung -, sei es für Rücksprachen zum weiteren Vorgehen. Dies alsbald ohne schuldhaftes Zögern zu tun, ist ihm daher zuzumuten.

Das hat der Beschwerdeführer jedoch nicht getan.