VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 16.03.2005 - 6 K 2438/03.A - asyl.net: M6488
https://www.asyl.net/rsdb/M6488
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Glaubwürdigkeit, Strafverfahren, Haftbefehl, Gruppenverfolgung, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Antragstellung als Asylgrund, Reisebescheinigung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Sie ist begründet, weil der streitige Anerkennungsbescheid des Bundesamtes vom 16. Oktober 2003 rechtswidrig ist; denn der Beigeladene hat nach dem maßgeblichen Sachstand zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) keinen Anspruch auf die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG -, der an die Stelle des - für die hier zu entscheidenden Rechtsfragen inhaltsgleichen, im Zeitpunkt der Behördenentscheidung noch anzuwendenden - § 51 Abs. 1 AuslG getreten ist.

Der Beigeladene ist im Oktober 2002 unverfolgt aus der Türkei ausgereist. Ihm drohten dort keine Verfolgungsmaßnahmen, weil er -wie er behauptet - in Verdacht stand, die kurdische Sache zu unterstützen. Ihm kann aus den nachfolgenden Gründen nicht geglaubt werden, dass er individualisiert bei den türkischen Sicherheitskräften in den Verdacht geraten ist, aktiv den pro kurdischen Widerstand zu unterstützen, und dass er sogar wegen des Versteckens von Waffen für die PKK mit Haftbefehl gesucht wird und angeklagt worden ist. Der sogenannte herabgestufte Prognosemaßstab kommt ihm demnach nicht zugute.

Bei einer Ausreise in die Türkei hat der Beigeladene insbesondere auch derzeit keine Gruppenverfolgung wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit zu befürchten, denn von einer solchen Gefahr ist -auch unter Berücksichtigung der Ereignisse nach der Verhaftung und Verurteilung des PKK-Vorsitzenden Öcalan - bis in die heutige Zeit nicht auszugehen.

Eine entsprechende Verfolgungssituation besteht für Kurden in der Türkei -auch im Osten des Landes - nicht. Denn auch wenn es im Osten der Türkei zu zahlreichen Aktionen der Sicherheitskräfte gekommen ist, die die kurdische Zivilbevölkerung massiv beeinträchtigt und in beträchtlichem Ausmaß zu asylerheblichen Eingriffen in Leib, Leben, Freiheit und die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen geführt haben, ist das Vorgehen der Sicherheitskräfte dabei doch nicht wahllos gegen alle Kurden in dieser Region gerichtet, sondern dient der Bekämpfung echter oder vermeintlicher kurdischer Guerilla, vgl. OVG NRW, Urteile vom 27. Juni 2002 -8 A /99.A- , EA S. 20 ff., und vom 25. Januar 2000 -8 A 1292/96.A-, EA S. 14 ff., 30 ff., sowie Beschluss vom 15. September 1999 -8 A 2285/99.A-.

Es liegen auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass gegenwärtig - erstmals - eine regional begrenzte Gruppenverfolgung der Kurden in Ostanatolien eingetreten ist. Die Ereignisse im Anschluss an die Verhaftung und die Verurteilung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zum Tode führen zu keiner anderen Bewertung, vgl. OVG NRW, Urteile vom 27. Juni 2002 -8 A 4782/99.A-, EA S. 43 ff. und vom 25. Januar 2000 -8 A 1292/96.A-, EA S. 63 ff. und Beschluss vom 15. September 1999 -8 A 2285/99.A-, EA S. 3 ff.

Ebenso wenig besteht für abgelehnte Asylsuchende eine ernstzunehmende Gefahr asylerheblicher Maßnahmen bei Einreise in die Türkei allein wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit oder wegen der Durchführung eines Asylverfahrens. Ein derartiges Risiko ist im Falle der Rückkehr abgelehnter türkischer Asylsuchender, auch solcher kurdischer Volkszugehörigkeit, für den Regelfall selbst dann ausgeschlossen, wenn sie mit einer vomtürkischen Konsulat erteilten Reisebescheinigung in ihr Heimatland zurückkehren müssen, weil sie über keinen gültigen türkischen Reisepass (mehr) verfügen und bei der Einreise in die Türkei die Tatsache der Asylantragstellung und der Abschiebung aus Deutschland nach negativem Ausgang des Asylverfahrens bekannt wird. Denn dies sind im allgemeinen keine Umstände, die geeignet wären, den Argwohn türkischer Stellen zu erwecken. Ihnen ist nämlich gut bekannt, dass viele ihrer Landsleute den Weg der Asylantragstellung gehen, um ein sonst nicht gegebenes vorübergehendes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Allein der Personenkreis der Abgeschobenen, die über keinerlei gültige türkische Reisedokumente verfügen, hat mit einem bis zu drei Tage andauernden Polizeigewahrsam zum Zweck der Personalienfeststellung - die ansonsten vor der Ausstellung von Passersatzpapieren durch das Konsulat erfolgt - zu rechnen. Es sind allerdings keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die abgeschobene Person während der Zeit der Überprüfung asylerheblichen Übergriffen ausgesetzt ist. Die in diesem Zusammenhang bekannt gewordenen Einzelfälle von Festnahmen und Misshandlungen kurdischer Volkszugehöriger bei oder unmittelbar nach der Einreise insbesondere aus den Jahren 1997, 1998 und 1999 rechtfertigen keine gegenteiligen Schlussfolgerungen, weil ihnen besondere Gegebenheiten wie z.B. das Mitführen verbotener Schriften oder eine politische Betätigung im Ausland, zugrunde lagen, aus denen sich eine besondere Gefährdungslage ergab (vgl. OVG NRW, Urteile vom 27. Juni 2002 -8 A 4782/99.A-, EA S. 89 ff., und vom 25. Januar 2000 -8 A 1292/96.A, EA S. 89 ff., 135 ff.).

Eine andere Beurteilung ist auch für die Zeit nach der Verhaftung und Verurteilung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan nicht gerechtfertigt. Denn selbst aus der Phase kurzzeitig erhöhter Spannungen, in der Abschiebungen von Kurden aus Deutschland und anderen Ländern weiterhin erfolgt sind, wird nicht berichtet, dass es zu asylerheblichen Übergriffen allein aufgrund der kurdischen Volkszugehörigkeit und der Asylantragstellung im Ausland -unabhängig von einer zusätzlichen Rückkehrgefährdung durch Vorflucht oder Exilpolitik - gekommen ist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 25. Januar 2000 -8 A 1292/96.A-, EA S. 102 und 139, sowie Beschluss vom 15. September 1999 -8 A 2285/99.A-, EA S. 10 ff., und die dort zitierten Erkenntnisse).