VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 24.05.2005 - 5 K 4958/04 - asyl.net: M7216
https://www.asyl.net/rsdb/M7216
Leitsatz:

Der Aufenthalt im Kirchenasyl lässt das Rechtsschutzinteresse für die Geltendmachung von Abschiebungshindernissen nicht wegen "Untertauchens" entfallen.

 

Schlagwörter: Abschiebungshindernis, Krankheit, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Togo, Malaria, Infektionsgefahr, Immunschwäche, Semi-Immunität, Situation bei Rückkehr, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Rechtsschutzinteresse, Untertauchen, Kirchenasyl, Rechtsschutzgarantie, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

Der Aufenthalt im Kirchenasyl lässt das Rechtsschutzinteresse für die Geltendmachung von Abschiebungshindernissen nicht wegen "Untertauchens" entfallen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Anträge, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Abschiebung der Antragsteller vorläufig auszusetzen (§ 60a Abs. 2 AufenthG), sind zulässig. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners besteht für das Begehren der Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass jede gerichtliche Anrufung regelmäßig von einem entsprechenden allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis getragen wird. Nur in Ausnahmefällen ist es unter Würdigung des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz gerechtfertigt, eine Sachentscheidung des Gerichts wegen Missbrauchs des Justizgewährungsanspruchs auszuschließen. Ferner kann ein erforderliches Rechtsschutzinteresse ausnahmsweise auch im Laufe eines Verfahrens entfallen, wenn im Einzelfall das Verhalten des Rechtsschutzsuchenden Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an der Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.11.2003 - 13 S 2534/01 -).

Der Antragsgegner stellt den Antragstellern unter Hinweis auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Thüringen vom 2.7.1999 - 3 ZEO 1154/98 - (AuAS 1999, 266) ein Rechtsschutzbedürfnis in Abrede. Nach dieser Entscheidung steht einem um Abschiebungsschutz nachsuchenden Ausländer, der untergetaucht ist oder sich verborgen hält, wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens kein Rechtsschutzbedürfnis an einer gerichtlichen Entscheidung zu. Das Oberverwaltungsgericht ging davon aus, dass selbst dem Bevollmächtigten des Antragstellers im dortigen Verfahren der neue Aufenthaltsort nicht bekannt war. Vorliegend ist hingegen davon auszugehen, dass die Antragsteller sich im so genannten Kirchenasyl der Kirchengemeinde**, befinden. Denn als "weitere" ladungsfähige Anschrift über die von der früheren Prozessbevollmächtigten der Antragsteller in der Antragsschrift vom 15.12.2004 bezeichnete Anschrift * hinaus, hat der jetzige Prozessbevollmächtigte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 9.2.2005 das "katholische Pfarramt * Herr Pfarrer *" bezeichnet. Nach dem gescheiterten Versuch, die Antragsteller am 8.12.2004 zusammen mit dem Ehemann der Antragstellerin Nr. 1 und Vater der Antragsteller Nrn. 2 und 3 abzuschieben, ist es nahe liegend, dass die Antragsteller aus Furcht vor ihrer Abschiebung "untergetaucht" sind, was dazu geführt hat, dass die Antragstellerin Nr. 1 zur Fahndung sowie die Antragsteller Nrn. 2 und 3 zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben wurden (vgl. Schreiben des Regierungspräsidiums * vom 15.12.2004 an die Polizeidirektion *).

An die Bejahung einer rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes sind unter Würdigung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Justizgewährungsanspruchs (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie des vom Rechtsschutzsuchenden verfolgten Rechtsschutzzieles hohe Anforderungen zu stellen. Ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch liegt beispielsweise vor, wenn die Rechtsverfolgung bei objektiver Betrachtung nur den Zweck haben kann, dem Prozessgegner zu schaden oder das Gericht zu belästigen, mithin erkennbar missbilligenswerte Ziele zu verfolgen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., Vorb. § 40 RdNr. 52; Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand September 2004, Vorb. § 40 RdNr. 99). Hiervon kann im maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht gesprochen werden. Bereits mit der Antragsschrift vom 15.12.2004 hat die frühere Prozessbevollmächtigte der Antragsteller eine fachärztliche Bescheinigung von Dr. * vom 8.12.2004 vorgelegt, wonach die - im Bundesgebiet geborenen - Antragsteller Nr. 2 (geb. am 5.10.1997) und 3 (geb. am 14.4.1996) stark immungeschwächt und mit Infektionen belastet sind, was im Falle ihrer "Umsiedlung nach Togo eine enorme Gefährdung ihrer Gesundheit" darstellte. Hiermit machen die Antragsteller Nrn. 2 und 3 das grundrechtlich verankerte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit geltend (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG).

Nach § 60a Abs. 2 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Der Anordnungsanspruch bezüglich der Antragsteller Nrn. 2 und 3 folgt aus einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung wegen des grundgesetzlich verankerten Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG).

Ein inlandsbezogenes, vom Antragsgegner zu beachtendes Vollstreckungshindernis liegt vor, wenn die Abschiebung als solche bei dem von der Zwangsmaßnahme betroffenen Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einem Gesundheitsschaden führt oder einen vorhandenen Gesundheitsschaden weiter verfestigt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26.2.1998 - 2 BvR 185/98 -, InfAuslR 1998, 241 und vom 16.4.2002 - 2 BvR 553/02 -, InfAuslR 2002, 415; BVerwG, Urteil vom 21.9.1999 - 9 C 8.99 -, AuAS 2000, 14 = NVwZ 2000, 206; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 26.1.1998 - 3 M 111/97 -, AuAS 1998, 187 = InfAuslR 1998, 343 = NVwZ-Beil. I 1998, 82; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7.5.2001 - 11 S 389/01 -, AuAS 2001, 174 = EZAR 45 Nr. 17 = InfAuslR 2001, 384 = NVwZ-Beil. I 2001, 107 = VBlBW 2002, 32; VG Freiburg, Beschluss vom 12.10.1999 - 5 K 2120/99 -, VBlBW 2000, 123; GK-AuslR, Stand: Mai 2004, § 55 RdNr. 40; Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, Stand: Mai 2004, § 55 RdNr. 34). Diese Voraussetzungen haben die Antragsteller Nrn. 2 und 3 glaubhaft gemacht. Zusätzlich zu dem bereits genannten Attest von Dr.*, vom 8.12.2004 haben die Antragsteller auch jeweils eine fachärztliche Bescheinigung von Dres.*, vom 9.2.2005 vorgelegt, in denen die bei den Antragstellern Nrn. 2 und 3 aufgetretenen Erkrankungen infolge von Infekten und eines massiv geschwächten Immunsystems näher beschrieben sind. Die von den beiden Ärzten in den Bescheinigungen vom 9.2.2005 genannten Gefahren für den Fall der Ausreise der Antragsteller Nrn. 2 und 3 nach Togo sind nicht von der Hand zu weisen. In asyl- und abschiebungsschutzrechtlichen Verfahren von Asyl suchenden Ausländern aus Ländern, in denen Tropenkrankheiten verbreitet sind (etwa Malaria), wozu auch Togo gehört (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.4.2004 - A 9 S 929/03 -), hat sich das Problem des Verlustes der - im Heimatland erworbenen - so genannten Semi-Immunität bei mehrjähriger Abwesenheit vom Heimatland erst in jüngster Zeit als eine ernst zu nehmende Gefahr herausgestellt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 6.10.2004 - 11 S 1448/03 -; Hess.VGH, Beschluss vom 14.10.2003 - 3 UE 466/02.A). Die Antragsteller Nrn. 2 und 3 verfügen als im Bundesgebiet Geborene nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand über keinerlei (Teil-)Immunität im Hinblick auf Tropenkrankheiten. Ein in Togo geborenes Kind erwirbt innerhalb der ersten fünf bis sechs Lebensjahre Immunmechanismen, die einen schweren Verlauf einer Malariaerkrankung unwahrscheinlicher machen. Für andere Tropenerkrankungen gilt dies nicht oder nur sehr eingeschränkt, da hier Immunmechanismen, die in einem Endemiegebiet erworben werden müssen, weniger wichtig sind. Ist ein Kind togolesischer Eltern in Deutschland geboren, so kommt das Risiko, an einer Malaria oder an einer anderen Tropenkrankheit zu erkranken, demjenigen eines deutschen Kindes, das nach Togo reist, gleich. Eine so genannte Semi-Immunität muss erst in den ersten Jahren des Aufenthalts in Togo erworben werden (vgl. Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, Hamburg, vom 23.12.2003 an VG Greifswald). Die Antragsteller Nrn. 2 und 3 können aber nicht mit einem gesunden deutschen Kind verglichen werden. Ihr Immunsystem ist nach den vorliegenden ärztlichen Erkenntnissen stark geschwächt. Daher liegt bei ihnen eine Erkrankung vor, die sich aller Voraussicht nach im Falle ihrer Abschiebung verschlechtern oder zumindest verfestigen wird. Diesem Risiko dürfen die Antragsteller Nrn. 2 und 3 jedenfalls nicht ohne Schutzvorkehrungen - sofern diese überhaupt möglich sein sollten - ausgesetzt werden. Im Hauptsacheverfahren vor dem Regierungspräsidium Stuttgart wegen Erteilung von Duldungen wird daher dem gegenwärtigen Gesundheitszustand und der Frage, ob den genannten Risiken im Falle einer Abschiebung nach Togo ausreichend vorgebeugt werden kann, näher nachzugehen sein.