VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 02.05.2005 - 14 B 02.30703 - asyl.net: M7274
https://www.asyl.net/rsdb/M7274
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Apostasie, Christen, Konversion, religiös motivierte Verfolgung, Religionsfreiheit, Missionierung, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, menschenrechtswidrige Behandlung, Todesstrafe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1b; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AufenthG § 60 Abs. 3
Auszüge:

aa) Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hält - auch im Lichte der aktuellen Auskunftslage und in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG vom 20.1.2004 BVerwGE 120, 16/19 f.) - an seiner ständigen Rechtsprechung fest, wonach der Abfall vom islamischen Glauben im Iran kein Straftatbestand ist und in dem im Jahre 1996 in Kraft getretenen Fünften Buch des Islamischen Strafgesetzbuchs Irans nicht erwähnt wird. Demnach wird die Apostasie im Iran als religiöses bzw. gesellschaftliches Fehlverhalten angesehen, das zu entsprechender Isolierung und Benachteiligungen führen kann. Eine Gefährdung durch Dritte ist jedoch erst bei einer über den bloßen Besuch öffentlicher Gottesdienste hinausgehenden, öffentlichkeitswirksamen religiösen Betätigung oder bei missionierender Tätigkeit zu befürchten, wobei diese Formen der Religionsausübung - weil über den Kernbereich der Religionsausübung im Sinne des sog. religiösen Existenzminimums hinausgehend - grundsätzlich nicht geschützt sind, unabhängig davon, wie stark der Ausländer sich selbst hierzu innerlich verpflichtet fühlt. Ein Verzicht auf eine Glaubensbetätigung nach außen ist dem Ausländer auch im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zumutbar (vgl. BVerfG vom 1.7.1987 BVerfGE 76, 143/158 f.; BVerwG vom 20.1.2004 a.a.O.). Ein weitergehender Schutzanspruch des Einzelnen im Hinblick auf eine über den o.g. Kernbereich der Religionsausübung hinausgehende Glaubensbetätigung kann insbesondere auch nicht aus Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl der EU 2004 L Nr. 304, S. 12) abgeleitet werden. Zwar haben nach dieser Regelung die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der Begriff der Religion auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich und sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen umfasst. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sich Richtlinien gem. Art. 249 Abs. 3 EGV allein an die Mitgliedstaaten richten und dass der Einzelne erst nach ihrer Umsetzung durch nationales Recht aus den entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften berechtigt und verpflichtet wird. Nur in den Fällen, in denen ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat und in denen die Bestimmungen der Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, kann sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf die Bestimmungen der Richtlinie berufen. Das ist hier jedoch nicht der Fall, weil die Umsetzungsfrist der vorgenannten Richtlinie am 10. Oktober 2006 abläuft (Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass auch § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9

EMRK über die geschützte Religionsausübung im nicht-öffentlichen, privaten Bereich (Forum Internum) nicht hinausgeht (vgl. auch: BayVGH vom 31.5.2001 Az. 19 B 99.31964; vom 30.1.2002 Az. 19 B 97.35400; vom 8.1.2004 Az. 14 ZB 03.31371; so auch die obergerichtlichen Rechtsprechung: OVG NRW vom 5.9.2001 NVwZ 2002 Beilage Nr. I 1, 10 f.; SächsOVG vom 10.12.2002 Az. A 2 B 771/02 Juris-Dokument MWRE 104500300; OVG SH vom 29.3.2000 Az. 2 L 238/98; OVG Saarl vom 23.10.2002 Az. 9 R 3/00 Juris-Dokument MWRE 100670300; NdsOVG vom 30.1.2001 Az. 5 L 918/00; OVG Hamburg vom 22.2.2002 Az. 1 Bf 486/98.A, Juris-Dokument MWRE 109920200).

Insbesondere in Bezug auf die Gewährleistung des religiösen Existenzminimums für Apostaten ergibt sich aus den vom Senat eingeholten aktuellen Auskünften, die auf der der vorgenannten Rechtsprechung zugrunde liegenden Auskunftslage aufbauen, folgendes Bild: Apostaten ist zwar nach wie vor die Teilnahme an öffentlichen oder offiziellen Gottesdiensten nicht gestattet, jedoch wird seit mehr als vier Jahren nicht mehr über Personenkontrollen bzw. Hinderungen von Apostaten, an solchen Gottesdiensten teilzunehmen, berichtet (Auskunft des Auswärtigen Amts - AA - vom 16.12.2004 S. 1; Auskunft des Deutschen Orient-Instituts - DOI - vom 22.11.2004, S. 1). Zwar legt das Deutsche Orient-Institut in diesem Zusammenhang dar, dass - falls es doch "im Rahmen irgendeiner völlig unabsehbaren Kampagne" zu Kontrollen

kommen sollte - "Teilnehmer an solchen Gottesdiensten durchaus schon mit Konsequenzen zu rechnen haben", die mangels "Referenzfällen und Vergleichsmöglichkeiten" in seriöser Weise nicht im voraus eingeschätzt werden könnten (DOI, a.a.O., S. 3). Die vom Auswärtigen Amt geschilderten Vorfällen im Jahr 2004, auf die sich auch der Kläger beruft, d.h. die vorübergehende Festnahme eines Pastors und seiner Familie anlässlich eines häuslichen Treffens mit Gläubigen sowie von Angehörigen der Glaubensgemeinschaft "Assembly of God" im April 2004 und im Zusammenhang mit einem Pastorentreffen im Sommer 2004, belegen jedoch, dass sich mögliche Repressalien nur gegen Personen in leitender Funktion richten (AA, a.a.O., S. 2). Weiterhin gibt es im Iran neben den öffentlichen oder offiziellen Gottesdiensten ca. 100 christliche Hausgemeinschaften, an denen auch Apostaten teilhaben können (AA, a.a.O., S. 1). Solche privaten Zusammenkünfte, z.B. in Wohnungen oder Häusern sind möglich, wenn sie diskret organisiert werden und nach außen kein Misstrauen bzw. kein Aufsehen erregen (DOI, a.a.O., S. 4 f.), wobei - wie ausgeführt wurde - aus den vergangenen vier Jahren keine Berichte über staatliche Übergriffe gegenüber Apostaten wegen deren Zusammenkünften in privaten Räumen vorliegen (AA, a.a.O., S. 1). Schließlich ist im Iran auch die seelsorgerische Betreuung für Apostaten gewährleistet (AA, a.a.O., S. 2; DOI, a.a.O., S. 5 f.).