OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 09.09.2005 - 2 B 177/05 - asyl.net: M7404
https://www.asyl.net/rsdb/M7404
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Ashkali, Asylbewerberleistungsgesetz, Situation bei Rückkehr, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, UNMIK
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2
Auszüge:

Die Beschwerde hat Erfolg. Die Voraussetzungen nach § 86 b Abs. 2 SGG für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.

1. Ein Anordnungsgrund, d. h. die Erforderlichkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu bejahen. Der Regelung in § 2 Abs. 1 AsylbLG ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber grundsätzlich allen Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die erhöhten Leistungen des SGB XII nach 36 Monaten gewähren will (vgl. auch BT-Drucks. 15/420, S. 121). Diesem Willen des Gesetzgebers würde nicht hinreichend Geltung verschafft, wenn die Behörde die in § 2 AsylbLG vorgesehene Anhebung der Sozialleistungen nach 36 Monaten ablehnen könnte, ohne dass sich der Betroffene dagegen mit Hilfe einer gerichtlichen einstweiligen Anordnung zur Wehr setzen könnte. Zudem würde der Zugang zur einstweiligen Klärung der Anspruchsberechtigung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG prinzipiell versperrt, was schwerlich mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar wäre (vgl. OVG Münster, B. v. 16.10.2001 - 12 B 622/01 -). Der Anordnungsgrund kann deshalb nicht mit dem Hinweis darauf verneint werden, dass die Antragsteller Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhalten (vgl. OVG Münster, B. v. 16.10.2001, a.a.O.; OVG Lüneburg, B. v. 14.09.2000 - 4 M 3027/00 -; VG Braunschweig, B. v. 18.05.2004 - 3 B 59/04 -; VG Oldenburg, B. v. 23.11.2004 - 13 B 3972/04 -). Soweit der Senat im Beschluss vom 18.01.2005 (Az. 2 B 10/05) eine hiervon abweichende Auffassung vertreten hat, hält er daran nicht fest.

2. Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der ab 01.01.2005 geltenden Fassung (durch Gesetz vom 30.07.2004, BGBl. I S. 1950) ist das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Dass die Antragsteller insgesamt 36 Monate Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben, ist unstreitig.

Es kann nach summarischer Prüfung auch nicht festgestellt werden, dass die Antragsteller die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. In den Gesetzesmaterialien zu § 2 AsylbLG n. F. (vgl. BT-Drucks. 15/420, 121, abgedruckt in GK-AsylbLG III-§ 2) heißt es, die Anwendung des BSHG solle wie im derzeit geltenden Recht grundsätzlich für alle Fälle des § 1 nach 36 Monaten erfolgen. Ausgenommen wären "nur die Fälle, in denen der Ausländer rechtsmissbräuchlich die Dauer seines Aufenthalts (z. B. durch Vernichtung des Passes, Angabe einer falschen Identität) selbst beeinflusst hat". Dies entspreche auch "der Intention des Gesetzes, zwischen denjenigen Ausländern zu unterscheiden, die unverschuldet nicht ausreisen können und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkommen".

Hier sieht die Antragsgegnerin ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Antragsteller darin, dass sie nicht freiwillig ausgereist seien, obwohl ihnen dies zuzumuten gewesen sei und auch weiterhin zumutbar sei. Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG kann nur gesprochen werden, wenn es sich um ein von der Rechtsordnung missbilligtes subjektiv vorwerfbares Verhalten eines Ausländers handelt, das ursächlich für seinen tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet war oder ist (vgl. auch Hohm, Leistungsrechtliche Privilegierung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG F. 2005, NVwZ 2005, 388, 390). Ein subjektiv vorwerfbares Verhalten kann aber dann nicht angenommen werden, wenn der Ausländer für sein weiteres Verbleiben im Bundesgebiet vertretbare Gründe hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn einer Rückkehr in die Heimat berechtigte Bedenken entgegenstehen.

Die Situation der Minderheiten im Kosovo, zu denen die Ashkali gehören, ist schwierig zu beurteilen. In der Rechtsprechung der jüngeren Zeit ist wiederholt angenommen worden, für Ashkali bestehe keine zumutbare Ausreisemöglichkeit in den Kosovo (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 15.11.2004 - 7 S 1128/02 - = InfAuslR 2005, 74; SG Braunschweig, B. v. 25.01.2005 - S 20 AY 2/05 ER = InfAuslR 2005, 159; VG Oldenburg, B. v. 23.11.2004 - 13 B 3972/04 -; VG Braunschweig, B. v. 18.05.2004 - 3 B 59/04 -). Die Antragsteller hatten nach Aktenlage wegen der schwierigen Situation der Ashkali im Kosovo über einen längeren Zeitraum Duldungen erhalten. Nach dem jüngsten Erlass des Senators für Inneres und Sport vom 24. Mai 2005 über die Rückführung von Minderheiten in das Kosovo können zwar auch wieder Ashkali und Ägypter in das Kosovo zurückgeführt werden, jedoch gilt dies nur mit der Maßgabe, dass UNMIK über die beabsichtigte Rückführung vor dem geplanten Rückführungstermin zu informieren ist und innerhalb einer bestimmten Frist keine Bedenken gegen die Rückführung einer Person anmeldet. Im Regelfall genügt es, dass die beabsichtigte Rückführung UNMIK spätestens 14 Kalendertage vor dem geplanten Rückführungstermin angezeigt wird. Bei Ashkali und Ägyptern ist die Rückführung abweichend davon 40 Tage vor dem geplanten Rückkehrtermin anzukündigen. Dies zeigt, dass bei diesen Minderheiten eine (noch) gründlichere Prüfung der Rückkehrmöglichkeit für erforderlich gehalten wird. Jedenfalls vor Abschluss einer solchen Prüfung kann einem Ausländer nicht entgegengehalten werden, er handele rechtsmissbräuchlich i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG, wenn er nicht freiwillig ausreise. Da im Falle der Antragsteller diese Prüfung noch nicht abgeschlossen ist, liegt in ihrem Fall schon aus diesem Grunde kein rechtsmissbräuchliches Verhalten i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG vor.