OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.11.2005 - 19 B 2364/03 - asyl.net: M7556
https://www.asyl.net/rsdb/M7556
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), abgelehnte Asylbewerber, Duldung, räumliche Beschränkung, Umverteilung, örtliche Zuständigkeit, Erlöschen, vorübergehendes Verlassen, Zuweisung, Einvernehmen, Ausländerbehörde, Aufenthaltserlaubnis, Anspruch, Schutz von Ehe und Familie, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 61 Abs. 1 S. 1; VwVfG § 43 Abs. 2; AsylVfG § 50 Abs. 4; AsylVfG § 50 Abs. 5; OBG NRW § 4 Abs. 1
Auszüge:

I. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 AufenthG.

1. Seine Abschiebung ist gegenwärtig und vorbehaltlich einer Änderung der maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse auch in Zukunft aus Rechtsgründen unmöglich. Der Abschiebung des Antragstellers steht dessen Grundrecht auf Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG entgegen, weil er im Bezirk der Antragsgegnerin eine familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner Tochter und deren Mutter führt, die beide togoische Staatsangehörige sind und nicht darauf verwiesen werden können, die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem ebenfalls togoischen Antragsteller in Togo zu führen.

Frau U. ist nicht zuzumuten, nach Togo zurückzukehren. Sie ist Inhaberin eines internationalen Reiseausweises für Flüchtlinge und im Besitz einer bis zum 17. Februar 2007 befristeten Aufenthaltserlaubnis für Konventionsflüchtlinge nach § 25 Abs. 2 AufenthG ("kleines Asyl").

2. Im Fall des Antragstellers ist auch die weitere Voraussetzung des § 60 a Abs. 2 AufenthG erfüllt, dass ihm "keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird."

Der Erteilung eines Aufenthaltstitels an den Antragsteller steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen, weil er nach dem negativen Abschluss seines zweiten Asylverfahrens am 15. Juli 1998 nach Togo abgeschoben worden ist.

Unerheblich ist, ob der Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG beanspruchen kann, die abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG erteilt werden kann. Der Duldungsanspruch nach § 60 a Abs. 2 AufenthG entfällt nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht schon dann, wenn der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat, sondern nur dann, wenn ihm eine Aufenthaltserlaubnis erteilt "wird", d. h. wenn die Ausländerbehörde aktuell anstelle einer Duldung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Eine solche Bereitschaft kann der Senat hier umso weniger feststellen, als die Antragsgegnerin ihre örtliche Zuständigkeit sogar zur Erteilung einer Duldung an den Antragsteller verneint. Da die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtstreits ist, hat der Senat auch keine Möglichkeit, gegenüber der Antragsgegnerin verbindlich über diesen Anspruch zu entscheiden. Der Senat weist daher lediglich darauf hin, dass der Antragsteller die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Sätze 1 bis 3 AufenthG erfüllt, und der Senat nach gegenwärtigem Erkenntnisstand keine Gründe erkennen kann, die ein Abweichen von der Sollvorschrift des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG rechtfertigen.

II. Die Erteilung einer Duldung durch eine Ausländerbehörde in Nordrhein-Westfalen verstößt nicht deshalb gegen Bundesrecht, weil der Antragsteller damit einen länderübergreifenden Wohnsitzwechsel erstrebt. Dadurch ist weder § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (1.) noch eine fortgeltende asylverfahrensrechtliche Zuweisungsentscheidung betreffend den Antragsteller an den Landkreis H. verletzt (2.).

1. Es verstößt nicht gegen § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wenn die Antragsgegnerin dem Antragsteller eine Duldung für einen Aufenthalt erteilt, der nach dieser Vorschrift räumlich auf das Gebiet Landes Nordrhein-Westfalen beschränkt ist.

Selbst wenn die räumliche Beschränkung des Aufenthalts des Antragstellers auf das Gebiet des Landes Rheinland-Pfalz gleichwohl bis heute in Kraft geblieben sein sollte, steht diese der Erteilung einer Duldung in Nordrhein-Westfalen nicht entgegen. Denn mit der Erteilung einer Duldung, die einen länderübergreifenden Wohnsitzwechsel ermöglicht, erlöschen eine etwa noch in Kraft gebliebene Duldung aus dem anderen Bundesland und deren räumliche Beschränkung auf dieses Bundesland. Eine solche Duldung erledigt sich mit der Erteilung der neuen Duldung "auf andere Weise" im Sinne des § 43 Abs. 2 VwVfG. Zugleich tritt die gesetzliche räumliche Beschränkung auf das Gebiet des Bundeslandes, in dem die neue Duldung erteilt wird, an die Stelle der bisherigen räumlichen Beschränkung. Das ergibt sich aus § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der es verbietet, den Aufenthalt eines geduldeten Ausländers räumlich auf das Gebiet mehr als eines Bundeslandes hinaus auszudehnen (Nds. OVG, Urteil vom 16. November 2004 - 9 LB 156/04 -, InfAuslR 2005, 57, und Beschluss vom 23. März 2000 - 10 M 4629/99 -, NdsRpfl 2000, 241, Juris, Rdn. 6; Bay. VGH, Beschluss vom 16. Februar 2000 - 10 CS 99.3290 -, InfAuslR 2000, 223).

Soweit die Erteilung einer zweiten Duldung neben einer noch gültigen Duldung als zulässig angesehen wird (Nds. OVG, Beschluss vom 17. Oktober 2002 - 8 ME 142/02 -, NVwZ-Beilage 2003, 22; VG Braunschweig, Beschluss vom 18. November 2002 - 6 B 548/02 -, InfAuslR 2003, 107; Hamb. OVG, Beschluss vom 15. September 2004 - 3 Bs 257/04 -, Juris; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 61 Rdn. 16), versteht der Senat dies im vorstehend beschriebenen Sinn. Anderenfalls läge in der hinzutretenden zweiten Duldung eine gesetzwidrige Ausdehnung der räumlichen Beschränkung des Aufenthalts auf ein weiteres Bundesland. Ebenfalls im vorstehend beschriebenen Sinn zu verstehen ist die Äußerung des beschließenden Gerichts, dass aus asylverfahrensunabhängigen Gründen geduldete Ausländer einen länderübergreifenden Wohnsitzwechsel durch eine Änderung der räumlichen Beschränkung ihrer Duldungen erreichen können (OVG NRW, Urteil vom 1. Dezember 1999 - 17 A 3994/98 -, NVwZ-Beilage 2000, 82 = Juris, Rdn. 19; ebenso VG Düsseldorf, Urteil vom 3. November 1999 - 7 K 1413/99 -, AuAS 2000, 77 (78)).

Auch für die Erteilung einer Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des gesetzlich beschränkten Aufenthaltsbereichs nach § 12 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AufenthG ist in Fällen der vorliegenden Art kein Raum, in denen es um die auf Dauer angelegte Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft geht (Anders wohl Funke-Kaiser, a.a.O., § 61 Rdn. 18).

Die Vorschrift ist § 58 AsylVfG nachgebildet und ermöglicht wie diese nur kurzfristig andauernde Abwesenheiten. Für § 58 Abs. 1 AsylVfG hat der Senat bereits entschieden, dass eine entsprechende Anwendung auf Fälle länderübergreifenden Wohnsitzwechsels geduldeter Ausländer nicht in Betracht kommt (OVG NRW, Beschluss vom 27. Mai 2004 - 19 B 1577/02 -; ebenso Nds. OVG, Beschluss vom 17. Oktober 2002 - 8 ME 142/02 -, a.a.O.).

2. Entgegen der Auffassung des VG verstößt die Erteilung einer Duldung durch eine Ausländerbehörde in Nordrhein-Westfalen auch nicht gegen die Zuweisungsentscheidung nach § 50 Abs. 4 und 5 AsylVfG, durch die der Antragsteller, soweit nach Aktenlage feststellbar, schon während seines ersten, Anfang 1998 abgeschlossenen Asylverfahrens dem Landkreis H. in Rheinland-Pfalz zugewiesen worden war. Nach der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung bleibt die Zuweisungsentscheidung auch nach rechts- oder bestandskräftiger Beendigung des Asylverfahrens so lange wirksam, bis der Ausländer ausgereist ist oder die Ausländerbehörde ihm einen Aufenthalt aus asylverfahrensunabhängigen Gründen ermöglicht. Ein solcher Anschlussaufenthalt, der mit dem Betreiben des Asylverfahrens in keinem Zusammenhang mehr steht, kann auch durch eine Duldung bewirkt werden. Durch deren Erteilung wird die Zuweisungsentscheidung gegenstandslos (BVerwG, Urteil vom 31. März 1992 - 9 C 155.90 -, Buchholz 402.25 § 22 AsylVfG Nr. 4, Juris, Rdn. 19; OVG NRW, Urteil vom 1. Dezember 1999 - 17 A 3994/98 -, a.a.O., Rdn. 7, und Beschluss vom 19. Mai 1999 - 17 B 2737/98 -, InfAuslR 1999, 412, Juris, Rdn. 21; vgl. auch OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 16. Januar 2004 - 10 B 11661/03 -, AuAS 2004, 130, Juris, Rdn. 4; Sächs. OVG, Beschluss vom 19. Mai 2004 - 3 Bs 380/03 -, InfAuslR 2004, 341).

III. Der Duldungsanspruch des Antragstellers richtet sich gegen die Antragsgegnerin.

1. Der Senat lässt offen, ob sich die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Erteilung einer Duldung an den Antragsteller schon unmittelbar aus dem Bundesrecht, nämlich aus den §§ 59 Abs. 3 Nr. 3, 71 Abs. 7 Satz 2 AsylVfG ergibt.

Auch unabhängig von einer unmittelbar aus dem Bundesrecht begründeten örtlichen Zuständigkeit der Antragsgegnerin ist diese jedenfalls nach nordrhein-westfälischem Landesrecht für die Erteilung einer Duldung an den Antragsteller örtlich zuständig. Es entspricht inzwischen ständiger Rechtsprechung des beschließenden Gerichts, dass sich die örtliche Zuständigkeit der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen nach § 4 Abs. 1 OBG NRW richtet, der als Spezialvorschrift des Rechtes der Gefahrenabwehr dem § 3 VwVfG NRW als allgemeiner Vorschrift vorgeht (OVG NRW, Beschlüsse vom 10. Februar 2005 - 18 B 42/05 -, 28. Juli 2004 - 19 B 2409/03 -, 27. Mai 2004 - 19 B 1577/02 - und 10. Juli 1997 - 18 B 1853/96 -, NVwZ-RR 1998, 201; zu § 3 VwVfG Hamb. OVG, Beschluss vom 26. November 2003 - 1 Bs 566/03 -, InfAuslR 2004, 108).

Die zu schützenden Interessen werden im Sinne des § 4 Abs. 1 OBG NRW im Bezirk der Antragsgegnerin verletzt, weil sich dort der Antragsteller, seine Tochter T. und deren Mutter Frau U. aufhalten. Auf die Frage, ob es der Familie zumutbar ist, die Familieneinheit im Landkreis H. herzustellen, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.

2. Der örtlichen Zuständigkeit der Antragsgegnerin steht nicht entgegen, dass in Bezug auf den Antragsteller möglicherweise auch in Rheinland-Pfalz nach den dort einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften eine örtliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde des Landkreises H. begründet ist. Eine solche Mehrfachzuständigkeit ist weder nach nordrhein-westfälischem Recht noch bundesrechtlich ausgeschlossen, wie § 72 Abs. 3 Satz 1 AufenthG belegt. Die unter Geltung des AuslG entwickelte gegenteilige Auffassung, für die ausländerrechtlichen Angelegenheiten eines Ausländers könne immer nur eine Ausländerbehörde zuständig sein (Hamb. OVG, Beschluss vom 15. September 2004 - 3 Bs 257/04 -, Juris), ist seit dem In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes überholt. Sie stützte sich auf die ersatzlos außer Kraft getretene Bestimmung in § 63 Abs. 2 Nr. 2 AuslG, der das Bundesministerium des Innern ermächtigte, in Fällen länderübergreifender positiver oder negativer Kompetenzkonflikte die zuständige Ausländerbehörde durch Verwaltungsvorschrift zu bestimmen. Der Gesetzgeber hat § 63 Abs. 2 AuslG ohne Begründung nicht in § 71 AufenthG übernommen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BT-Drs. 15/420, S. 94).

Sollte nach den in Rheinland-Pfalz einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften eine örtliche Zuständigkeit für die Erteilung einer Duldung auch der Ausländerbehörde des Landkreises H. begründet sein, so handelt es sich dabei jedenfalls nicht um eine ausschließliche oder vorrangige örtliche Zuständigkeit.

3. Art. 6 Abs. 1 und 2 GG verbietet es der Antragsgegnerin, den Antragsteller auf einen ihm nach materiellem Ausländerrecht möglicherweise gegen den Landkreis H. zustehenden Duldungsanspruch zu verweisen. Mit diesem Argument verfolgt die Antragsgegnerin der Sache nach das Ansinnen an den Antragsteller, die familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner Tochter T. und Frau U. im Bezirk H. zu führen. Beantragt ein Ausländer, dessen Aufenthalt infolge einer gültigen oder abgelaufenen Duldung auf das Gebiet eines Bundeslandes beschränkt ist, bei der Ausländerbehörde eines anderen Bundeslandes die Erteilung einer Duldung oder die Änderung der räumlichen Beschränkung zur Herstellung oder Erhaltung der Familieneinheit, so darf die Ausländerbehörde des "Ziel"-Bundeslandes ihn nur dann auf die Herstellung der Familieneinheit im "Herkunfts"-Bundesland verweisen, wenn die dortige Ausländerbehörde verbindlich ihre Bereitschaft zur Aufnahme der gesamten Familie erklärt hat oder eine dahin gehende Verpflichtung verbindlich, etwa durch ein Verwaltungsgericht, festgestellt worden ist. Es genügt entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht, dass eine solche Entscheidung der Ausländerbehörde im anderen Bundesland nur zweckmäßig, d. h. ermessensgerecht möglich sein mag. Reichte dieser Umstand als Ablehnungsgrund aus, könnten die Ausländerbehörden eines jeden der beiden beteiligten Bundesländer die getrenntlebenden Teile einer Familie wechselseitig auf die bloße Möglichkeit einer positiven Ermessensentscheidung der jeweils anderen Ausländerbehörde verweisen und dadurch den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 6 GG unterlaufen (OVG NRW, Beschluss vom 27. Mai 2004 - 19 B 1577/02 -, Beschlussabdruck, S. 6).

IV. Dem Duldungsanspruch des Antragstellers gegen die Antragsgegnerin steht ein fehlendes Einvernehmen des Landkreises H. nach § 72 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (bis zum 31. Dezember 2004: § 64 Abs. 2 Satz 1 AuslG) nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift dürfen u. a. räumliche Beschränkungen gegen einen Ausländer, der nicht im Besitz eines erforderlichen Aufenthaltstitels ist, von einer anderen Ausländerbehörde nur im Einvernehmen mit der Ausländerbehörde geändert oder aufgehoben werden, die die Maßnahme angeordnet hat. Die Bestimmung findet keine Anwendung, wenn die räumliche Beschränkung des Aufenthalts des Ausländers nicht auf einer ausländerbehördlichen Einzelfallentscheidung (etwa nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), sondern auf einer gesetzlichen Regelung wie etwa derjenigen des § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG oder, wie § 72 Abs. 3 Satz 2 AufenthG klarstellt, derjenigen des AsylVfG beruht. Das ergibt sich aus dem Wortlaut ("Ausländerbehörde ..., die die Maßnahme angeordnet hat.") und aus dem Zweck der Vorschrift, die widersprüchliches Verwaltungshandeln vermeiden soll (Nr. 72.3.1.2 VorlAnwHinw).