VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 21.12.2005 - 8 G 2120/05(2) - asyl.net: M7634
https://www.asyl.net/rsdb/M7634
Leitsatz:
Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Integration, Privatleben, Serbien und Montenegro, Kosovo, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; EMRK Art. 8
Auszüge:

Der Antrag ist begründet.

Das private Interesse der Antragsteller, sich bis zum Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, überwiegt gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse. Die Bescheide des Antragsgegners vom 28.09.2005 erweisen sich als voraussichtlich rechtswidrig.

Die Antragsteller dürften gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen haben. Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Verweis des § 25 Abs. 3 AufenthG auf die Abschiebungsverbote des § 60 AufenthG auch die Bestimmung des Artikel 8 EMRK umfasst. Auch wenn es sich bei dem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Artikel 8 EMRK um ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot handelt, sieht das Gericht aufgrund der vorläufigen rechtlichen Bewertung im Eilverfahren keinen Anlass, den Verweis in § 25 Abs. 3 AufenthG dahingehend zu beschränken, dass er nur zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote erfasst. Auch wenn der Gesetzgeber die zum Ausländergesetz 1990 entwickelte Abgrenzung von zielstaatsbezogenen und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen beibehalten wollte, erscheint es nicht nachvollziehbar, warum er gerade den Familienschutz nicht von der Privilegierung des Artikel 25 Abs. 3 AufenthG umfasst sehen wollte.

Die Antragsteller können sich im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die - ebenso wie die EMRK - von den nationalen Behörden und Gerichten zu berücksichtigen ist, auf ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen.

Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist eröffnet. Zwar gewährt Art. 8 EMRK kein Recht, den am besten geeigneten Ort zu wählen, um ein Familienleben aufzubauen (vgl. EGMR, Urt. v. 07.10.2004 - 33743/03 -, Dragan, NVwZ 2005, 1043 [1045]). Nach diesem Menschenrecht hat jedoch jedermann Anspruch insbesondere auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Die als Kleinkinder nach Deutschland gekommenen und hier vollständig integrierten Antragsteller zu 3 und 4 können sich hierauf ("Achtung des Privatlebens") berufen. Da sie derzeit auf ihre Eltern angewiesen sind, greift Art. 8 Abs. 1 EMRK auch für die Antragsteller zu 1 und 2 ("Achtung des Familienlebens").

Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist für die Antragsteller zu 3 und 4 eröffnet, weil sie zu sog. "faktischen Inländern" geworden sind. Die bloße Tatsache, dass ein Ausländer sich über längere Zeit in Deutschland aufhält, macht ihn allerdings noch nicht zu einem faktischen Inländer (vgl. EGMR, Urt. v. 16.09.2004 - 11103/03 -, Ghiban, NVwZ 2005, 1046; Urt. v. 07.10.2004 - 33743/03 -, Dragan, NVwZ 2005, 1043 [1045]). Diese Annahme setzt zumindest einen mehrjährigen Aufenthalt voraus, dessen Mindestdauer nicht abstrakt definiert werden kann, aber wohl zumindest fünf Jahre (vgl. etwa § 9 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) und wohl maximal acht Jahre (vgl. etwa § 10 Abs. 1 StAG) betragen sollte. Zur Einstufung als faktischer Inländer wird man außerdem regelmäßig verlangen dürfen, dass der Ausländer gute deutsche Sprachkenntnisse besitzt und dass eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse erfolgt ist. Wichtiges Indiz für eine gelungene Integration dürfte der Umstand sein, dass der Ausländer einen Arbeitsplatz besitzt oder, soweit es sich um Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene handelt, sich in einer Ausbildung befindet, die zumindest die Chance auf einen späteren Arbeitsplatz eröffnet. Eine Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben in Deutschland (politisches, kulturelles, religiöses/kirchliches Engagement, Aktivitäten in Vereinen und Verbänden) ist positiv zu berücksichtigen, aber nicht unerlässlich. Weitere Indizien, die auf eine gelungene Integration hindeuten, sind ein fester Wohnsitz, ausreichende Mittel, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichendem Krankenversicherungsschutz ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können und der Umstand, dass sich der Ausländer während seines gesamten Aufenthalts in Deutschland keine wesentlichen Straftaten hat zuschulden kommen lassen.

Ob ein Ausländer im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK als faktischer Inländer zu betrachten ist, hängt - wie auch Art. 17 RL 2003/86/EG verdeutlicht - weiter davon ab, über welche Beziehungen er zu dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, noch verfügt, d.h. ob er insoweit gewissermaßen dergestalt "entwurzelt" ist, dass eine Reintegration nicht zumutbar erscheint. Diesbezüglich hat die Kenntnis der dortigen Sprache und die Vertrautheit mit den Verhältnissen in diesem Land sowie die Existenz dort noch lebender und aufnahmebereiter Verwandter mit entscheidungserhebliche Relevanz (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 02.11.2005 - 1 S 3023/04 -, S. 6, m.w.N.). Dabei kommt auch dem Alter des Ausländers Bedeutung zu. Handelt es sich um ein Kleinkind, so wird man regelmäßig davon ausgehen können, dass es sich in dem Heimatland integrieren kann, sofern es mit seinen Eltern dorthin zurückkehrt.

Im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Ausweisungs- und Abschiebungspraxis der Vertragsstaaten dürfte es für den Schutzbereich des Anspruches auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK nicht ausschlaggebend sein, ob der Aufenthalt des Ausländers - im Sinne einer Art "Handreichung des Staates" - zumindest vorübergehend rechtmäßig war (vgl. EGMR, Urt. v. 16.09.2004 - 11103/03 -, Ghiban, NVwZ 2005, 1046; Urt. v. 07.10.2004 - 33743/03 -, Dragan, NVwZ 2005, 1043 [1045]; vgl. auch Urt. v. 16.06.2005 - 60654/00 -, Sisojewa, InfAuslR 2005, 349; offen gelassen: VGH Bad.-Württ, Beschl. v. 02.11.2005 - 1 S 3023/04 -, S. 6, m.w.N.) bzw. inwieweit die hiesigen Behörden durch ihr Verhalten dazu beigetragen haben, dass der Aufenthalt des Betreffenden bislang nicht beendet wurde. Der EGMR hat diese Frage zwar noch nicht abschließend entschieden, jedoch in Fallkonstellationen das Recht auf Privatleben erörtert, in denen ein legaler Aufenthalts der Beschwerdeführer nicht vorlag. Hat er in der Rechtssache Ghiban (aaO.) zu einem rumänischen Staatsangehörigen, der wegen Staatenlosigkeit nicht abgeschoben werden konnte, die Frage letztlich noch offengelassen ("Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Aufenthalt des Bf. unter diesen Umständen eine ausreichende Grundlage für die Annahme eines Privatlebens war..."), so nahm er in der Rechtssache Sisojeva (aaO.) einen Eingriff in das Privatleben an, obwohl die Beschwerdeführer in Lettland keinen rechtmäßigen Aufenthalt hatten.

Jedenfalls muss die Frage der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Rahmen der Schrankenprüfung Berücksichtigung finden. Denn gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Rechte aus Absatz 1 der Norm statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Ein Eingriff in diese Rechte auf der Grundlage insbesondere des Aufenthaltsgesetzes kann in diesem Sinne notwendig und verhältnismäßig sein, wenn der Betreffende Bemühungen der Behörde, ihn in sein Heimatland abzuschieben, etwa durch hartnäckige Weigerung, an der Beschaffung der für eine Abschiebung erforderlichen Identitätspapiere mitzuwirken, unterlaufen hat (vgl. EGMR, Urt. v. 16.09.2004 - 11103/03 -, Ghiban, NVwZ 2005, 1046; Urt. v. 07.10.2004 - 33743/03 -, Dragan, NVwZ 2005, 1043 [1045] zu staatenlosen Rumänen).

Anders können die Dinge etwa in Fällen liegen, in denen die Abschiebung des Ausländers während eines längeren Zeitraums gemäß § 54 AuslG bzw. § 60 a AufenthG oder einem anderen nicht unter diese Vorschrift fallenden ausländerrechtlichen Erlass ausgesetzt gewesen ist, oder die Behörde aus anderen Gründen davon abgesehen hat, den Ausländer in sein Heimatland abzuschieben, obwohl sie dazu rechtlich und tatsächlich in der Lage gewesen wäre.

Die Antragsteller zu 1 und 2 erfüllen die Integrationsvoraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 EMRK ("Achtung des Privatlebens") nicht, weil ihnen eine Reintegration in ihr Heimatland noch möglich ist und grundsätzlich zumutbar erscheint. Vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet lebten sie rund 25 Jahre in der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien. Da die Antragsteller zu 3-4 jedoch auf den Aufenthalt ihrer Eltern in Deutschland angewiesen sind, können sich die Antragsteller zu 1 und 2 auf den ebenfalls durch Art. 8 Abs. 1 EMRK eröffneten Schutz des "Familienlebens" berufen.