VG Meiningen

Merkliste
Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 21.11.2005 - 2 K 20577/00.Me - asyl.net: M7742
https://www.asyl.net/rsdb/M7742
Leitsatz:
Schlagwörter: Aserbaidschan, Türkei, Staatenlose, Ausbürgerung, Staatsangehörigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt, Abschiebungshindernis, Krankheit, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Suizidgefahr
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

1. Die Voraussetzungen des Art 16 a GG sowie des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen weder hinsichtlich Aserbaidschan noch hinsichtlich der Türkei vor; die Klägerin ist vielmehr staatenlos.

Die Klägerin ist keine türkische Staatsangehörige. Sie hat lediglich von 1990 bis 2000 illegal in der Türkei gelebt.

Sie ist aber auch keine aserbaidschanische Staatsangehörige. Die Klägerin dürfte schon nicht die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nach dem am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Gesetz über die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit vom 26. Juni 1990 erworben haben. Zu diesem Zeitpunkt lebte die Klägerin nach ihren Angaben bereits in der Türkei. Nach Art. 4, 1. Alternative dieses Gesetzes sind Staatsangehörige der aserbaidschanischen SSR Personen, die sich im Besitz der Staatsangehörigkeit der aserbaidschanischen SSR am Tage des Inkrafttretens der vorliegenden Gesetze befanden. Ohne Wohnsitz in Aserbaidschan konnte die Staatsangehörigkeit jedoch nicht erworben werden (Institut für Ostrecht, Gutachten vom 22.11.2000 an VG Berlin). Die Klägerin hat die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit auch dann nicht erworben, wenn sie dort möglicherweise gemeldet bzw. amtlich registriert war. Denn eine formale Registrierung allein reichte nicht für den Staatsangehörigkeitserwerb nach Art. 4, 1. Alternative des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1990 aus (Institut für Ostrecht, Gutachten vom 22.11.2000 an VG Berlin; VG Schleswig Holstein, U. v. 14.04.2004 - Az.: 4 A 54/01; VG Braunschweig, U. v. 04.12.2002 - Az.: 8 A 546/01, juris). Selbst wenn die Klägerin die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit erworben hätte, hätte sie die Staatsangehörigkeit jedenfalls durch die Neuregelung des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsrechtes in Art. 5 1. Alt. aserStAngG 1998 verloren, weil sie am Tage des In-Kraft-Tretens des Gesetzes, dem 30.9.1998, (vgl. AA, Auskunft v. 27. 9. 2000 an das VG Berlin) keinen tatsächlichen Aufenthaltsort in Aserbaidschan hatte, an dem sie behördlich angemeldet war. Die Neuregelung stellt nämlich nach ihrer ratio legis klar, dass als Grundlage für eine Anerkennung der Staatsangehörigkeit ein amtlich gemeldeter Wohnsitz ohne faktischen Aufenthalt in Aserbaidschan nicht ausreicht (vgl. IOR, Rechtsgutachten v. 22. 11. 2000 für das VG Berlin, Seite 3; VG Braunschweig, Urt. v. 04.12.2002, 8 A 546/01, Juris). Die Klägerin lebte nach 1990 in der Türkei, auch ist schon zweifelhaft, ob die Klägerin überhaupt einen amtlich gemeldeten Wohnsitz in Aserbaidschan hatte.

Bei Personen, die staatenlos sind - wie hier -, kommt es auf die Verhältnisse im Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts an (§ 3 AsylVfG).

Da die Klägerin bereits im Jahre 1990 aus Aserbaidschan ausgereist ist und sich in der Türkei aufgehalten hat, kommt Aserbaidschan offensichtlich nicht als Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Betracht, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt eine Prüfung der Voraussetzungen des Art 16 a GG und des § 60 Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf Aserbaidschan entfällt.

2. Es besteht jedoch - es erscheint nicht unmöglich, dass die Klägerin nach Aserbaidschan wird wieder einreisen können - ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Aserbaidschan nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

Aus der Stellungnahme des St. Georg Klinikums Eisenach vom 20.04.2004 geht hervor, dass die Klägerin an einer depressiven Psychose mit vorausgegangener posttraumatischer Belastungsstörung leidet. Diese Einschätzung hat das St. Georg Klinikum Eisenach mit Schreiben an das erkennende Gericht vom 05.07.2004 dahingehend präzisiert, dass die Symptomatik der Klägerin die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) erfülle, die nunmehr unter einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung verschlüsselt werde (ICD-10 F 62.0).

Soweit die Beklagte auf eine Behandlungsmöglichkeit in Aserbaidschan verweist, steht dem entgegen - worauf in der Stellungnahme des St. Georg Klinikums Eisenach vom 20.04.2004 nachvollziehbar hingewiesen wurde -, dass eine Rückkehr der Klägerin in ihr Heimatland eine Retraumatisierung bedeuten und erneute depressive Episoden mit Suizidgefährdung auslösen würde. Hinsichtlich des Hinweises der Beklagten auf eine Rückkehrmöglichkeit der Klägerin nach Nagorny-Karabach ist zu bedenken, dass die Klägerin nicht armenische Volkszugehörige ist.