VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 15.02.2006 - 7 TG 106/06 - asyl.net: M7897
https://www.asyl.net/rsdb/M7897
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Ausreisehindernis, Aufenthaltsdauer, Integration, Situation bei Rückkehr, Serbien und Montenegro, Kosovo, Ashkali, Zuständigkeit, Bundesamt, Ausländerbehörde, EGMR, Privatleben, Duldung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60a Abs. 2; EMRK Art. 8
Auszüge:

a. Ein Anspruch der Antragsteller auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Ab. 3 i. V. m. § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK scheidet - wie der Antragsgegner zu Recht beanstandet - aus.

Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll eine Aufenthaltserlaubnis u. a. erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen. § 60 Abs. 5 AufenthG sieht vor, dass ein Ausländer nicht abgeschoben werden darf, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

Seinem Wortlaut nach verweist § 60 Abs. 5 AufenthG uneingeschränkt auf die EMRK. In systematischer Hinsicht ist indes zu berücksichtigen, dass die von § 60 AufenthG erfassten Abschiebungsverbote zielstaatsbezogen sind, was auch der auf sie zugeschnittene § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG belegt. Wie die wortgleiche Vorgängernorm des § 53 Abs. 4 AuslG verweist § 60 Abs. 5 AufenthG mithin auf die EMRK nur insoweit, als sich aus ihr zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote ergeben. Inlandsbezogene Tatbestände - zu denen namentlich die Frage zählt, ob der Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK den Verbleib des Ausländers in Deutschland gebietet - fallen demgemäß nicht in seinen Anwendungsbereich, sondern in den des § 60a AufenthG. Die Zuordnung inlandsbezogener Tatbestände zu § 60a AufenthG, zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote zu § 60 AufenthG ist zudem auch insofern sachgerecht, als sie der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Ausländerbehörden und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Asylverfahren entspricht. Da ferner weder höherrangiges Recht noch Art. 8 EMRK dem deutschen Gesetzgeber vorgeben, wie er diese Gewährleistung der EMRK im nationalen Ausländerrecht verwirklicht, hat es beim Ausschluss dieses inlandsbezogenen Tatbestandes aus dem Geltungsbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG sein Bewenden (vgl. zu Vorstehendem: BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322 [zu § 53 Abs. 4 AuslG]; Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 60 AufenthG Rdnr. 47; Benassi, InfAuslR 2005, 357, 360 f.). Hieraus folgt zugleich, dass die von Art. 8 EMRK erfassten Fälle nicht zu einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 3 AufenthG, sondern lediglich zu einer solchen nach § 25 Abs. 5 AufenthG führen können.

b. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG an die Antragsteller kommt indes nach dem Erkenntnisstand des Senats im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung gleichfalls nicht in Betracht. Insbesondere ist es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Ausreise der Antragstellerinnen zu 3. und 4. im Hinblick auf ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK aus rechtlichen Gründen unmöglich ist.

§ 25 Abs. 5 AufenthG enthält besondere Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Nach Satz 1 dieser Vorschrift kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

Eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne dieser Vorschrift kann sich u. a. aus Art. 8 EMRK ergeben.

Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jeder Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art. 8 Abs. 2 EMRK regelt, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte undFreiheiten anderer notwendig ist.

Die EMRK und damit auch die Garantien des Art. 8 Abs. 1 EMRK beinhalten nicht das Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten und nicht ausgewiesen zu werden (st. Rspr. des EGMR, vgl. etwa Entscheidungen vom 16. September 2004 - 11103/03 - [Ghiban/Deutschland], NVwZ 2005, 1046, sowie vom 16. Juni 2005 - 60654/00 - [Sisojeva/Lettland, InfAuslR 2005, 349). Über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden, ist nach allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen vielmehr das Recht der Vertragsstaaten (st. Rspr. des EGMR, vgl. nur EGMR, Entscheidungen vom 16. September 2004, a. a. O., sowie vom 7. Oktober 2004 - 33743/03 - [Dragan u. a./Deutschland], NVwZ 2005, 1043).

Aufenthaltsrechtliche Entscheidungen eines Vertragsstaats greifen demgemäß nicht regelmäßig, sondern nur (ausnahmsweise) bei Hinzutreten bestimmter Umstände in das Recht auf Achtung des Familien- und des Privatlebens ein (st. Rspr. des EGMR, vgl. etwa Entscheidung vom 7. Oktober 2004, a. a. O.). Dies folgt daraus, dass aufenthaltsrechtliche Entscheidungen eines Vertragsstaats keine zielgerichtete und unmittelbare Regelung des Familien- oder Privatlebens darstellen, sondern diese Schutzgüter des Art. 8 Abs. 1 EMRK lediglich mittelbar und faktisch berühren. Eingriffsqualität erreichen aufenthaltsrechtliche Entscheidungen im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK - vergleichbar der im nationalen deutschen Recht bestehenden Situation bei nicht zielgerichteten, mittelbaren Beeinträchtigungen von Grundrechten - nur, wenn der durch sie bewirkten Einwirkung auf Familien- oder Privatleben eine bestimmte Intensität zukommt. Vor dem Hintergrund der durch die EMRK nicht berührten Kompetenz der Vertragsstaaten, das Aufenthaltsrecht für fremde Staatsangehörige zu regeln, lässt sich ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familien- oder des Privatlebens daher nicht schon mit dem Argument bejahen, ein Ausländer halte sich bereits seit geraumer Zeit im Vertragsstaat auf und wolle dort sein Leben führen (st. Rspr. des EGMR, vgl. etwa Entscheidung vom 7. Oktober 2004, a. a. O., die eine Familie betraf, die seit 14 Jahren ihren Aufenthalt in Deutschland hatte).

Für das - im Fall der Antragstellerinnen zu 3. und 4. allein in Rede stehende - Recht auf Achtung des Privatlebens folgt aus diesen Grundsätzen, dass die mit einem längeren Aufenthalt regelmäßig einhergehende Gewöhnung an die Verhältnisse im Aufenthaltsstaat für sich genommen nicht dazu führt, eine einen weiteren Verbleib verneinende Entscheidung als Eingriff zu werten, der der Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bedarf. Eingriffsqualität kommt einer derartigen aufenthaltsrechtlichen Entscheidung vielmehr grundsätzlich nur zu, wenn der Ausländer ein Privatleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, faktisch nurmehr im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann.

Ob eine solche Fallkonstellation für einen Ausländer in Deutschland vorliegt, hängt zum einen von der Integration des Ausländers in Deutschland ab, zum anderen von seiner Möglichkeit zur Integration bzw. Reintegration in seinem Heimatland. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei - wie das Verwaltungsgericht im angegriffenen Beschluss zutreffend ausgeführt hat - eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes, in einem festen Wohnsitz, ausreichenden Mitteln, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlender Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang ist auch die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts zu würdigen: Denn ein unerlaubter Aufenthalt und die damit verbundene Unsicherheit des Aufenthaltsstatus stehen zumindest in der Regel der Führung eines schutzwürdigen Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegen (so tendenziell auch EGMR, Entscheidungen vom 16. September 2004 und vom 7. Oktober 2004, a. a. O.; vgl. ferner VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. November 2005 - 1 S 3023/04 - InfAuslR 2006, 70; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 23. Februar 1999 - 4 L 195/98 - NordÖR 2000, 124). Die Entscheidung des EGMR vom 16. Juni 2005 - 60654/00 - (Sisojeva/Lettland, a. a. O.), in der ein schutzwürdiges Privatleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK auch ohne rechtmäßigen Aufenthalt aufgrund intensiver persönlicher und familiärer Bindungen bejaht wurde, steht dem Regelerfordernis eines erlaubten Aufenthalts nicht entgegen. Denn dieser Fall war - worauf der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Beschluss vom 2. November 2005, a. a. O., zu Recht hingewiesen hat - durch die Atypik geprägt, dass die Beschwerdeführer zum einen lange Zeit ordnungsgemäß im Vertragsstaat gewohnt hatten und ihr aufenthaltsrechtlicher Status erst im Anschluss an politische Umwälzungen - die Auflösung der Sowjetunion und die Unabhängigkeit Lettlands - aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit in Frage gestellt worden ist, und ihnen zum anderen jedenfalls die rechtliche Möglichkeit eröffnet war, einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen.

Die für die Bejahung eines Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens durch eine aufenthaltsrechtliche Entscheidung relevante weitere Frage, ob für den Ausländer eine (Re)Integration in seinem Heimatland und damit das Führen eines Privatlebens dort möglich ist, bemisst sich nach Kriterien wie der Kenntnis der dortigen Sprache, der Existenz dort lebender Angehöriger sowie sonstiger Bindungen an das Heimatland. Geht es - wie hier - um die Rückführung einer gesamten Familie mit Kindern, sind dabei auch Fertigkeiten und mögliche Unterstützungsleistungen der Eltern sowie deren Verbindungen im Heimatland in Rechnung zu stellen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. November 2005, a. a. O.).

Nach diesem Maßstab ist ein Anspruch der Antragstellerinnen zu 3. und 4. auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, der an eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise im Hinblick auf ihr durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht auf Achtung ihres Privatlebens anknüpft, nicht überwiegend wahrscheinlich.