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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 09.05.2006 - 1 C 8.05 - asyl.net: M8393
https://www.asyl.net/rsdb/M8393
Leitsatz:

Die Verwaltungsgerichte sind im Familienasylverfahren nach § 26 Abs. 2 AsylVfG weder verpflichtet noch berechtigt, Gründe für den Widerruf der Asylanerkennung des Stammberechtigten nach § 73 Abs. 1 AsylVfG zu prüfen, solange der Leiter des Bundesamts ein Widerrufsverfahren nicht eingeleitet und den betroffenen Stammberechtigten hierzu nicht angehört hat.

 

Schlagwörter: Familienasyl, Widerruf, Asylanerkennung, Stammberechtigter, Widerrufsverfahren, Einleitung, Leiter des Bundesamtes, Aussetzung des Verfahrens
Normen: AsylVfG § 26 Abs. 2; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; AsylVfG § 73 Abs. 4; VwGO § 94
Auszüge:

Die Verwaltungsgerichte sind im Familienasylverfahren nach § 26 Abs. 2 AsylVfG weder verpflichtet noch berechtigt, Gründe für den Widerruf der Asylanerkennung des Stammberechtigten nach § 73 Abs. 1 AsylVfG zu prüfen, solange der Leiter des Bundesamts ein Widerrufsverfahren nicht eingeleitet und den betroffenen Stammberechtigten hierzu nicht angehört hat.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Revision des Beigeladenen zu 1 ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

Zu Unrecht hat der Verwaltungsgerichtshof die auf § 26 Abs. 2 AsylVfG gestützte Anerkennung des Beigeladenen zu 1 als Asylberechtigter als rechtswidrig und die Beanstandungsklage des Bundesbeauftragten deshalb als begründet angesehen.

Zu Unrecht hat der Verwaltungsgerichtshof ihm entgegengehalten, die Asylanerkennung seines Vaters, des Beigeladenen zu 2, sei - was hier allein in Betracht kommt - zu widerrufen. Der Verwaltungsgerichtshof war nicht berechtigt, Gründe für einen derartigen Widerruf zu prüfen, da der Leiter des Bundesamts - wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist - ein Widerrufsverfahren bisher nicht eingeleitet und den Vater des Beigeladenen zu 1 als betroffenen Stammberechtigten hierzu nicht angehört hat.

Zwar ist dem Verwaltungsgerichtshof in der Ablehnung der auch von der Revision vertretenen Auffassung zu folgen, dass der Widerruf erst nach dessen Unanfechtbarkeit zu berücksichtigen sei (vgl. Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 26 Rn. 48 ff.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10. Mai 1999 - 5a K 2978/96.A - InfAuslR 2000, 39 f.). Die gesetzliche Regelung wäre dann nämlich insoweit überflüssig, weil die erloschene Asylberechtigung ohnehin kein Asylrecht vermitteln kann.

Der Verwaltungsgerichtshof durfte aber dem Beigeladenen zu 1 das begehrte Familienasyl nicht mit der Begründung versagen, dass die Asylanerkennung seines Vaters gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu widerrufen sei, ohne dass es darauf ankomme, ob ein Widerrufsverfahren bereits eingeleitet sei. Damit hat sich der Verwaltungsgerichtshof zu Unrecht als befugt angesehen, das Vorliegen von Widerrufsgründen hinsichtlich des Stammberechtigten im Familienasylverfahren nach § 26 Abs. 2 AsylVfG uneingeschränkt inzident zu prüfen (UA S. 10 ff.; so auch VGH München, Beschluss vom 11. September 2001 - 9 B 00.31496 - InfAuslR 2002, 261; OVG Münster, Beschluss vom 2. Juli 2001 - 14 A 2621/01.A - juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 1. März 2001 - 8 L 1117/99 - DVBl 2001, 672; OVG Koblenz, Urteil vom 23. November 2000 - 12 A 11485/00 - NVwZ-RR 2001, 341 f.; vgl. demgegenüber Hailbronner, Ausländerrecht, § 26 AsylVfG Rn. 26; Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 26 AsylVfG Rn. 8). Er hat insoweit nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Entscheidung, ob ein solches Widerrufsverfahren einzuleiten und durchzuführen ist, nach § 73 Abs. 4 AsylVfG dem Leiter des Bundesamts oder einem von ihm beauftragten Bediensteten obliegt. Diese Aufgabenzuweisung des Gesetzgebers ist auch bei der Auslegung der Bestimmungen über die Gewährung von Familienasyl zu beachten. Hieraus folgt, dass die Verwaltungsgerichte im Familienasylverfahren weder verpflichtet noch berechtigt sind, Gründe für den Widerruf der Asylanerkennung des Stammberechtigten zu prüfen, solange der Leiter des Bundesamts ein Widerrufsverfahren nicht eingeleitet und den betroffenen Stammberechtigten hierzu nicht angehört hat.

Zwar mag der Wortlaut des § 26 Abs. 2 AsylVfG ein Verständnis der Vorschrift in dem Sinne nahe legen, dass bereits das objektive Vorliegen von Widerrufsgründen hinsichtlich des Stammberechtigten ausreicht, um Familienasyl unabhängig von der Einleitung eines Widerrufsverfahrens zu versagen. Einer solchen Auslegung stehen aber neben dem erwähnten gesetzessystematischen Erfordernis der Berücksichtigung von § 73 Abs. 4 AsylVfG die Entstehungsgeschichte und der Zweck der gesetzlichen Regelung des Familienasyls sowie Gründe der Verfahrensökonomie entgegen.

Die Einführung des Familienasyls im Jahre 1990 bezweckte ausdrücklich die Entlastung des Bundesamts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. den Bericht des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, BTDrucks 11/6960, S. 29 f. zu der Vorläuferbestimmung des § 7a Abs. 3 AsylVfG, die durch Art. 3 Nr. 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 <BGBl I S. 1354> eingeführt und durch das Änderungsgesetz vom 12. Oktober 1990 <BGBl I S. 2170> in Kraft gesetzt wurde). Auch wenn der Gesetzgeber damals vor allem die Entlastung von der Prüfung eigener Verfolgungsgründe der Familienangehörigen vor Augen hatte, wäre es mit dem angestrebten Entlastungszweck unvereinbar, wenn die Gerichte statt dessen gehalten wären, generell die - meist schwierigeren - Widerrufsvoraussetzungen bei dem Stammberechtigten zu prüfen. Vielmehr entspricht es der Verfahrensökonomie, die Gerichte von dieser Prüfung zu entbinden, solange kein Widerrufsverfahren eingeleitet und der betroffene Stammberechtigte hierzu noch nicht gehört worden ist.

Zudem besteht bei Zugrundelegung der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen über das Vorliegen von Widerrufsgründen bei dem Stammberechtigten. Der Leiter des Bundesamts wäre nämlich an eine vom Verwaltungsgericht im Familienasylprozess vorgenommene Beurteilung der Widerrufsvoraussetzungen hinsichtlich des Stammberechtigten nicht gebunden. Das Verwaltungsgericht entschiede mit Bindungswirkung nach § 121 VwGO lediglich für die Beteiligten des Rechtsstreits über die Gewährung von Familienasyl, während das Vorliegen der in Rede stehenden Widerrufsvoraussetzungen nur als Vorfrage geprüft würde (so OVG Lüneburg, a.a.O.; VGH Mannheim, Beschluss vom 12. Januar 1993 - A 14 S 1175/91 - ESVGH 43, 157; vgl. zur Reichweite der Bindungswirkung nach § 121 VwGO auch die Urteile vom 10. Mai 1994 - BVerwG 9 C 501.93 - BVerwGE 96, 24 26 f.> und vom 18. September 2001 - BVerwG 1 C 4.01 - BVerwGE 115, 111 114 ff.>). Abgesehen davon, dass Mehrfachprüfungen nicht der Verfahrensökonomie entsprechen, wäre es möglich, dass der Leiter des Bundesamts ungeachtet des Ausgangs des Klageverfahrens eine hiervon abweichende Entscheidung trifft, die im Übrigen weitere Verfahren (Folgeantrag des Stammberechtigten, Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG) auslösen könnte. So besteht auch die Möglichkeit, dass das begehrte Familienasyl im Klageverfahren versagt wird, die Anerkennung des Stammberechtigten aber dennoch nicht widerrufen wird. Die Folge wären unterschiedliche Statusrechte innerhalb der Familie. Dies stünde im Widerspruch zu der vom Gesetzgeber im Interesse einer besseren Integration angestrebten statusrechtlichen Gleichstellung der Familienangehörigen (vgl. Bericht des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, a.a.O.). Hingegen würde die vom Berufungsgericht befürwortete Inzidentprüfung entgegen der Ansicht der Revision nicht gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstoßen. Auch kann die Revision aus § 73 Abs. 2a AsylVfG nichts zu ihren Gunsten herleiten.

Anders stellt sich die Situation für die Gerichte in Fällen dar, in denen ein Widerrufsverfahren hinsichtlich des Stammberechtigten bereits eingeleitet worden ist. Hier liegt es nahe, das Familienasylverfahren nach § 94 VwGO bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Widerruf auszusetzen (vgl. VGH Mannheim, a.a.O.; Hailbronner, a.a.O.; Renner, a.a.O.), damit die Verfestigung unterschiedlicher Statusrechte vermieden wird (vgl. zum Verwaltungsverfahren die Anmerkung der Redaktion des Bundesamts im Einzelentscheider-Brief 2001, Nr. 5, S. 6 mit dem Hinweis, dass nach der derzeitigen Dienstanweisung-EE "Familienasyl" das Asylverfahren der Familienangehörigen ausgesetzt wird, bis der Außenstellenleiter entschieden hat, dass kein Widerrufsverfahren durchgeführt wird bzw. bis in einem durchzuführenden Widerrufsverfahren der Bescheid ergeht). Der Verwaltungsgerichtshof hat insoweit zu Unrecht die Vorgreiflichkeit der Entscheidung über den Widerruf verneint (UA S. 11). Keiner weiteren Prüfung und Entscheidung bedarf, was im Familienasylprozess - auch wenn er nicht ausgesetzt worden sein sollte - zu gelten hat, wenn das Bundesamt nach Einleitung eines Widerrufsverfahrens nicht in angemessener Zeit entscheidet.