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VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 25.11.2005 - 6 E 1715/04.A(1) - asyl.net: M8793
https://www.asyl.net/rsdb/M8793
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Ägypten.

 

Schlagwörter: Ägypten, Homosexuelle, Verfolgungsbegriff, Strafverfolgung, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Ägypten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Dagegen liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers vor.

Allerdings war der Kläger nach Überzeugung des Gerichts nicht aus individuellen Gründen gezwungen, sein Heimatland zu verlassen und in der Bundesrepublik Deutschland Schutz und Zuflucht zu suchen. Sein diesbezügliches Vorbringen kann dem Kläger nicht geglaubt werden.

Dennoch liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers vor, denn ihm droht wegen seiner Homosexualität, an deren irreversiblem Vorliegen für das Gericht kein Anlass zu Zweifeln besteht, die Gefahr einer politischen Verfolgung in Ägypten.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG unter bestimmten Voraussetzungen auch dann gegeben sein, wenn andere als die in Art. 1 A Nr. 2 GK ausdrücklich genannten Merkmale und Eigenschaften zum Anknüpfungs- und Bezugspunkt für Verfolgungsmaßnahmen genommen werden (Urt. v. 15.03.1988 - 9 C 278/86, BVerwGE 79, 143). Ausschlaggebend für die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfolgte Orientierung des Begriffs des politisch Verfolgten am Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention war, dass sich in der grundgesetzlichen Asylgewährung das unmittelbare Erlebnis zahlloser Verfolgungs- und Vertreibungsschicksale vor allem auch während der NS-Zeit und nach 1945 widerspiegelt. Der Vorschrift des Art. 1 A Nr. 2 GK kommt deshalb eine zwar sehr wesentliche, indessen keine strikt abschießende Bedeutung für die Bestimmung politischer Verfolgungsgründe im Rahmen des Art. 16 a Abs. 1 GG zu. Der asylrechtliche Schutz beruht auf dem allgemeinen Gesichtspunkt, dass derjenige Asyl genießen soll, der Verfolgungsmaßnahmen deshalb befürchten muss, weil er aufgrund unabänderlicher persönlicher Merkmale anders ist als er nach Ansicht des Verfolgers zu sein hat. In Art. 16 a Abs. 1 GG kommt damit unter anderem die allgemeine Rechtsüberzeugung zum Ausdruck, dass kein Staat das Recht haben soll, eine Person wegen ihr unveränderlich anhaftender Eigenschaften an Leib, Leben oder Freiheit zu beeinträchtigen. Aus diesen Überlegungen muss - auch vor dem historischen Hintergrund der in KZ-Lagern vollzogenen "Sonderbehandlung" von Homosexuellen im Dritten Reich - zu den asylrechtlich relevanten unveränderlichen Eigenschaften auch eine homosexuelle Veranlagung gerechnet werden (BVerwG a. a. O.).

Allerdings sollen nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Homosexualität betreffenden Verbotsnormen als solche noch keinen hierauf zielenden Eingriff darstellen, wenn sie nicht an die homosexuelle Veranlagung, sondern an ein bestimmtes äußeres Verhalten anknüpfen und zum Schutz der öffentlichen Moral erlassen worden sind, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe habe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen, sodass der Untersagung einverständlicher homosexueller Betätigung unter Erwachsenen aus Gründen der dort herrschenden öffentlichen Moral für sich allein keine asylrechtliche Bedeutung beigemessen werden könne. Dieser Rechtsprechung kann allerdings nicht uneingeschränkt gefolgt werden. Sie ist abzulehnen, wenn bestimmte Strafvorschriften lediglich den privaten und nicht den öffentlichen Bereich betreffen. Zwar mag es zumutbar sein, von einer Person eine gewisse Zurückhaltung ihres Verhaltens in der Öffentlichkeit zu verlangen, sodass eine Strafwürdigkeit der Erregung öffentlichen Ärgernisses oder der Verbreitung öffentlicher Schriften noch keine politische Verfolgung darstellen würde. Dies kann aber den privaten Lebensbereich nicht mitumfassen, weil insoweit ein "Betätigungsverbot" die Menschenwürde verletzen würde, wenn der Homosexuelle praktisch gezwungen wäre, lebenslänglich auf zwischenmenschliche sexuelle Akte zu verzichten, da ihm dadurch das existenzielle Minimum sexueller Betätigung entzogen würde. Das Verlangen, eine von der Bevölkerungsmehrheit abweichende sexuelle Orientierung zu unterdrücken, sofern hierdurch die Rechte Dritter nicht beeinträchtigt werden, stellt einen schweren und unerträglichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar (VG Gießen, Urt. v. 26.08.1999 - 10 E 30832/98, NVwZ-Beilage 1999, 119 f.). Im Übrigen kann eine Veranlagung nur in einem bestimmten Verhalten überhaupt sichtbar werden, sodass Vorschriften, welche Homosexualität unter Strafe stellen, üblicherweise an bestimmte Verhaltensweisen anknüpfen müssen. Eine Unterscheidung zwischen dem asylrechtlich relevanten Verbot der Veranlagung und dem asylrechtlich irrelevanten Verbot der Betätigung ist deshalb abzulehnen.

Die strafrechtliche Situation in Ägypten stellt sich folgendermaßen dar: Eine Vorschrift, welche ausdrücklich Homosexualität oder homosexuelle Betätigung unter Strafe stellt, existiert in Ägypten nicht. Allerdings wird Homosexualität in Ägypten unter anderen breiter formulierten Straftatbeständen subsumiert (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Frankfurt am Main vom 12.01.2005). Auf Homosexuelle findet das Gesetz Nr. 10/1961 zur Bekämpfung der Prostitution Anwendung. Nach Artikel 9 (c) wird mit Haftstrafe nicht unter drei Monaten und bis zu drei Jahren und Geldstrafe zwischen L.E. 25 und L.E. 300 oder eine dieser beiden Strafen bestraft, wer gewohnheitsmäßig Ausschweifung oder Prostitution betreibt (Anlage zur Auskunft des Auswärtigen Amtes a. a. O.). Diese Vorschrift wird ganz gezielt dazu benutzt, um homosexuelle Handlungen (zwischen Männern) strafrechtlich zu verfolgen, aber darüber hinaus auch, um gegen Homosexuelle als gesellschaftliche Gruppe vorzugehen (Auskunft von amnesty international an das VG Frankfurt am Main vom 29.07.2005, Seite 6).

Mit dem Gesetz gegen die Prostitution wird auch nicht bloß die homosexuelle Betätigung, sondern die homosexuelle Veranlagung unter Strafe gestellt. Nach amnesty international ist das Kriterium der Gewohnheitsmäßigkeit ein Hinweis darauf, dass das Gesetz insbesondere gegen Personen mit einer ausgeprägten homosexuellen Identität gerichtet ist, also nicht nur einzelne Handlungen bestraft, sondern das Individuum in seiner ganzen Existenz kriminalisiert. Dass die Gewohnheitsmäßigkeit sich in der Praxis kaum nachweisen lässt, spielt für die Behörden bei der Strafverfolgung offenbar keine Rolle (amnesty international a. a. O., S. 7).

Die dem Kläger bei einer Rückkehr nach Ägypten drohende Bestrafung weist auch die nötige Asylrelevanz auf. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Frankfurt am Main vom 12.01.2005 wurden in den meisten Fällen der Verfolgung von Homosexuellen Strafen zwischen einem und drei Jahren Haft verhängt, häufig eher an der Obergrenze dieser Spanne.

Mit der Verhängung von mehrjährigen Gefängnisstrafen ist die Schwelle der Asylrelevanz überschritten, da Asylrecht auch genießt, wessen persönliche Freiheit bedroht ist.

Es liegt auch die hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass es bei einer Rückkehr des Klägers nach Ägypten zu einer Verfolgung kommt.

Die von amnesty international in seiner vom Gericht eingeholten Auskunft dokumentierten Fälle wurden von der Gefangenenhilfsorganisation ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführt. Alle drei vom Gericht um Auskunft gebetenen sachverständigen Stellen berichten, dass es seit 2001 in Ägypten eine Reihe von Prozessen gegen homosexuelle Männer gegeben hat. Das Deutsche Orient-Institut spricht davon, dass es seit dieser Zeit eine stets zunehmende Zahl von Anklagen und auch von Verurteilungen im Zusammenhang mit dem Vorwurf homosexueller Praktiken in Ägypten gegeben hat. Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat 179 namentlich dokumentierte Fälle registriert. Die Organisation geht aber davon aus, dass diese Zahl bekannt gewordener Anklageerhebungen lediglich einen kleinen Anteil der tatsächlich eingeleiteten Verfahren darstellt. Es handelt sich dabei deshalb nur um die "Spitze des Eisberges". Tatsächlich dürfte die Zahl wegen ihrer sexuellen Neigung verfolgter Männer höher liegen, weil es nicht in jedem Fall auch zu einer gerichtlichen Anklage kommt, sondern sich die Angelegenheit gewissermaßen im Vorfeld durch polizeiliche Drangsalierungen "erledigt" (Deutsches Orient-Institut a. a. O. Seite 2). Darüber hinaus sind Hunderte weitere bedrängt, festgenommen und zum Teil gefoltert worden, ohne das gegen sie Anklage erhoben worden ist (amnesty international a. a. O. Seite 5). Von der seit 2001 zu beobachtenden "Verfolgungskampagne" verspricht sich die ägyptische Regierung "Positionsvorteile" im Verhältnis zu den religiösen Fanatikern, denn die Homosexuellen sind für die Regierung kein "problematisches Opfer", denn Homosexualität ist im Allgemeinen äußerst schlecht angesehen.