VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 28.09.2006 - A 8 K 11760/04 - asyl.net: M9698
https://www.asyl.net/rsdb/M9698
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Anhörung, Fristen, Fristverlängerung, rechtliches Gehör, Änderung der Rechtslage, Terrorismusbekämpfungsgesetz, schweres nichtpolitisches Verbrechen, Strafurteil, ausländisches Strafurteil, Staatssicherheitsgericht, Wiederholungsgefahr, Zukunftsprognose, Todesstrafe, Strafhaft, Folter, Menschenrechtslage, Reformen, politische Entwicklung, Islamisten, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 4 S. 2; VwVfG § 28 Abs. 1; VwVfG § 31 Abs. 7 S. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Bescheid der Beklagten vom 29.10.2004, mit welchem die mit Bescheid vom 18.12.2001 ausgesprochene Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter bzw. die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes hinsichtlich der Türkei widerrufen worden ist, ist weder in formeller (1.) noch in materiell-rechtlicher (2) Hinsicht zu beanstanden. Ferner steht dem Kläger kein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zur Seite (3.).

1. Der streitgegenständliche Widerrufsbescheid vom 29.10.2004 leidet in formeller Hinsicht nicht an einem wesentlichen Anhörungsmangel. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den aus § 73 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG i.V.m. § 28 Abs. 1 VwVfG resultierenden Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht dadurch verkürzt, indem es dem am 22.10.2004 per Telefax bei der Beklagten eingegangenen Fristverlängerungsantrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers abgelehnt und im Anschluss hieran mit Verfügung vom 29.10.2004 in der Sache trotz fehlender Äußerung des Klägerbevollmächtigten entschieden hat. Gem. § 31 Abs. 7 Satz 1 VwVfG stand es im pflichtgemäßem Ermessen der Beklagten, über diesen Antrag auf Verlängerung einer behördlich gesetzten Frist zu entscheiden. Die von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im versagenden Bescheid vom 29.10.2004 hinsichtlich der Fristverlängerung angestellten Ermessenserwägungen leiden nicht an einem im gerichtlichen Verfahren zu beanstandenden Fehler. Zurecht stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seine Erwägungen ein, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Fristverlängerungsantrag erst am letzten Werktag vor Ablauf der gesetzten 1-monatigen Frist gestellt hat, obwohl ihn der Kläger bereits am 12.10.2004 mandatiert hat. Im Übrigen durfte in die Ermessenserwägung der Beklagten auch der von § 73 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG vorgesehene Regelfall einer Frist von einem Monat eingestellt werden.

2. Der ausgesprochene Widerruf der Asylanerkennung des Klägers bzw. der Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen, ist im Ergebnis auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.

a) Soweit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sich für den Widerruf auf § 51 Abs. 3 Satz 2 3. Alternative AuslG - jetzt § 60 Abs. 8 Satz 2 3. Alternative AufenthG - stützt, liegt eine Änderung der Rechtslage vor.

Auch nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung teilt das Gericht die in dem Widerrufsbescheid der Beklagten vom 29.10.2004 vertretene Einschätzung, wonach im Falle des Klägers schwerwiegende Gründe für die Annahme vorliegen, dass er noch in der Türkei ein schweres nicht politisches Verbrechen im Sinne von § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG (entspricht § 51 Abs. 3 Satz 2 2. Alternative AuslG) begangen hat. Wie sich bereits dem Wortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG klar entnehmen lässt, ist der Tatbestand der Norm bereits dann erfüllt, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer die entsprechenden Taten begangen hat; einer rechtskräftigen Verurteilung ihretwegen bedarf es mithin nicht. Umgekehrt bedeutet dies allerdings auch, dass die tatsächlichen Feststellungen in einem - ausländischen - Strafurteil die deutschen Verwaltungsbehörden und nachprüfenden Gerichte für die Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG erfüllt sind, nicht binden, mögen sie auch ein mehr oder weniger starkes Indiz dafür sein, dass sich der Ausländer tatsächlich so verhalten hat, wie ihm im Strafurteil zur Last gelegt wird (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.12.2002 - 10 A 10089/02.OVG -). Dabei wird desto eher von der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen ausgegangen werden können, je mehr das im Ausland geführte Strafverfahren rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprochen hat. Auch bei Berücksichtigung der vom Kläger vorgebrachten Einwände hinsichtlich der fehlenden Rechtsstaatlichkeit des gegen ihn in der Türkei geführten Strafverfahrens bestehen für das Gericht keine durchgreifenden Zweifel, dass der Kläger die mit Urteil des Staatssicherheitsgerichts Ankara vom 28.11.1997 abgeurteilte Straftat tatsächlich begangen hat.

Nicht zu folgen vermag das Gericht der im versagenden Bescheid vertretenen Auffassung, wonach die Bestimmung des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG keine Wiederholungsgefahr voraussetzt. Vielmehr ist bei allen fünf Fallvariationen des Absatzes 8, auch wenn es nicht in jedem Fall ausdrücklich zur Tatbestandsvoraussetzung gemacht wurde, die Einschränkung zu machen, dass von dem Betreffenden auch in Zukunft eine konkrete Gefahr, wie sich in der Begehung der jeweils genannten Taten manifestiert hatte, ausgehen muss, weil nur unter diesen Voraussetzungen auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Asylberechtigung, auf welche die Vorschrift ebenfalls anwendbar ist, verfassungsrechtlich unbedenklich neutralisiert werden kann (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 06.06.2005 - A 4 K 10512/05 -). Andernfalls würde es an einem zumindest gleichrangig zu schützenden Rechtsgut von Verfassungsrang fehlen, das allein eine Zurückdrängung des Asylgrundrechts zu rechtfertigen vermag. Insbesondere wird auch durch eine rechtskräftige Verurteilung das Erfordernis einer konkreten Wiederholungsgefahr in Bezug auf eine entsprechend schwere Straftat nicht ersetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.12.2000 - 9 C 8.00 - zu § 51 Abs. 3 Satz 1 2. Alternative AuslG). Diese Auslegung wird auch durch den Gesetzeszweck des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG geboten, da es sich um eine Maßnahme der polizeilichen Gefahrenabwehr handelt. Dabei ist jedoch an den Prognosemaßstab, d.h. die Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden weiteren Rechtsgutverletzungen, kein all zu hoher Maßstab anzulegen. Dies folgt zum einen aus dem hohen Rang der bedrohten Rechtsgüter, zum anderen aus den praktischen Schwierigkeiten, welche der Nachweis konkreter Gefährdungen bei derartigen Straftaten bildet. Die Rechtsprechung verlangt deshalb - gleichsam wie bei einer widerlegbaren Vermutung -, dass der Ausländer glaubhaft dartut, sich endgültig von dem betreffenden Umfeld gelöst zu haben (vgl. ausführlich OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.12.2002, a.a.O.). Bei Anwendung dieses Maßstabes kann von einer Widerlegung der Gefahrprognose im Falle des Klägers keine Rede sein. Die bloße Behauptung, nicht mehr in derartige fundamentalistische Strukturen eingebunden zu sein, reicht für eine Widerlegung des Gefahrverdachts nicht aus (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 30.05.2005 - A 12 K 10186/05 -).

b) Unabhängig hiervon liegt eine wesentlichen, bereits für sich gesehen zum Widerruf berechtigende Sachverhaltsänderung darin, dass nach Ergehen des Anerkennungsbescheides in der Türkei mit Wirkung zum 09.08.2002 die Todesstrafe endgültig abgeschafft worden ist.

3. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses gem. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zur Seite. Insbesondere liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG nicht vor, wonach ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter unterworfen zu werden. Zwar geht die Kammer auch in jüngerer Rechtsprechung bei allgemeiner Betrachtungsweise davon aus, dass die türkischen Sicherheitsorgane in einem nicht unerheblichem Umfang psychischen und physischen Druck, der die Qualität von Menschenrechtsverletzungen und auch von Folter annehmen kann, anwenden. Im Falle des Klägers ist es jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass ihm bei Rückkehr in die Türkei, auch im Falle einer Abschiebung, die konkrete Gefahr von menschenrechtswidrigen Übergriffen droht. Dafür spricht bereits, dass der Kläger in der Türkei rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt ist, mithin er bei Rückführung direkt in den Strafvollzug eingewiesen würde und keine polizeilichen Untersuchungsmaßnahmen, welche nach der Erkenntnislage mit einem höheren Misshandlungsrisiko einhergehen, zu erwarten sind. Auch besteht bei Personen, welche wegen fundamentalistischer religiös motivierter Straftaten verurteilt worden sind, generell kein signifikantes Risiko, Opfer derartiger menschenrechtswidriger Übergriffe zu werten (vgl. ausführlich VG Düsseldorf, Urteil vom 22.07.2002, - 4 K 7165/01.A -).