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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 08.02.2007 - B 9b AY 1/06 R - asyl.net: M9928
https://www.asyl.net/rsdb/M9928
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Duldung, Zumutbarkeit, Integration, Kinder
Normen: AsylVfG § 2 Abs. 1; RL 2003/9/EG Art. 16; SGG § 54; AufenthG § 60a Abs. 2
Auszüge:

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsurteil ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das Berufungsurteil ist auch nicht deshalb teilweise aufzuheben, weil die Klage auf - höhere - laufende Leistungen für die Zeit ab Februar 2005 unzulässig wäre. Auch insoweit liegt eine Verwaltungsentscheidung als Klagevoraussetzung vor (vgl § 54 SGG).

Zwar sind Sozialhilfeleistungen nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung keine rentenähnlichen Dauerleistungen, sondern Hilfen in einer besonderen Notsituation. Sie werden deshalb grundsätzlich nicht über längere, sondern nur für die nächstliegende Zeit bewilligt. Die Behörde kann deshalb ihre Entscheidung über ein Hilfebegehren auf einen kurzen Zeitraum beschränken, sie ist aber auch nicht gehindert, den Sozialhilfefall für einen längeren Zeitraum zu regeln (vgl Bundesverwaltungsgericht <BVerwG>, BVerwGE 39, 261, 265; BVerwG Buchholz 436.0 § 69 BSHG Nr. 3; BVerwG Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 5; BVerwGE 89, 81; BVerwG Buchholz 436.51 § 6 JWG Nr. 15; dazu auch Grieger, ZFSH/SGB 2002, 451).

Jedenfalls ergibt sich aus dem Inhalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Januar 2005, der dem ursprünglichen Verwaltungsakt insoweit seine endgültige Gestalt gegeben hat (vgl § 95 SGG), dass der Beklagte die im Vorverfahren allein streitige Frage einer Leistungsgewährung nach § 2 oder § 3 AsylbLG mit Dauerwirkung regeln wollte.

Die Aufhebung des Berufungsurteils erfolgt, weil die Tatsachenfeststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht ausreichen.

Die Kläger gehören als Besitzer von Duldungen nach § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zum Kreis der in § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG genannten Leistungsberechtigten. Sie haben nach § 2 Abs. 1 und Abs. 3 AsylbLG Anspruch auf Leistungen entsprechend dem SGB XII, wenn sie insgesamt 36 Monate lang Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten (vgl zu den Plänen, diese Frist auf vier Jahre verlängern: BT-Drucks. 16/3775 S 2; zu dem Vorhaben, Asylbewerber zeitlich unbegrenzt auf Grundleistungen zu beschränken: BR-Drucks 36/07, S 4, 8) und die Dauer ihrer Aufenthalte in Deutschland nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Das Berufungsgericht meint, mit bloßer Nichtausreise - wie hier - beeinflussten durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung geduldete Ausländer ihre Aufenthaltsdauer nicht rechtsmissbräuchlich, weil sie damit lediglich die durch Duldung erlangte - unsichere - Rechtsposition nutzten. Erst wenn die Dauer des Aufenthalts auf einem darüber hinausgehenden, rechtlich zu beanstandenden Verhalten des Ausländers beruhe, liege Rechtsmissbrauch vor. Diese Auffassung teilen zwar verschiedene Landessozialgerichte (vgl Sächsisches LSG, Beschluss vom 9. Februar 2006 - L 3 B 179105 AY - ER -, SAR 2006, 67 ff und LSG Hamburg, Beschluss vom 27. April 2006 - L 4 B 84/06 ER AY -, InfAuslR 2006, 342 ff). Der Senat folgt ihr aber nicht.

Unter rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer versteht § 2 Abs. 1 AsylbLG nach Auffassung des Senats auch eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) erlangt hat. Darunter fällt auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland, dem es möglich und zumutbar wäre, auszureisen (vgl Hohm in GK-AsylbLG, Stand Dezember 2006, § 2 RdNr 79 ff, 87 f; ähnlich auch Herbst in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, Band II, § 2 AsylbLG RdNr 37; LSG Baden-Württemberg, SAR 2006, 33; OVG Bremen, SAR 2006, 21).

Die Rechtsordnung verlangt von Ausländern für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel in Form eines Visums, einer Aufenthalts- oder einer Niederlassungserlaubnis (§ 4 Abs. 1 AufenthG). Wer - wie die Kläger - darüber nicht oder nicht mehr verfügt, ist unverzüglich oder bis zum Ablauf einer ihm gesetzten Frist zur Ausreise verpflichtet (§ 50 Abs. 1 und 2 AufenthG). Kommt er dem nicht nach, ist die Ausreise zwangsweise durchzusetzen: Der Ausländer wird abgeschoben (§ 58 Abs. 1 AufenthG). Ist das aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich, wird die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt (§ 60a Abs. 2 AufenthG). Durch die "Duldung" bleibt die Ausreisepflicht unberührt (§ 60a Abs. 3 AufenthG).

Nach dieser Konzeption widerspricht der weitere Inlandsaufenthalt des ausreisepflichtigen, aber geduldeten Ausländers der Rechtsordnung. Lässt seine Ausreisepflicht sich nicht zwangsweise durchsetzen, wird ihm zwar auch ohne entsprechenden Titel ein vorübergehender Aufenthalt ohne Verstoß gegen Strafvorschriften (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) möglich gemacht. Die Forderung, selbstständig auszureisen und damit den nicht rechtmäßigen Aufenthalt zu beenden, bleibt aber bestehen.

Wer diese Pflicht vorwerfbar nicht befolgt, macht funktionswidrig unter Verstoß gegen Treu und Glauben von der durch Duldung eingeräumten Rechtsposition Gebrauch. Vorwerfbar in diesem Sinne ist es regelmäßig, wenn der Ausländer nicht ausreist, obwohl ihm das möglich und zumutbar wäre. Denn sein weiterer Aufenthalt wird in Erwartung rechtspflichtkonformen Verhaltens durch selbstständige Ausreise (vgl BR-Drucks 36/07, S 8) nur wegen der Ohnmacht des Staates geduldet, das geltende Recht zwangsweise durchzusetzen.

Diese Interpretation des Begriffs "rechtsmissbräuchlich" in § 2 Abs. 1 AsylbLG wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Danach sollen nur diejenigen Ausländer Leistungen nach § 2 AsylbLG erhalten, "die unverschuldet nicht ausreisen können" (BT-Drucks 15/420, S 121). Dazu zählt nicht, wer der Ausreisepflicht nicht nachkommt, obwohl das sowohl tatsächlich und rechtlich möglich als auch zumutbar ist.

An diesem Ergebnis ändert auch der Hinweis in den Materialien (BT-Drucks, a.a.O.) nichts, die Bestimmung über die Folgen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens knüpfe an den Entwurf einer Richtlinie des Rats der Europäischen Union (EU) zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern an. In Art 16 des Entwurfs seien Formen "negativen Verhaltens" zusammengefasst, die auf nationaler Ebene eine Einschränkung von Leistungen erlaubten. Mit dem allgemeinen Hinweis auf rechtsmissbräuchliches Verhalten werde die Vereinbarkeit mit der zu erwartenden Richtlinie der EU gewährleistet (vgl jetzt Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten <RL>, Amtsblatt Nr. L 031 vom 6. Februar 2003, S 18). Das Berufungsgericht entnimmt dem Art 16 Abs. 1 a RL, wonach Asylbewerbern, die gegen Aufenthalts-, Melde- oder Auskunftspflichten verstoßen, Vorteile entzogen oder beschränkt werden dürfen, dass nur Verstöße gegen rechtliche Regelungen als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren seien. Abgesehen davon, dass es hier nicht um die Beschränkung, sondern um die Vorenthaltung von Vorteilen geht, verneint das LSG zu Unrecht einen relevanten Verstoß mit der Begründung, dass die Kläger mit dem Verbleib im Inland nur eine ihnen durch die Duldung eingeräumte Rechtsposition nutzten. Damit wird die aufenthaltsrechtliche Lage unzureichend beschrieben. Entscheidend ist der vollstreckungsrechtliche Charakter einer Duldung, deren "Nutzung" untrennbar mit einem Verstoß gegen die fortbestehende Ausreisepflicht verbunden ist.

Entgegen der Befürchtung des LSG Hamburg (InfAuslR 2006, 342) läuft die Regelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG auch nicht leer, wenn unter bestimmten Voraussetzungen bereits eine Nichtausreise als rechtsmissbräuchlich angesehen wird. Für die Vorschrift verbleibt jedenfalls dann ein weiter Anwendungsbereich, wenn - wie nach Auffassung des Senats - erst das Nichtwahrnehmen zumutbarer Ausreisemöglichkeiten den Rechtsmissbrauch begründet.

In dem wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG die Zumutbarkeitsfrage auch nicht allein danach beantworten können, wann die Gefahren des Bürgerkrieges auf dem Balkan und einer etwaigen anschließenden Verfolgung der Minderheit der Ashkali im Kosovo geendet haben. Denn unzumutbar ist die Ausreise nicht erst bei zielstaatsbezogenen Gefahren für Freiheit, Leib oder Leben, also bei Abschiebungshindernissen iS des § 60 Abs. 7 AufenthG, die nach § 25 Abs. 3 AufenthG in der Regel sogar zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führen. Auch weniger gewichtige Gründe können die Ausreise unzumutbar machen.

Ein solcher Bleibegrund kann z.B. auch die besondere Situation von Ausländern sein, denen sich Ausreisemöglichkeiten erst nach jahrelangem Aufenthalt in Deutschland eröffnen. Haben sie sich während dieser langen Zeit derart in die deutsche Gesellschaft und die hiesigen Lebensverhältnisse integriert, dass ihre Ausreise in das Herkunftsland etwa einer Auswanderung nahe käme, so mag zwar das Aufenthaltsrecht darauf keine Rücksicht nehmen, falls es gelingt, diese Ausländer eines Tages doch noch abzuschieben. Bis dahin wird dem Ausländer seine Nichtausreise leistungsrechtlich aber nicht vorwerfbar und der weitere - geduldete - Aufenthalt in Deutschland deshalb nicht rechtsmissbräuchlich sein.

Das LSG wird insofern auch zu prüfen haben, ob dem inzwischen zehn Jahre alten Kläger zu 2) die Rückkehr unzumutbar ist. Da er sein Geburtsland bereits als Zweijähriger verlassen hat, könnte er in den acht Jahren seines Inlandsaufenthalts hier sprachlich, sozial und schulisch so stark deutsch geprägt worden sein, dass er bei Übersiedlung in das Kosovo ohne tragfähige Beziehung zu Muttersprache und Heimatland einer ihm völlig entfremdeten und fremdartigen Umgebung ausgesetzt wäre. Für diesen Fall könnte auch dem Kläger zu 1) die Ausreise unzumutbar sein, weil er entweder seinen minderjährigen Sohn in Deutschland zurücklassen oder ihn zum unzumutbaren Wechsel in das Kosovo zwingen müsste (vgl zur faktischen Inländereigenschaft als Ergebnis erfolgreicher Integration: Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 11. Oktober 2005 - 11 K 5363/03 -, InfAuslR 2006, 14).

Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung weiter zu berücksichtigen haben, dass die Kläger zwar die in ihren Verhältnissen liegenden Bleibegründe darzulegen haben, dem Beklagten jedoch die Nichterweislichkeit von Rechtsmissbrauch zur Last fällt, weil es sich hierbei materiell um eine anspruchsausschließende Einwendung handelt (vgl Hohm, a.a.O., Stand Februar 2006, § 2 RdNr 93; Adolph in Linhart/Adolph, Sozialgesetzbuch II, Sozialgesetzbuch XII, Asylbewerberleistungsgesetz, Stand Juli 2006, § 2 AsylbLG RdNr 16).