VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 24.02.2009 - 17 K 2497/07 - asyl.net: M15340
https://www.asyl.net/rsdb/M15340
Leitsatz:

1. Ein vor dem Stichtag abgeschlossenes Verhalten des Ausländers stellt regelmäßig kein Behindern oder Verzögern i.S.d. § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG dar.

2. Ein Unterlassen des Ausländers, dass die Ausländerbehörde ohne weiteres selbst ersetzen kann, stellt kein Behindern oder Verzögern im Sinne des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG dar.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Altfallregelung, Aufenthaltserlaubnis, Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung, Behinderung der Aufenthaltsbeendigung, Täuschung, Falschangaben, Untertauchen, Beurteilungszeitpunkt, Mitwirkungspflichten, Passpflicht, Ermessen
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4; AufenthG § 48 Abs. 3; AufenthG § 3 Abs. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4; AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Die Versagung eines Aufenthaltsrechts für die Kläger durch den Bescheid vom 7.5.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.7.2007 ist rechtswidrig und verletzt sie daher in ihren Rechten (1.). Die Sache ist aber nicht spruchreif, weil die Beklagte noch keine Ermessensentscheidung über das Absehen von der Erfüllung der Passpflicht getroffen hat (2.). Sie ist daher zu einer Neubescheidung des Antrags vom 17.12.2006 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO.

1. Den Klägern kann eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG erteilt werden. [...]

a) Die Frage, ob eine Aufenthaltserlaubnis aus Rechtsgründen erteilt oder versagt werden muss, ist nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzen mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, d.h. hier zum gegenwärtigen Zeitpunkt, zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.6.2004, BVerwGE 121, 86, 88; OVG Hamburg, Urt. v. 29.1. 2008, 3 Bf 149/02). Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG gilt als Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (§ 104a Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 AufenthG; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 4.9.2007, 1 C 43.06, InfAuslR 2008, 71, 72), in welchem die zu einem Aufenthaltsrecht führenden humanitären Gründe normiert sind. Solche humanitären Gründe machen die Kläger geltend, in dem sie ihr Begehren in tatsächlicher Hinsicht auf ihre Integration in die hiesigen Verhältnisse stützen. Dieses Begehren ist nach jeder in Betracht kommenden Vorschrift des Aufenthaltsgesetzes zu beurteilen und erfasst damit auch den § 104a Abs. 1 AufenthG, ungeachtet des Umstands, dass der entsprechende förmliche Antrag der Kläger vom 26.6.2008 noch nicht beschieden ist. Diese bundesgesetzliche Altfallregelung ersetzt zudem die vergleichbare landesrechtliche Regelung nach § 23 Abs. 1 AufenthG i.V.m. der Weisung der Behörde für Inneres Nr. 1/2006 (OVG Hamburg, a.a.O.), auf welche die Kläger in ihrem Antrag vom 17.12. 2006 abgestellt hatten.

b) Die Kläger erfüllen, angesichts ihres langen, durchweg geduldeten Aufenthalts und der von ihnen erbrachten Integrationsleistungen, alle speziellen, in § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG aufgezählten Voraussetzungen, was die Beklagte – mit einer Ausnahme – nicht in Abrede stellt. Entgegen ihrer Auffassung steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aber auch nicht der Ausschlußgrund des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG entgegen. Hiernach darf der Ausländer die Ausländerbehörde nicht vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht oder behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert oder behindert haben.

Bei der Auslegung jener Bestimmung ist maßgeblich auf den Sinn und Zweck der Altfallregelung abzustellen, die den seit Jahren geduldeten und hier integrierten Ausländern eine dauerhafte Perspektive geben will. Der Gesetzgeber hatte diejenigen geduldeten ausreisepflichtigen Ausländer im Blick, die sich faktisch und wirtschaftlich integriert und sich zugleich – im Wesentlichen – rechtstreu verhalten haben (BT-Drs. 16/5065, S. 201). Dabei ist zu beachten, dass die Gruppe der geduldeten Ausländer zu einem erheblichen Teil aus Personen besteht, die ihre Ausreisehindernisse im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG zu vertreten haben. Anderenfalls hätten sie bereits nach jener Vorschrift eine Aufenthaltserlaubnis erteilt bekommen müssen. Diese Ausländer können nicht von vorneherein von der Begünstigung ausgeschlossen werden, weil die Altfallregelung sonst weitgehend ins Leere liefe. Der Gesetzeswortlaut berücksichtigt dies, in dem er weder durch eine Verweisung noch durch seine Wortwahl an den § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG oder die ausweisrechtlichen Pflichten das § 48 AufenthG oder die Mitwirkungspflichten nach § 82 AufenthG anknüpft.

Dem Ziel des Gesetzes, die Problematik der langjährig geduldeten Ausländer umfassend zu lösen, und dem öffentlichen Interesse, die Sozialkassen durch die Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme zu entlasten (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 202 f.), entspricht deshalb eine enge Auslegung des Ausschlussgrunds nach § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 30.1.2008, 8 K 3678/07; Urt. v. 14.2.2008, 10 K 2790/07; offen: OVG Hamburg, Beschl. v. 2.4.2008, 3 So 182/07). In diese Richtung weisen auch die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern vom 2.10.2007. Sie gehen davon aus, dass der Ausschlussgrund des vorsätzlichen Hinauszögerns oder Behinderns behördlicher Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung ausschließlich dann vorläge, wenn ein Ausländer nachweislich Dokumente vernichtet oder unterdrückt habe, er im Rahmen der Passbeschaffung einer Aufforderung zur Vorsprache bei seiner Landesvertretung nicht gefolgt oder untergetaucht sei oder er bereits in Abschiebehaft gesessen habe und sich beharrlich weigere, an der Durchsetzung seiner Ausreisepflicht mitzuwirken (Rn. 333). Sein Verhalten müsse zudem für die Verzögerung oder Verhinderung der Abschiebung allein ursächlich gewesen sein, woran es fehlen solle, wenn es davon unabhängig Gründe gegeben habe, die einer Abschiebung entgegenstanden (Rn. 334). Das Einlegen von Rechtsmitteln allein falle nicht unter diesen Ausschlussgrund (Rn 335).

Ein Täuschen, Hinauszögern oder Behindern muss demnach von einigem Gewicht sein und darf sich nicht in der Verletzung von Mitwirkungspflichten erschöpfen. Erforderlich ist ein gezieltes und nachhaltiges Unterlaufen der Aufenthaltsbeendigung, das nachweislich erfolgt sein muss; bloße Zweifel genügen nicht (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 21.5.2008, 8 K 1025/07, NVwZ-RR 2008, 829, 831). Gemessen daran steht § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG einem Anspruch der Kläger nicht entgegen.

c) Soweit die Beklagte anführt, dass die Kläger zu 1) und 2) vom Mai 1994 bis zum Oktober 1995 untergetaucht waren und sie am 1.9.1999 ihre Anträge für einen Passersatz fehlerhaft ausgefüllt haben, liegt beides vor dem für die Kläger maßgeblichen Stichtag des 30.6.2001. Schon dies dürfte die Berücksichtigung jener Umstände ausschließen. Jedenfalls ist angesichts der seit dem verstrichenen Zeit keiner von ihnen von einem solchen Gewicht gewesen, dass er die Beendigung des Aufenthalts der Kläger lange genug hinausgezögert hätte, um eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG zu begründen.

aa) Während § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 und Nr. 6 AufenthG die Grenze für ein nicht mehr rechtstreues Verhalten markieren, beschreiben Nr. 1 bis Nr. 3 die Integrationsanforderungen, die zum langjährigen, geduldeten Aufenthalt hinzutreten müssen. Die Nr. 4 filtert aus den vielfältigen Gründen für eine langjährige Duldung diejenigen heraus, die es den Ausländerbehörden verwehrt haben, die gesetzlich vorgeschriebene Ausreisepflicht durchzusetzen. Konnten diese ihrer Aufgabe nicht nachkommen, weil der Ausländer sie getäuscht hatte oder er laufende Bemühungen zur Aufenthaltsbeendigung behinderte, so soll er nicht noch durch die Folgen dieses – nicht mehr rechtstreuen – Verhaltens begünstigt werden (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 2.4.2008, 3 So 182/07). Es läge sonst nicht mehr die vom Gesetz erwartete Konvergenz von Integration und rechtstreuem Verhalten vor und es würde an der inneren Rechtfertigung für das Absehen von der Durchsetzung der festgestellten Ausreisepflicht fehlen. An einer derartigen Selbstbegünstigung fehlt es aber, wenn das Verhalten des Ausländers sich nicht (mehr) auf die Dauer seiner Duldung auswirkt, also wenn sein Verbleib im Bundesgebiet auf anderen Gründen als seinem eigenen Verhalten beruht (vgl. zur Kausalität: OVG Münster, Beschl. v. 12.2.2008, 18 B 230/08, InfAuslR 2008, 211, 212; Urt. v. 18.6.2008, 17 A 2250/07, AuAS 2008, 208, 211). Dies ist bei einem Verhalten, welches vor dem jeweiligen Stichtag abgeschlossen war, regelmäßig der Fall. Es ist nicht zu berücksichtigen, wenn es nicht mehr geeignet gewesen ist, aufenthaltsbeendende Maßnahmen in dem Zeitraum von 6 bzw. 8 Jahren vor dem 1.7.2007 zu verzögern oder zu behindern. [...]

d) Ein vorsätzliches Hinauszögern oder Behindern behördlicher Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung ist auch nicht darin zu sehen, dass die Kläger die Geburtsurkunden der Kläger zu 3) und 4) nicht ins Russische haben übersetzen und mit einer Apostille versehen lassen. Das Fehlen dieser Dokumente steht derzeit der Erteilung von Passersatzpapieren für die ganze Familie entgegen, weil sie nach deren Auskunft vom 26.10. 2002 von dem russischen Generalkonsulat für erforderlich gehalten werden. Zwar wurden die Kläger bereits bei der Verlängerung ihrer Duldungen am 18.11.2002 aufgefordert, jene Dokumente vorzulegen, doch stellt dieses Unterlassen nicht das notwendige gezielte und nachhaltige Unterlaufen der Aufenthaltsbeendigung dar. Anders als z.B. die notwendige eigenhändige Unterschrift unter einem Passersatzpapierantrag oder die Vorsprache bei der Vertretung des Herkunftsstaates konnte dieses Unterlassen ohne weiteres durch die Ausländerbehörde der Beklagten selbst ersetzt werden. Es ist deshalb nicht allein ursächlich geworden für die Dauer des Aufenthalts der Kläger im Bundesgebiet. [...]

Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass die Kläger zur Mitwirkung an der Beschaffung von Passersatzpapieren verpflichtet gewesen sind, was sich ohne weiteres aus § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ergibt. Da keine Gründe vorliegen, die die Anfertigung der Übersetzungen unzumutbar erscheinen ließen, kann den Klägern deshalb keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden. Gleichwohl beruht ihr Aufenthalt im Sinne des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht auf ihrem Unterlassen, weil sich die Beklagte hierüber ohne weiteres hätte hinwegsetzen können. Bei der gebotenen wertenden Betrachtung kommt ihrem Verhalten daher kein erhebliches Gewicht zu.

2. Dennoch kann die Beklagte nicht zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen verpflichtet werden, weil die Kläger mangels eines Passes oder Passersatzes derzeit nicht ihre Passpflicht nach § 3 Abs. 1 AufenthG erfüllen und damit zugleich die allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht vorliegt. Hiervon kann allerdings nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, doch ist die Beklagte noch nicht in diese Ermessensprüfung eingetreten, so dass sie diese nunmehr nachzuholen hat. Es ist aber gerichtsbekannt, dass das Recht auf Beantragung eines neuen Reisepasses in einer russischen Auslandsvertretung diejenigen russischen Staatsangehörigen haben, die in der Russischen Föderation angemeldet und im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland für zumindest 6 Monate sind. Dies ist bei den Klägern nicht der Fall. [...]