SG Bremen

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Zitieren als:
SG Bremen, Gerichtsbescheid vom 13.08.2009 - S 19 SB 3/09 [= ASYLMAGAZIN 12/2009, S. 38 ff.] - asyl.net: M16089
https://www.asyl.net/rsdb/M16089
Leitsatz:

Anspruch einer geduldeten Iranerin auf Feststellung einer Behinderung nach dem SGB IX (Schwerbehindertenausweis).

Die vom BSG in seiner Entscheidung vom 1.9.1999 aufgestellten Grundsätze, wonach das Schwerbehindertenrecht behinderte Ausländer auch dann schützt, wenn sie sich nur geduldet seit Jahren in Deutschland aufhalten, ein Ende dieses Aufenthalts nicht absehbar ist und die Ausländerbehörde gleichwohl keinen Aufenthaltstitel erteilt, bleiben auch auf der Grundlage des AufenthG gültig. Ein rechtmäßiger gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX kann danach auch bei geduldeten Ausländern gegeben sein, wenn sie ein Abschiebungshindernis nicht zu vertreten haben (hier: Krankheit und Passlosigkeit wegen Unzumutbarkeit einer Freiwilligkeitserklärung/Iran).

Schlagwörter: gewöhnlicher Aufenthalt, Schwerbehindertenausweis, Abschiebungshindernis, Iran, Passbeschaffung, Freiwilligkeitserklärung, Mitwirkungspflicht
Normen: SGB IX § 2 Abs. 2; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Das Gericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es auf Grund der gerichtsbekannt desolaten Zustände in der Ausländerbehörde Bremen und einer oft jahrelangen Bearbeitungsdauer von Anträgen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als problematisch erscheine, grundsätzlich davon auszugehen, dass im Falle einer Duldung die Ausländerbehörde die Möglichkeiten des Vorliegens von Ausreisehindernissen bereits umfassend geprüft habe und zu einem negativen Ergebnis gekommen sei. Das Gericht hat den Beteiligten ferner eine Mitteilung der Präsidentin des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie vom 11. Juni 2009 vorgelegt, wonach in Niedersachsen bei einer tatsächlichen Aufenthaltsdauer von länger als drei Jahren und der Nichtabsehbarkeit einer Abschiebung auch bei geduldeten Ausländern ein Antrag nach dem SGB IX bearbeitet werde. [...]

Gem. § 2 Abs. 2 SGB IX setzt - wie schon zuvor gem. § 1 SchwbG - die Feststellung einer Behinderung voraus, dass der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder seine Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches hat. Was der gewöhnliche Aufenthalt ist, definiert das SGB IX nicht. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) aber hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt gem. § 37 SGB I für alle Leistungsbereiche des SGB, soweit sich nicht aus seinen übrigen Büchern etwas anderes ergibt. Zwar enthält das SGB IX keine derartige Ausnahmeregelung, es entspricht jedoch der ständigen Rechtsprechung des BSG, dass der Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" nur hinreichend unter Berücksichtigung des Zwecks des jeweiligen Gesetzes bestimmt werden kann, in dem der Begriff gebraucht wird. Dies gilt insbesondere für die Frage, wann ein Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (vgl. BSG Urteil vom 01.09.1999, Az.: B 9 SB 1/99 R, m.w.N.).

Ein nicht nur vorübergehendes Verweilen eines Ausländers nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I setzt grundsätzlich eine ausländerrechtliche Aufenthaltsposition voraus, die so offen ist, dass sie einen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit ermöglicht. Daher hält sich ein Ausländer in der Regel dann nicht gewöhnlich in Deutschland auf, wenn sein Aufenthalt hier nur geduldet ist. Denn eine Duldung soll gerade keinen Aufenthalt auf Dauer ermöglichen; sie wird vielmehr lediglich in der Absicht erteilt, den Aufenthalt mit Wegfall des zeitweise bestehenden Abschiebehindernisses zu beenden. Aber auch bei geduldeten Ausländern liegt ausnahmsweise dann ein nicht nur vorübergehendes Verweilen vor, wenn andere Umstände ergeben, dass sie sich auf unbestimmte Zeit in Deutschland aufhalten werden. Ein solcher Umstand ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn ein Ausländer nicht mit einer Abschiebung in sein Heimatland zu rechnen braucht, weil der Abschiebung Hindernisse entgegenstehen, die er nicht zu vertreten hat (vgl. BSG a.a.O; Bayerisches LSG, Urteil vom 18.02.1999, Az. L 18 B 141/98 SB PKH; SG Bremen, Urteil vom 02.05.2006, Az. S 3 SB 138/04; SG Duisburg, Urteil vom 15.06.2007, Az. S 30 SB 140/04).

Dies ist hier der Fall. Die Klägerin lebt seit mindestens 14 Jahren in der Bundesrepublik. Nach den Mitteilungen der Ausländerbehörde Bremen vom 09. November 2007 und 06. November 2008 kann ihre Abschiebung schon auf Grund fehlender Pass- bzw. Passersatzpapiere nicht durchgeführt werden. Darüber hinaus ist auch angesichts der aktenkundigen Erkrankungen in absehbarer Zeit mit einer Abschiebung nicht zu rechnen. Letzteres hat die Klägerin eindeutig nicht zu vertreten. Ebensowenig kann aber auch festgestellt werden, dass die Klägerin ihre Passlosigkeit als Abschiebungshindernis zu vertreten hat. Denn die iranischen Auslandsvertretungen machen die Ausstellung eines Passersatzpapiers davon abhängig, dass der Ausländer erklärt, freiwillig in den Iran zurückkehren zu wollen. Die Abgabe einer solchen "Freiwilligkeitserklärung" aber wird zu Recht von weiten Teilen der Rechtsprechung und Literatur für unzumutbar gehalten, da sie nicht der Wahrheit entspreche (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 27. Juli 1999 - 20 W 306/99 -, InfAuslR 1999, 465; Kammergericht Berlin, Beschluss vom 25. Oktober 1999 - 25 W 8380/99 -, InfAuslR 2000, 229; OLG Hamm, Beschluss vom 12. Februar 2001 - 19 W 20/01 -, bei Melchior, Abschiebungshaft, Anhang; OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2003 - 17 W 80/03 -, bei Melchior, aaO.; OLG Düsseldorf , Beschluss vom 3. November 2003 - I - 3 Wx 275/03 -, bei Melchior, aaO.; OLG Köln, Beschluss vom 10. Februar 2006 - 16 Wx 238/05 -, NVwZ-RR 2007, 133; OLG Nürnberg, Urteil vom 16. Januar 2007 - 2 St OLG Ss 242/06 -, Juris und Sächsisches OVG, Beschluss vom 21. Juni 2007 - A 2 B 258/06 -, n.v.; VG Frankfurt am Main, Urteil vom 23. Januar 2008 - 1 E 3668/07 (2) -, n.v.; ebenso: Heinhold, ZAR 2003, 218, 224; Göbel-Zimmermann, ZAR 2005, 275, 280). Unzumutbares aber kann von der Klägerin nicht verlangt werden.

Die Klägerin hält sich auch rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX auf.

Ein rechtmäßiger Aufenthalt ist nicht von vornherein dadurch ausgeschlossen, dass der Aufenthalt der Klägerin in der Bundesrepublik lediglich geduldet ist. Allerdings gewährt ausländerrechtlich die Duldung als vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (vgl. § 60 a AufenthG) dem Ausländer kein Aufenthaltsrecht. Ein rechtmäßiger gewöhnlicher Aufenthalt eines Ausländers im Sinne des Schwerbehindertenrechts ist aber nicht erst dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat. Nach der o.a. Grundsatzentscheidung des BSG vom 01.09.1999 schützt das Schwerbehindertenrecht behinderte Ausländer vielmehr auch dann, wenn sie sich nur geduldet seit Jahren in Deutschland aufhalten, ein Ende dieses Aufenthalts unabsehbar ist und die Ausländerbehörde gleichwohl keinen Aufenthaltstitel erteilt: Zum einen geriete das Schwerbehindertenrecht zu seinen eigenen Zielen in unlösbaren Widerspruch, wenn es eine bestimmte Gruppe auf unabsehbare Zeit in Deutschland lebender ausländischer Behinderter wegen ihrer fremden Staatsangehörigkeit auf Dauer von Hilfen zur Eingliederung ausschlösse; zum anderen sei dies mit der Verfassung nicht vereinbar. Einem Aufenthaltstitel sei daher für das Schwerbehindertenrecht der jahrelang geduldete Aufenthalt eines Ausländers, dessen Abschiebung nicht abzusehen ist und bei dem die Rechtsvoraussetzungen des § 30 Abs. 3 Ausländergesetz (AuslG) vorliegen, gleichzustellen. Denn in einem solchen Fall sei die Duldung zu einem Aufenthaltsrecht "zweiter Klasse" entfremdet worden, mit dem anstelle des Aufenthaltstitels humanitär motivierte und/oder politisch erwünschte Daueraufenthalte von Ausländern möglich gemacht würden (BSG a.a.O.).

Dieser Grundsatz, dass sich auch ein nur geduldeter Ausländer nach dem Schwerbehindertenrecht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten kann, ist nach wie vor und insbesondere auch in Ansehung der seit dem 01. Januar 2005 geltenden Vorschriften des AufenthG gültig. Denn auch nach den Regelungen des AufenthG ist ein rechtmäßiger gewöhnlicher Aufenthalt eines Ausländers im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX nicht erst dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat (vgl. SG Duisburg a.a.O.).

Dem steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber bei Schaffung des AufenthG das Ziel hatte, die Praxis der Kettenduldungen mit Hilfe der Regelung des § 25 Abs. 5 AufenthG abzuschaffen oder zumindest einzuschränken. Dieses Ziel ist tatsächlich nicht erreicht worden, da faktisch in den meisten Bundesländern die Bestimmung restriktiv angewendet und von der Möglichkeit der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen kein oder nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht wird (vgl. SG Duisburg a.a.O, m.w.N.). Zu bestehenden Problemen in der Rechtsanwendung des § 25 Abs. 5 AufenthG kommen oftmals noch humanitäre und/oder moralische Bedenken der Ausländerbehörden, die von der Abschiebung des Ausländers - trotz rechtlicher und tatsächlicher Möglichkeit - keinen Gebrauch machen und statt dessen weiterhin Duldungen aussprechen (vgl. SG Duisburg a.a.O., m.w.N.). Nichts anderes als der Umstand, dass es trotz der Regelung des § 25 Abs. 5 AufenthG weiterhin Kettenduldungen in erheblichem Umfang gibt, hat schließlich auch im August 2007 zur Schaffung der sogenannten Altfallregelung des § 104 a AufenthG für langjährig in der Bundesrepublik befindliche Ausländer geführt.

Speziell bei der Ausländerbehörde Bremen treten gerichtsbekannte desolate Zustände in der Personal- und Entscheidungslage mit zum Teil jahrelangen Bearbeitungsrückständen hinzu. Obwohl nach § 104 a AufenthG die Aufenthaltserlaubnis mit Gültigkeit nur bis zum 31. Dezember 2009 erteilt werden soll und an ein Erfordernis der (überwiegenden) Sicherung des Lebensunterhalts zu bestimmten Stichtagen geknüpft ist, ist eine Vielzahl von Anträgen nach § 104 a AufenthG von der Ausländerbehörde Bremen bisher nicht beschieden worden. Die von der Beklagten aufgestellte Vertrauensäußerung, dass im Falle des Vorliegens lediglich einer Duldung stets davon auszugehen sei, dass die Ausländerbehörde Bremen bereits sorgfältig die Möglichkeiten der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geprüft und abschlägig entschieden habe, entbehrt daher jeder tatsächlichen Grundlage. Behinderte Ausländer können aber nicht während der Zeiträume des von ihnen nicht zu vertretenden Organisationsverschuldens der Ausländerbehörde Bremen von den Vorteilen des Schwerbehindertenrechts ausgeschlossen und die Beklagte einer eigenständigen Prüfung enthoben werden. [...]