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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 25.08.2009 - 1 C 30.08 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 32 ff.] - asyl.net: M16254
https://www.asyl.net/rsdb/M16254
Leitsatz:

1. Die Titelerteilungssperre des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erfasst nicht die Fälle, in denen die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 AsylVfG bereits vor diesem Zeitpunkt bestandskräftig geworden ist.

2. Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 AsylVfG setzt voraus, dass sich aus dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für den Betroffenen eindeutig ergibt, dass der Offensichtlichkeitsausspruch gerade auf diese Vorschrift gestützt wird; dafür ist in der Regel erforderlich, dass die Vorschrift in der Begründung des Bescheides ausdrücklich genannt wird.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltstitel, Auslegung von Verwaltungsakten, offensichtlich unbegründet, missbräuchliche Asylantragstellung, Sperrwirkung, unechte Rückwirkung, Rechtsschutzgarantie
Normen: AufenthG § 10 Abs. 3, AufenthG § 25 Abs. 5, AsylVfG § 30 Abs. 1, AsylVfG § 30 Abs. 3, AuslG 1990 § 30 Abs. 5, VwVfG § 51, VwGO § 137 Abs. 2, GG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

[...]

1. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts steht der Erteilung der vom Kläger begehrten Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht entgegen. Nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, oder der seinen Asylantrag zurückgenommen hat, vor der Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Abschnitts 5 erteilt werden. Gemäß Satz 2 der Vorschrift darf, sofern der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 des Asylverfahrensgesetzes abgelehnt wurde, vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Diese Bestimmung verbietet also - vorbehaltlich der in Satz 3 geregelten Ausnahmen - auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 5 (Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen). Diese vor der Ausreise geltende strikte Titelerteilungssperre in Fällen, in denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - den Asylantrag als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt hat, ist erst mit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes am 1. Januar 2005 eingeführt worden. Sie stellt eine erhebliche Verschärfung gegenüber der früheren Rechtslage nach dem Ausländergesetz 1990 dar, das in § 30 Abs. 5 AuslG nur eine dem § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entsprechende Regelung enthielt und eine besondere aufenthaltsrechtliche Sanktion im Falle einer Ablehnung des Asylantrags nach § 30 Abs. 3 AsylVfG nicht kannte.

Das Berufungsurteil beruht auf zwei Annahmen zur Anwendung von § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, die beide nicht mit Bundesrecht vereinbar sind. Es geht zunächst zu Unrecht davon aus, dass die Vorschrift auch auf Altfälle wie den des Klägers anwendbar ist, in denen die Ablehnung des Asylantrags nach § 30 Abs. 3 AsylVfG bereits vor Inkrafttreten des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG am 1. Januar 2005 bestandskräftig geworden ist (a). Außerdem nimmt es zu Unrecht an, dass im Falle des Klägers der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde und damit die tatbestandliche Voraussetzung für das Eingreifen der Sperre nach dieser Vorschrift vorliegt (b).

a) Der Senat hat in seinem Urteil vom 16. Dezember 2008 - BVerwG 1 C 37.07 - (Buchholz 402.242 § 10 AufenthG Nr. 2, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen, <Rn. 13>) entschieden, dass § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auch bei vor seinem Inkrafttreten erlassenen, auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützten Bescheiden des Bundesamts eingreift, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestandskräftig waren. Er hat dies aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Übergangsvorschrift sowie aus dem Willen des Gesetzgebers hergeleitet, die aufenthaltsrechtliche Sanktionierung eines Missbrauchs im Asylverfahren möglichst rasch und damit effektiv zu verwirklichen.

Ferner hat er ausgeführt, dass es sich bei der Anwendung der Vorschrift auf diese Altfälle lediglich um eine tatbestandliche Rückanknüpfung - und nicht um eine sogenannte echte Rückwirkung - handele und schutzwürdiges Vertrauen der Betroffenen dadurch nicht verletzt werde. Der Senat hat die Anwendbarkeit der Regelung jedoch ausdrücklich nur für den - seinerzeit zu entscheidenden - Fall bejaht, in dem der Asylantrag am 1. Januar 2005 noch nicht bestandskräftig nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt war. Er hat hierzu ausgeführt, dass insoweit auch im Hinblick auf Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) keine Bedenken bestünden, weil der Betroffene in diesem Fall noch die Möglichkeit gehabt habe, die gerichtliche Überprüfung und ggf. die Aufhebung eines auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützten Offensichtlichkeitsausspruchs des Bundesamts zu erreichen. Denn für einen derartigen isolierten Anfechtungsantrag besteht seit Einführung der Titelerteilungssperre durch § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. Urteil vom 21. November 2006 - BVerwG 1 C 10.06 - BVerwGE 127, 161 <Rn. 21 f.>). Die in dem Urteil vom 16. Dezember 2008 noch offen gelassene Frage, was bei bereits zuvor bestandskräftig gewordenen Bescheiden des Bundesamts gilt, entscheidet der Senat nunmehr dahingehend, dass die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auf Fälle, in denen die auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützten asylrechtlichen Bescheide am 1. Januar 2005 bereits bestandskräftig waren, nicht anwendbar ist. Denn eine derartig einschneidende Rechtsfolge, wie sie § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG mit einer zeitlich unbegrenzten Titelerteilungssperre vor der Ausreise vorsieht, erscheint im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG nur dann gerechtfertigt, wenn der Betroffene auch die Möglichkeit hat, einen unzutreffenden Offensichtlichkeitsausspruch des Bundesamts nach § 30 Abs. 3 AsylVfG gerichtlich überprüfen zu lassen (vgl. auch Discher, in: GK-AufenthG, Stand: Oktober 2005, § 10 AufenthG Rn. 194). Dies war bei vor dem 1. Januar 2005 bestandskräftig gewordenen Ablehnungsbescheiden des Bundesamts jedoch nicht der Fall, weil es an einem Rechtschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage gegen den Offensichtlichkeitsausspruch nach § 30 Abs. 3 AsylVfG fehlte.

Den Betroffenen steht auch kein geeignetes Mittel zur Verfügung, diesen qualifizierten Offensichtlichkeitsausspruch nunmehr trotz Bestandskraft des Bundesamtsbescheides nachträglich gerichtlich überprüfen zu lassen. Der zum Teil in Erwägung gezogene Weg über ein Wiederaufgreifen des asylrechtlichen Verfahrens vor dem Bundesamt nach § 51 VwVfG (vgl. Wenger, in: Storr u.a., Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2008, § 10 Rn. 7) bietet insofern keine ausreichende Alternative. Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im engeren Sinne nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG scheidet schon deshalb aus, weil sich die dem Offensichtlichkeitsausspruch des Bundesamts zugrunde liegende Sach- und Rechtslage durch die Einführung von § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht nachträglich geändert hat. Ob der Betroffene über ein im Ermessen des Bundesamts stehendes Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG und einen entsprechenden Zweitbescheid das Ziel einer gerichtlichen Überprüfung erreichen könnte (VG Oldenburg, Urteil vom 27. Mai 2009 - 11 A 3408/07 - juris <Rn. 23>), erscheint ebenfalls zweifelhaft. Auch wenn ein solcher, auf den qualifizierten Offensichtlichkeitsausspruch bezogener Wiederaufgreifensantrag nicht den Einschränkungen des § 71 AsylVfG unterliegen sollte, liegt es nicht auf der Hand, dass das Ermessen des Bundesamts in jedem Fall dahingehend reduziert ist, trotz Bestandskraft des Bescheides und unveränderter Sach- und Rechtslage einen Zweitbescheid zu erlassen und damit eine gerichtliche Sachprüfung des Offensichtlichkeitsausspruchs zu eröffnen. Insgesamt ist das Wiederaufgreifen des asylrechtlichen Verfahrens daher kein geeignetes Mittel, den bis zum 1. Januar 2005 fehlenden gerichtlichen Rechtsschutz gegen den Offensichtlichkeitsausspruch gemäß § 30 Abs. 3 AsylVfG im Ausgangsbescheid zu ersetzen. Auch der vereinzelt vorgeschlagene Weg, in derartigen Altfällen ausnahmsweise der Ausländerbehörde die Befugnis zu einer inhaltlichen Überprüfung des Offensichtlichkeitsausspruchs im Bescheid des Bundesamts einzuräumen (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 12. März 2009 - 15 K 3368/07 - juris <Rn. 31>), ist nicht gangbar. Eine solche Prüfungsbefugnis der Ausländerbehörde widerspräche sowohl dem Wortlaut der Vorschrift als auch der gesetzgeberischen Konzeption. Denn der Gesetzgeber hat die Rechtsfolge der Titelerteilungssperre bewusst an den formalen Offensichtlichkeitsausspruch des Bundesamts in dem Ablehnungsbescheid geknüpft und nicht, wie noch im Referentenentwurf vorgesehen, materiellrechtlich an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 AsylVfG, das zu einer inzidenten Prüfung dieser Voraussetzungen durch die Ausländerbehörde geführt hätte (vgl. hierzu auch Urteil des Senats vom 16. Dezember 2008 - BVerwG 1 C 37.07 - a.a.O. <Rn. 15> unter Hinweis auf Wenger, in: Storr u.a., a.a.O. § 10 Rn. 7).

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber, sofern er die Problematik der fehlenden Rechtsschutzmöglichkeit in bestandskräftig abgeschlossenen Altfällen erkannt hätte, diese Fälle mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG von der neu eingeführten Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ausgenommen hätte. Diese einschränkende Auslegung für Übergangsfälle führt auch angesichts des mit der Vorschrift verfolgten Zwecks der Bekämpfung des Asylmissbrauchs nicht zu unangemessenen Ergebnissen. Denn der Schwerpunkt der Zielrichtung der aufenthaltsrechtlichen Sanktion für eine missbräuchliche Asylantragstellung liegt, wie auch die neu eingeführte Hinweispflicht in § 14 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG zeigt, in der Vermeidung künftiger Missbrauchsfälle. Wenn es aus Gründen der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes in bestandskräftig abgeschlossenen Altfällen bei der bisherigen aufenthaltsrechtlichen Lage verbleibt, erscheint dies bei Abwägung der schutzwürdigen privaten und öffentlichen Belange hinnehmbar.

Da der den Asylantrag des Klägers ablehnende Bescheid des Bundesamts bereits am 5. November 2003 bestandskräftig geworden ist, entfaltet er keine Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zum Nachteil des Klägers.

b) Unabhängig davon liegen auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Falle des Klägers nicht vor, weil sich dem Ablehnungsbescheid des Bundesamts vom 24. Februar 2003 nicht entnehmen lässt, dass der Asylantrag des Klägers nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt worden ist. Die gegenteilige Auffassung des Berufungsgerichts hält einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht stand. [...]

bb) Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 AsylVfG setzt voraus, dass sich aus dem Bescheid des Bundesamts für den Betroffenen eindeutig ergibt, dass der Offensichtlichkeitsausspruch gerade auf diese Vorschrift gestützt wird. Die bloße Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet reicht hierfür nicht aus, weil das Gesetz nicht nur in den Fällen des § 30 Abs. 3 AsylVfG, sondern auch in anderen Fällen eine derartige Ablehnung vorsieht. So ist nach § 30 Abs. 1 AsylVfG ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter oder für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen, was in Absatz 2 der Vorschrift beispielhaft erläutert wird. Bei Vorliegen von Ausschlussgründen nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder § 3 Abs. 2 AsylVfG schreibt § 30 Abs. 4 AsylVfG ebenfalls die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet vor. Für eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 AsylVfG ist es deshalb in der Regel erforderlich, dass die Vorschrift, wenn schon nicht im Tenor, so doch zumindest in der Begründung des Bescheides ausdrücklich genannt wird. Angesichts der gravierenden Rechtsfolgen, die § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG an eine solche qualifizierte Ablehnung knüpft und die nur durch Einlegung von Rechtsmitteln gegen diese Ablehnung vermieden werden können, ist es ein Gebot der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, dass die Rechtsgrundlage für den Offensichtlichkeitsausspruch für den Betroffenen insoweit eindeutig und klar erkennbar ist. Dies ist auch mit Blick auf die Ausländerbehörde geboten, die nach der gesetzlichen Konzeption im aufenthaltsrechtlichen Verfahren an den Bescheid des Bundesamts gebunden ist und ihm ohne eigene inhaltliche Prüfung eindeutig entnehmen können muss, dass der Offensichtlichkeitsausspruch auf einen der Missbrauchstatbestände des § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützt wurde. [...]