LG Hamburg

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Zitieren als:
LG Hamburg, Beschluss vom 19.07.2010 - 621 Qs 40/10 - asyl.net: M17310
https://www.asyl.net/rsdb/M17310
Leitsatz:

Das Ausländerstrafrecht gehört wegen der Abhängigkeit vom Verwaltungsrecht zu den für den Laien ohne Rechtsbeistand schwer zu erfassenden Rechtsmaterien. Hinzu kommt hier die rechtlich schwierige Bewertung, welche Rolle die Existenz leiblicher versorgungsbedürftiger Kinder für die Strafbarkeit eines illegalen Aufenthalts spielt. In Rede könnte ein übergesetzlicher Strafausschließungsgrund (Art. 6 GG) stehen.

Schlagwörter: Ausländerstrafrecht, Pflichtverteidigung, Beiordnung, Beschwerdeverfahren, übergesetzlicher Strafausschließungsgrund, ortsansässiger Rechtsanwalt, familiäre Beistandsgemeinschaft
Normen: StPO § 140 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 92 Abs. 1 S. 2, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Die Beiordnung eines Verteidigers ist wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage gemäß § 140 Abs. 2 S. 1 StPO geboten.

Der Angeklagte ... ist vietnamesischer Staatsangehöriger. Ihm wird in dem zugrundeliegenden Verfahren mit Anklage vom 30.3.2010 vorgeworfen, sich gemäß § 95 Abs.1 Nr.2 Aufenthaltsgesetz strafbar gemacht zu haben, indem er sich nach Ablauf seiner Duldung am 6.7.2006 bis zu einer Neuerteilung am 23.11.2009 ohne Pass und ohne ausländerrechtlichen Titel in der Bundesrepublik Deutschland aufhielt.

Der Angeklagte ist des Deutschen nach Aktenlage kaum mächtig. Zwar ist einem Angeklagten nicht allein deshalb ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil er die deutsche Sprache nicht beherrscht. Diese Schwierigkeiten wären zumutbar durch einen Dolmetscher zu überwinden. Allerdings können sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten dazu führen, dass die Bestellung eines Verteidigers unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage gemäß § 140 Abs. 2 S. 1 StPO eher geboten sein kann, als bei einem deutschsprachigen Angeklagten (BVerfGE 64, 135 m.w.N.).

Das ist hier der Fall. Die Komplexität der Rechtslage beruht auf dem Zusammenspiel zwischen Verwaltungs-, Verfassungs- und Strafrecht. Der Angeklagte ist nach Aktenlage bereits im Jahre 2004 ohne Visum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Nachdem sein Asylantrag abgelehnt worden war, soll er zunächst Duldungen mit Aufenthaltsbeschränkung Hamburg erhalten haben, wobei die letzte Duldung das Ablaufdatum 6.7.2006 trug. Der Angeklagte, dem die Abschiebung drohte, hielt sich seinen Angaben im Ermittlungsverfahren nach zunächst weiterhin ohne Aufenthaltstitel in Hamburg und anschließend an verschiedenen Orten im Bundesgebiet auf. Nebenbei soll er ab ca. 2008 auch Besuchskontakt zu seiner in Wilhelmshaven lebenden Freundin gehalten haben. Diese soll inzwischen Mutter von 2 gemeinsamen Kindern sein, wobei das Ältere bereits im April 2006 geboren wurde. In Wilhelmshaven hielt er sich auch auf, als er im Oktober 2009 von der Polizei angetroffen wurde.

Das Ausländerstrafrecht gehört wegen der Abhängigkeit der Strafbarkeit von den verwaltungsrechtlichen Regelungen ohnehin zu den für den Laien ohne Rechtsbeistand schwierig zu erfassenden Rechtsmaterien. Gleichwohl wird nicht zwangsläufig die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein. In dem vorliegenden Fall wird jedoch über die Standardsituation eines Ausländers ohne Aufenthaltstitel hinaus zu bewerten sein, welche Rolle die Existenz leiblicher, versorgungsbedürftiger Kinder für die Strafbarkeit des Verhaltens des Angeklagten spielt. In Rede könnte ein übergesetzlicher Strafausschließungsgrund aus Art. 6 Abs. 2 Nr.1 GG stehen (dazu LG Hamburg vom 29.7.2009, 704 Ns 66/09, zitiert aus Juris). Möglicherweise wird in diesem Zusammenhang die Sachfrage geklärt werden müssen, inwieweit sich der Angeklagte familiären Pflichten in dem fraglichen Zeitraum zur Verfügung gestellt hat. Es ist zu besorgen, dass der Angeklagte bei seiner Verteidigung diese komplexen Bezüge der Sachfragen auf die rechtliche Bewertung nicht allein mit Hilfe eines Dolmetschers wird erkennen können. Die Voraussetzungen der Beiordnung sind nach dem Maßstab des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO demzufolge gegeben.

Es bestehen auch keine durchgreifenden Bedenken gegen die beantragte Beiordnung des in Münster wohnhaften Rechtsanwalts Michalke. Zwar ist grundsätzlich der Frage der entstehenden Kosten durch die Beiordnung eines ortsansässigen Verteidigers Rechnung zu tragen. Anderes gilt, wenn die Zuziehung des nicht am Prozessort wohnenden Anwalts notwendig ist, etwa wenn der auswärtige Verteidiger über spezielle Rechtskenntnisse verfügt oder es sich sonst um eine Maßnahme zweckentsprechender Rechtsverfolgung handelt. Der Angeklagte hat den Rechtsanwalt Michalke, der nach eigenen Angaben schwerpunktmäßig im Ausländerrecht tätig ist, bereits im Oktober 2009 im Verwaltungsverfahren zu Rate gezogen. Rechtsanwalt Michalke beantragte für ihn am 26.10.2009 eine neue Aufenthaltserlaubnis bei der Freien und Hansestadt Hamburg - Behörde für Inneres -. Seither ist der Anwalt im ausländerrechtlichen Verwaltungsverfahren wie auch in dem anhängigen Strafverfahren für den Angeklagten tätig. Die Beiordnung dieses mit der Sache schon weitgehend befassten Rechtsanwaltes erscheint bei Würdigung der Gesamtumstände sinnvoll und dem Verfahren förderlich. Er legte für den Fall der Beiordnung sein Wahlmandat nieder.