OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 14.10.2010 - 8 PA 234/10 - asyl.net: M17899
https://www.asyl.net/rsdb/M17899
Leitsatz:

1. Die Ersatzzustellung ist voraussichtlich unwirksam, da der Kläger untergetaucht war und keine Wohnung im Sinne des § 180 ZPO mehr hatte (§ 1 Abs. 1 NVwZG, § 3 Abs. 2 Satz 1 VwVZG).

2. Es fehlt aber am Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, da der Kläger die Personensorge für das deutsche Kind nicht in einer den Anforderungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG genügenden Weise ausübt.

Schlagwörter: Zustellung, Ersatzzustellung, Zustellungsmangel, Klagefrist, Prozesskostenhilfe, Wohnung, Haft, Untertauchen, Niederlande, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, deutsches Kind, Umgangsrecht, Schutz von Ehe und Familie, Besuchsrecht, Eltern-Kind-Verhältnis, Achtung des Privatlebens, Entwurzelung, Straftat, Freiheitsstrafe
Normen: NVwZG § 1 Abs. 1, VwVZG § 3 Abs. 2 S. 1, ZPO § 180, BGB § 7, ZPO § 178 Abs. 1 Nr. 1, VwGO § 74, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, GG Art. 6, AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 28 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

1. Entgegen der Auffassungen des Beklagten und des Verwaltungsgerichts in der angefochtenen Entscheidung wahrt die am 30. Juni 2010 gegen den Bescheid vom 2. März 2010 erhobene Klage voraussichtlich die Klagefrist des § 74 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 VwGO. Nach dieser Bestimmung muss die Verpflichtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des den Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts ablehnenden Bescheides erhoben werden.

Hier ist der den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ablehnende Bescheid vom 2. März 2010 dem Kläger nicht schon am 5. März 2010 im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen in den zur Wohnung in B., C., gehörenden Briefkasten nach § 1 Abs. 1 NVwZG, § 3 Abs. 2 Satz 1 VwVZG i.V.m. § 180 ZPO bekanntgegeben worden. Denn diese Ersatzzustellung ist voraussichtlich unwirksam, da der Kläger am 5. März 2010 in B., C., keine Wohnung im Sinne des § 180 ZPO mehr gehabt hat.

Für den Begriff der "Wohnung" im Sinne des § 180 ZPO kommt es auf das tatsächliche Wohnen an. Unerheblich ist hingegen, ob sich in den Räumlichkeiten auch der Wohnsitz des Adressaten im Sinne des § 7 BGB befindet oder ob der Adressat in dieser Wohnung polizeilich gemeldet ist. Hat der Zustellungsempfänger Räume in dieser Weise benutzt, so hebt nicht jede vorübergehende Abwesenheit, selbst wenn sie länger dauert, die Eigenschaft als Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschriften auf. Diese Eigenschaft geht vielmehr erst dann verloren, wenn sich während der Abwesenheit des Zustellungsempfängers auch der räumliche Mittelpunkt seines Lebens an den neuen Aufenthaltsort verlagert. Dies ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, wobei der Zweck der Zustellungsvorschriften, dem Empfänger das rechtliche Gehör zu gewähren, zu berücksichtigen ist. Geeignete Gesichtspunkte für diese Prüfung können die Dauer der Abwesenheit, der Kontakt zu den in der Wohnung Verbliebenen, die Absicht und die Möglichkeit der Rückkehr sein (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.3.1999 - 2 BvR 348/99 -, juris Rn. 5; BVerwG, Beschl. v. 4.7.1983 - 9 B 10275/83 -, Buchholz 340 § 3 VwZG Nr. 9; BGH, Urt. v. 24.11.1977 - II ZR 1/76 -, NJW 1978, 1858; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 15.10.2007 - 1 L 193/07 -, NordÖR 2007, 491, 492; Zöller, ZPO, 24. Aufl., § 178 Rn. 2 ff.).

Hier hat der Kläger zusammen mit seinen Kindern, D., E. und F. G., jedenfalls bis Oktober 2009 in der C. in B. tatsächlich gewohnt, dort seinen Lebensmittelpunkt und folglich eine Wohnung im Sinne des § 180 ZPO innegehabt. Vor dem Hintergrund des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung und des damit bevorstehenden mehrjährigen Gefängnisaufenthalts hat der Kläger indes unter dem 1. Oktober 2009 seinen in B. lebenden Eltern die Vollmacht erteilt, sämtliche erzieherischen, ärztlichen und schulischen Interessen seiner Kinder wahrzunehmen. Zugleich haben der Vater des Klägers und der Vermieter der Wohnung in B., C., eine Vereinbarung geschlossen, wonach das Mietverhältnis während der Haftzeit des Klägers mit dessen Vater zu gleichen Bedingungen fortgeführt wird. Ablichtungen sowohl der Vollmachtsurkunde als auch der Vereinbarung über das Mietverhältnis sind am 25. November 2009 zu den Verwaltungsvorgängen des Beklagten gelangt. Tatsächlich ist der Kläger angesichts des bevorstehenden Gefängnisaufenthalts offenbar im November 2009 untergetaucht und hat sich in der Folge bis zum März 2010 in den Niederlanden aufgehalten, wo er am 18. März 2010 festgenommen worden ist. Die eidesstattlichen Versicherungen der Eltern des Klägers vom 13. August 2010 belegen jedenfalls für das Prozesskostenhilfeverfahren hinreichend glaubhaft, dass der Kläger ab Anfang Oktober 2009 sich in der Wohnung in B., C., nicht mehr aufgehalten hat und dort folglich auch keinen Lebensmittelpunkt mehr hatte. Damit fehlt es seit diesem Zeitpunkt an einer Wohnung im Sinne des § 180 ZPO. Ob sich unter Umständen dann etwas anderes ergibt, wenn erwachsene Familienangehörige des Zustellungsempfängers im Sinne des § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO weiterhin in der Wohnung leben und der Zustellungsempfänger regelmäßigen Kontakt zu diesen hat, also sichergestellt ist, dass er von Zustellungen benachrichtigt wird, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn in der Wohnung in B., C., lebten offenbar nur die minderjährigen Kinder des Klägers, die von dessen in einer anderen Wohnung in B. lebendem Vater und dem Jugendamt betreut worden sind. Abgesehen davon, dass der Vater des Klägers also selbst nicht in der Wohnung in B., C., gewohnt hat, bestehen auch keine Anhaltspunkte für einen regelmäßigen Kontakt zwischen diesem und dem Kläger.

Der angefochtene Bescheid vom 2. März 2010 wurde dem Kläger daher nicht schon am 5. März 2010 zugestellt, sondern frühestens nach seiner Inhaftierung am 1. Juni 2010 aufgrund des Schreibens des Beklagten vom 15. Juni 2010 bekanntgegeben. Die am 30. Juni 2010 erhobene Klage wahrt daher die Klagefrist des § 74 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 VwGO. [...]