VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 08.09.2011 - 2 A 16/10 - asyl.net: M19017
https://www.asyl.net/rsdb/M19017
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für Tschetschenen wegen Gefahr der Retraumatisierung (PTBS, Depression).

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Russische Föderation, Tschetschenen, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Retraumatisierung, Sachverständigengutachten, Glaubhaftmachung, Glaubwürdigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denn ihm würden im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkrete Gefahren für seine Gesundheit und sein Leben drohen. [...]

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall im Hinblick auf eine Rückkehr des Klägers in die Russische Föderation erfüllt. Das Gericht hat keinen Anlass, die Richtigkeit der durch den Sachverständigen im Hinblick auf den Kläger gestellten Diagnose (PTBS sowie eine mittelschwere Depression) in Zweifel zu ziehen. Diesbezüglich hat auch die Beklagte keine Einwendungen erhoben. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der Kläger im Laufe der Zeit unterschiedliche Schilderungen zu seinem Verfolgungsschicksal abgegeben hat. Der Gutachter, dem der gesamte Akteninhalt und damit auch die unterschiedlichen Darstellungen bekannt gewesen sind, hat zur Frage der Besonderheiten, die sich bei der Sachverhaltsschilderung durch traumatisierte Personen ergeben können, Folgendes ausgeführt (S. 32 f. des Gutachtens, Bl. 84 der GA): [...]

Diese Ausführungen erklären in nachvollziehbarer und überzeugender Weise, warum der Kläger zu früherer Zeit nicht klar, detailliert und widerspruchsfrei über die Ereignisse in seinem Heimatland berichtet hat bzw. hat berichten können. Der Gutachter stellt ausdrücklich klar, dass sich hieraus ein Hinweis auf die Unglaubwürdigkeit des Klägers nicht ergibt.

Entgegen der Auffassung der Beklagten würde der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Heimatland auch in kürzester Zeit in eine ausweglose und lebensbedrohliche Situation geraten. Denn nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Gutachters wäre der Kläger im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation von einer Retraumatisierung bedroht, die seinen körperlichen Zustand erheblich verschlechtern würde. Der Sachverständige führt hierzu aus (S. 46 ff. des Gutachtens, Bl. 98 ff. der GA): [...]

Aus diesen Ausführungen ergibt sich auch, dass die dem Kläger im Fall seiner Rückführung in die Russische Föderation drohende Gefahr ihre Ursache im Wesentlichen in den Verhältnissen im Heimatland hätte und sich dort auswirken würde. Sie wäre daher zielstaatsbezogen und ist im Asylverfahren zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383). Zwar spricht einiges dafür, dass der Sachverständige nicht ausschließt, dass eine Verschlechterung der Situation des Klägers bereits durch den Akt der Abschiebung selbst eintreten kann (vgl. S. 43 f. des Gutachtens, Bl. 95 f. der GA). Das Vorliegen auch eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses ändert jedoch nichts daran, dass der Schwerpunkt der Gefährdung des Klägers nach den auch insoweit deutlichen Ausführungen des Sachverständigen erst in seiner Situation nach der Rückkehr in sein Heimatland liegt. Der Kläger muss sich im Rahmen des hier geführten asylrechtlichen Verfahrens nicht auf ein gegen die Ausländerbehörde zu richtendes Verfahren verweisen lassen, wenn neben inlandsbezogenen auch und im Schwerpunkt zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zu bejahen sind.

Angesichts dieser Sachlage kommt es für den Erfolg der Klage nicht mehr darauf an, ob die Erkrankung des Klägers in der Russischen Föderation grundsätzlich angemessen behandelt werden kann.

Im Ergebnis hätte das Bundesamt das Verfahren im Hinblick auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufgreifen müssen. Zugleich ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass der Kläger einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines derartigen Abschiebungshindernisses hat. Der entgegenstehende Bescheid des Bundesamts ist daher aufzuheben und die Beklagte ist zu verpflichten, dem Kläger Abschiebungsschutz zu gewähren. [...]