OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 26.01.2012 - 11 LB 97/11 - asyl.net: M19413
https://www.asyl.net/rsdb/m19413
Leitsatz:

1. Unionsrechtlicher Schutz nach § 60 Abs. 2,3 oder 7 Satz 2 AufenthG ist herkunftslandbezogen, nationaler Schutz (nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) ist zielstaatsbezogen zu prüfen.

2. Herkunftsstaat eines aus dem Gazastreifen stammenden Palästinensers ist (gegenwärtig) das palästinensische Autonomiegebiet.

3. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 2 AufenthG sind für Palästinenser aus dem Gazastreifen nicht gegeben.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Palästinenser, Gaza-Streifen, Gaza, internatiionaler Konflikt, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Gefahrendichte, Unionsrecht, Abschiebungsschutz, subsidiärer Schutz, Hamas, al Fatah, Israel
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 7 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet, da das Verwaltungsgericht der Verpflichtungsklage zu Unrecht stattgegeben hat.

Streitgegenstand im typischen asylrechtlichen Verfahren ist - soweit vorliegend im zweiten Rechtszug noch streitig - vorrangig die Gewährung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG und hilfsweise die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG; insoweit, d.h. hinsichtlich der zuvor umschriebenen Abschiebungsverbote, handelt es sich jeweils um einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - , juris, mit Anm. von Berlit, jurisPR-BVerwG 1/2012). Weiterhin ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat insoweit folgt, geklärt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vormals nach § 51 Abs. 1 AuslG) nicht hinsichtlich einzelner Staaten teilbar ist, anderes hingegen für die Gewährung subsidiären nationalen Abschiebungsschutzes nach vormals § 53 AuslG gilt, über den isoliert bezogen auf einen einzelnen Abschiebezielstaat entschieden werden kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.6.2010 - 10 B 8.10 -, juris, Rn. 5; Urt. v. 12.4.2005 - 1 C 4.04 -, juris, Rn. 12). Daraus folgt für die vorliegende aktuelle Rechtslage, dass über die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes (jedenfalls) auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG, die an die Stelle der vormals entsprechenden Bestimmungen des § 53 AuslG getreten sind, auch jeweils einzelstaatsbezogen entschieden werden kann (so wohl nunmehr auch BVerwG, Urt. v. 29.9.2011 - 10 C 23.10 -, juris, Rn. 10, 19), wobei dann der maßgebende Staat bzw. das betroffene Hoheitsgebiet zunächst vom Kläger des Verpflichtungsbegehrens zu bezeichnen ist.

Für die Gewährung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes auf der Grundlage der § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG gilt dies hingegen nicht. Denn diese Bestimmungen sind in Übereinstimmung mit der zu Grunde liegenden Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 - die Umsetzungsfrist für die Neufassung dieser Richtlinie durch die Richtlinie 2011/95/EU ist noch nicht abgelaufen - auszulegen (vgl. § 60 Abs. 11 AufenthG). Nach Art. 18 der Richtlinie 2004/83/EG (= Qualifikationsrichtlinie) erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und V erfüllt, den subsidiären Schutzstatus zu. Kapitel II enthält die "vor die Klammer gezogenen", gemeinsamen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes i. S .d. Qualifikationsrichtlinie, die sowohl für die Flüchtlingsanerkennung (nach § 60 Abs. 1 AufenthG) als auch die Gewährung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG gelten. Einheitlicher Bezugspunkt für die Beurteilung der Schutzbedürftigkeit ist danach das Herkunftsland im Sinne des Art. 2 k Qualifikationsrichtlinie, d.h. das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder - bei Staatenlosen - des früheren gewöhnlichen Aufenthalts (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 2.8.2007 - 10 C 13.07 - juris, Rn. 9: "Der Anspruch auf subsidiären Schutz nach Art. 15 ff. der Richtlinie 2004/83/EG setzt die Gefahr eines ernsthaften Schadens im Herkunftsland, d.h. im Staat oder in den Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen [vgl. Art. 2 Buchst. e und k der Richtlinie] voraus", sowie Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198 ff., juris, Rn. 11:" die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG bilden einen eigenständigen, vorrangig vor den sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfenden Streitgegenstand bzw. einen abtrennbaren Streitgegenstandsteil"; vgl. nunmehr aber auch Urt. v. 8.9.2011 - 10 C 18.10 -, juris, Rn. 16: "Nach der Rechtsprechung des Senats handelt es sich insoweit um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand, der eigenständig und vorrangig vor den sonstigen zielstaatsbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten zu prüfen ist"). [...]

Soweit demnach im Berufungsverfahren über die Gewährung subsidiären Schutzes zu entscheiden ist, besteht hieran jeweils auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Denn ein solches besteht im Hinblick auf die Folgen für den aufenthaltsrechtlichen Status des betroffenen Ausländers nach § 25 Abs. 3 oder 5 AufenthG grundsätzlich auch dann, wenn dem Ausländer - wie hier ggf. dem Kläger - eine Ausreise in den maßgeblichen Herkunfts- oder Zielstaat gegenwärtig und auf absehbare Zeit unmöglich ist, es sei denn, ihm steht eine zumutbare Ausreisemöglichkeit in einen Drittstaat zur Verfügung (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.8.2007 - 10 C 13.07 -, a. a. O, Rn. 13); die letztgenannte Möglichkeit besteht für den Kläger (etwa nach Israel oder in die Ukraine) gerade nicht. [...]

a) Hinsichtlich dieses palästinensischen Autonomiegebiets besteht zu dem nach § 77 AsylVfG maßgeblichen aktuellen Zeitpunkt weder flächendeckend noch im Gazastreifen - sollte man entgegen der zuvor vertretenen Ansicht allein auf ihn abstellen - für den Kläger die konkrete Gefahr, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden, § 60 Abs. 2 AufenthG.

b) Ebenso wenig wird der Kläger in dem o. a. Teil- oder im gesamten Autonomiegebiet wegen (der Begehung) einer mit der Todesstrafe bedrohten Straftat gesucht, § 60 Abs. 3 AufenthG.

c) Schließlich sind auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht gegeben.

§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG setzt - wie die dadurch umgesetzte Vorschrift des Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie - einen internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt voraus (zum Folgenden: BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O., Rn. 19, 22 ff.). [...]

Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht in den palästinensischen Autonomiegebieten jedenfalls gegenwärtig und auf absehbare Zukunft nicht. Die insoweit vorrangig in Betracht kommenden Auseinandersetzungen zwischen der den Gazastreifen dominierenden Hamas sowie der Fatah sind jedenfalls im Gazastreifen nach Abschluss des Versöhnungsabkommens (vgl. dazu etwa, FR v. 14.5.2011, SZ v. 29.4.2011, ICG v. 20.7.2011 sowie "Die Zeit (online)" v. 25.11.2011) weitgehend eingestellt; einzelne Auseinandersetzungen insoweit und/oder etwa mit anderen militanten Splittergruppen finden allenfalls ganz vereinzelt statt, erreichen die erforderliche Größenordnung aber nicht annähernd. Nachdem es seit der de-facto Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen von 2007 bis Mitte 2009 durch innerpalästinensische Konflikte zu 360 Toten insbesondere gegenüber Anhängern der Fatah, aber nachfolgend auch bei Übergriffen gegen Menschenrechtsaktivisten und islamische Extremisten gekommen war, ging nämlich danach mit der zunehmenden Etablierung der Hamas eine Beruhigung der internen Sicherheitslage einher (UK Home Office, Lagebericht v. 2.12.2010, Ziffer 8.10.). Für das Jahr 2011 bis November einschließlich weist demnach etwa die Übersicht der Hilfsorganisation der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete (OCHAoPT) nur noch 27 (Todes-)Fälle auf Grund allgemeiner innerpalästinensischer Gewalt einschließlich von Familienstreitigkeiten und sog. "Ehrenmorden" im Gazastreifen aus. Angesichts der fortdauernden Annäherung zwischen Hamas und Fatah ist insoweit jedenfalls auch keine Verschlechterung der Lage absehbar.

bb) Ob die latent fortbestehenden, in ihrem Ausmaß schwankenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas als faktische Machthaber im Gazastreifen insbesondere auf Grund des periodischen Raketenbeschusses des israelischen Gebiets aus dem Gazastreifen und den daraufhin erfolgenden militärischen Reaktionen Israels die Anforderungen eines internationalen Konflikts im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (bzw. des Art. 15 c Qualifikationsrichtlinie/Art. 1 Nrn. 3 und 4 ZP I) erfüllen, kann offen bleiben.

Jedenfalls fehlt es an der zusätzlich erforderlichen Gefahrendichte.

(1) Dies gilt zunächst im Hinblick auf eine erstmals in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte berufsbedingte individuelle Gefahr für den Kläger.

Zwar kann sich eine von einem - hier unterstellten internationalen - bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell in der Person eines Ausländers verdichten und damit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfüllen, also für ihn eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellen. Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris, Rn 18, m.w.N., sowie v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - juris, Rn. 33). In jedem Fall setzt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr aber voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Schaden an den Rechtsgütern Leib oder Leben droht.

Hieran mangelt es vorliegend. Es lässt sich schon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, ob der Kläger, der den Gazastreifen 1996 unverfolgt verlassen hat und seitdem abgesehen von einem kurzfristigen Besuchsaufenthalt dorthin nicht mehr zurückgekehrt ist, bei einer dauerhaften Rückkehr in den Gazastreifen einer Berufstätigkeit und ggf. welcher nachgehen würde. So hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht selbst geltend gemacht, dass er im Gazastreifen nicht in seinem Beruf als "Medizintechniker" arbeiten könne. Warum dies nunmehr anders sein sollte, ist nicht zu erkennen und wird von ihm auch nicht konkret dargelegt. Unabhängig hiervon lässt sich aber auch eine besondere Gefahr für Medizintechniker bzw. in medizinischen Berufen tätige Personen nicht feststellen. Denn aus den in das Verfahren eingeführten und den ergänzend vom Kläger zitierten Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass in medizinischen Berufen tätige Personen oder allgemein medizinische Einrichtungen, in denen sie tätig sind, entgegen des ihnen nach dem humanitären Völkerrecht zustehenden Schutzes im Gazastreifen besonders häufig Gegenstand von Angriffen wären. So werden in dem vom Kläger selbst zitierten "Fast Facts"-Bericht der OCHAoPT vom Oktober 2011 zur humanitären Situation im Gazastreifen etwa die zugangsbeschränkten Grenzregionen des Gazastreifens als Hochrisikogebiet eingestuft, in dem es zu mehr als 60 % der Todesfälle gekommen ist (ebenso Human Rights Watch-Jahresbericht 2011), weder dort oder anderweitig aber eine Tätigkeit im medizinischen Bereich als besonders riskant herausgestellt.

(2) Fehlen daher individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers, so kann ausnahmsweise für ihn gleichwohl eine außergewöhnliche Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Dazu ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010 - a.a.O., Rn. 33, sowie Urt. v. 14.7.2009 - 10 C 9.08 -, juris, Leitsatz 1b). Zur Feststellung einer solchen Ausnahmesituation ist wiederum ebenso wie für die Folgen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits (vgl. ergänzend BVerwG, Beschl. v. 2.1.2012 - 10 B 43.11 -, juris, Rn. 4) und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Zahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich, die auch die medizinische Versorgungslage einschließt. Insoweit können auch die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (BVerwG, Urt. v. 27.4.2010 - a.a.O., Rn. 33, m.w.N.).

Soweit an diesen Vorgaben allgemein Kritik geübt wird (vgl. UNHCR, Endlich in Sicherheit?, 2011, S. 13 ff.), bezieht sich diese jedenfalls nicht auf die hier maßgeblichen Verhältnisse in den palästinensischen Autonomiegebieten. Die dortige Lage ist insbesondere auch durch die in das vorliegenden Verfahren eingeführten, laufend aktualisierten Angaben der dort tätigen Unterorganisationen der Vereinten Nationen, insbesondere der genannten OCHAoPT, sowie des "Palestinian Center for Human Rights" außerordentlich gut dokumentiert, umfasst etwa eine einzelfallbezogene Analyse von Todes- und Verletzungsfällen, so dass weder ein nennenswertes Dunkelzifferrisiko noch die Problematik besteht, nicht verlässlich zwischen der Gewaltanwendung gegenüber Kombattanten und Zivilisten unterscheiden zu können oder sog. Kollateralschäden einschließlich erheblicher psychischer Verletzungen in Folge des - unterstellten - bewaffneten Konflikts zu übersehen.

Da danach - wie folgend im Einzelnen dargelegt wird - die erforderliche Gefahrendichte im Gazastreifen als maßgebliche (vgl. zuletzt BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, a.a.O., Rn. 16, m.w.N.) Heimatregion des Klägers (und auch im übrigen Autonomiegebiet) nicht annähernd erreicht wird, greift auch die Kritik, dass eine generell exakte Bestimmung dieser Schwelle nicht möglich sei (vgl. nunmehr aber BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, a.a.O., Rn. 23 f.: ein Verhältnis von 1: 800 reicht nicht annähernd aus, sowie lediglich ergänzend das weitere, noch nicht in juris veröffentlichte Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 11.10 -, Rn. 20 f., zu einem Verhältnis von 1: 1.000), vorliegend nicht durch. Außerdem führte eine auf die erforderliche Quantifizierung der maßgeblichen Übergriffe verzichtende Betrachtungsweise insoweit nicht zu mehr, sondern zu weniger Rechtssicherheit.

Nach den aktuellsten dem Senat vorliegenden und in die mündliche Verhandlung eingeführten Zahlen (OCHAoPT- Humanitarian Monitor vom Dezember 2011, S. 10 ff.) sind bedingt durch den Konflikt zwischen Israel und Palästinensern im Gazastreifen in 2010 insgesamt 72 Todesfälle, davon (einschl. der Westbank) 35 Zivilisten zu verzeichnen gewesen; für das Jahr 2011 wird von 105 Todesfällen, davon 55 Zivilisten (einschließlich der Westbank) berichtet. Die Zahl der Verletzten betrug 2010 im Gazastreifen 286 einschließlich der Kombattanten, im Jahr 2011 insgesamt 478 (überwiegend Zivilisten). Hinzu tritt eine geringe Zahl - weniger als 10 jährlich - von Palästinensern, die durch zunächst nicht explodierte Kampfmittel getötet oder verletzt worden sind. Auf die gesondert ausgewiesene Zahl der insoweit, d. h. durch nicht explodierte Kampfmittel betroffenen Kinder kommt es angesichts des Alters des Klägers nicht an. Es ist nicht zu erkennen, dass bei der gebotenen Gesamtschau die Zahl der durch den - unterstellten - bewaffneten Konflikt verletzten oder getöteten Personen deshalb zu erhöhen wäre, weil es bedingt durch eine unzureichende medizinische Versorgungslage bei Opfern zu (vermeidbaren) dauerhaften Verletzungs- oder gar tödlichen Folgen käme. Eine gravierende Verschlechterung der Lage zeichnet sich nicht ab. Insbesondere ist nicht konkret abzusehen, dass israelische Truppen in einer Großoperation erneut - wie zuletzt vom Dezember 2008 bis Januar 2009 - den Gazastreifen angreifen oder ihn gar besetzen werden; dass eine solche Verschärfung der Lage nicht gänzlich auszuschließen ist, reicht hingegen nicht aus. Setzt man diese Zahlen ins Verhältnis zu der Gesamtbevölkerung von etwa 1,5 - 1,6 Millionen im Gazastreifen und berücksichtigt man weiterhin, dass die Gefahr, Opfer von israelischen (Gegen)Angriffen zu werden, außerhalb der unmittelbaren Grenznähe und militärisch genutzter Ziele angesichts der geringen Größe des Gazastreifens zwar nicht ausgeschlossen, aber doch geringer ist, so fehlt es bei einem Verhältnis von deutlich weniger als 0,1 % im Jahr auseinandersetzungsbedingt getöteten oder verletzten Zivilisten ersichtlich an der erforderlichen Dichte der willkürlichen Übergriffe für jeden dort Lebenden. Abweichende aktuelle Lagebeurteilungen durch andere deutsche (Ober-)Gerichte oder Gerichte in anderen Staaten der EU (vgl. stattdessen etwa (HS … Palestinian Territories CG (2011) UKUT 124 (IAC), Rn. 211, sowie die Übersicht zur Rechtsprechung in ausgewählten Ländern hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung und der subsidiären Schutzgewährung zu Gunsten von Palästinensern: BADIL Resource Center, Closing Protection Gaps: A Handbook on the Protection of Palestinian Refugees in States Signatories to the 1951 Refugee Convention, August 2011, S. 27 ff.) sind vom Kläger nicht benannt worden und dem Senat auch im Übrigen nicht bekannt.

Selbst wenn man aber entgegen der o. a. Ansicht auch sonstige mittelbar konfliktbedingte Nachteile für die Lebensverhältnisse im Gazastreifen bzw. in dem sonstigen Autonomiegebiet für beachtlich halten würde, so fehlt es doch insoweit an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Klägers als Teil der Gesamtbevölkerung. Denn jedenfalls durch die Unterstützung von Hilfsorganisationen sind die Grundbedürfnisse wie Ernährung und Unterkunftsversorgung sowie die medizinische Versorgung auf einem Niveau gesichert, das eine generelle Leibes- oder gar Lebensgefahr für die Bevölkerung ausschließt. Zur Begründung im Einzelnen wird insoweit auf die folgenden Ausführungen zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verwiesen. [...]

bb) Ebenso wenig sind die aufzeigten Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nach Art. 3 EMRK auf Grund der allgemeinen Verhältnisse im Gazastreifen gegeben. Schon aus den zuvor genannten Zahlen über die Toten und Verletzten in der Zivilbevölkerung sowie der Tatsache, dass es bedingt durch die bewaffneten Auseinandersetzungen in den letzten Jahren auch im Gazastreifen nicht zu massenhaften Vertreibungen außerhalb des unmittelbaren Grenzstreifens gekommen ist, folgt, dass es an der erforderlichen Gefahrendichte mangelt. In den Zahlen kommt zugleich zum Ausdruck, dass zwar im Einzelfall Opfer in der Zivilbevölkerung zu beklagen sind, es aber nicht generelle (völkerrechtswidrige) Praxis der israelischen Angriffe ist, flächendeckend und andauernd zivile Ziele im Gazastreifen anzugreifen. Ein solcher Schluss lässt sich schließlich auch den übrigen in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln nicht entnehmen.

b) aa) Abschiebungsschutz aus individuellen Gründen i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht für den Kläger nicht.

Zwar kann eine zu befürchtende Verschlimmerung der Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers ein solches Abschiebungshindernis darstellen. Denn die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, ist in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist in diesen Fällen, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.8.2011 - 10 B 13.11 -, juris, Rn. 3, m.w.N.).

Dass der Kläger an einer solchen Krankheit leidet, ist vorliegend aber nicht zu erkennen. Zwar hat er bei der Anhörung vor dem Bundesamt auf "Nervenprobleme" und "Anfälle", an denen er seit etwa 10 Jahren leide, und auf eine deshalb erfolgende Medikamenteneinnahme verwiesen. Er hat seine gesundheitlichen Probleme aber selbst nicht als schwerwiegend eingestuft und auch nachfolgend - das damalige Attest liegt der Akte nicht bei - keine weiteren Angaben zu seinem Gesundheitszustand gemacht. Da ihn insoweit eine entsprechende Obliegenheit trifft (vgl. §§ 15 Abs. 1 Satz 1, 25 Abs. 2, 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG, § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO), besteht keine weitere Amtsaufklärungspflicht des Senats (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 11.9.2007 - 10 C 8.07 -, juris, Rn. 15., m.w.N.). Dass der Kläger berufsbedingt keiner erhöhten individuellen Gefahr ausgesetzt ist, wurde bereits zuvor ausgeführt. [...]

Die militärischen Auseinandersetzungen mit Israel oder innerhalb verschiedener palästinensischer Gruppen stellen nach den vorherigen Ausführungen auch gemeinsam keine allgegenwärtige Gefahr für jeden Bewohner des Gazastreifens dar. Ebenso wenig ergibt sich eine solche Gefahr aus der, bedingt durch die israelische, sehr restriktiv gehandhabte Einfuhrkontrolle in den Gazastreifen, schwierigen Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und Energie. Dadurch ist trotz Steigerung des Inlandsprodukts um 28 % in der ersten Jahreshälfte 2011 und einer von 39 auf "nur" noch 26 % gesunkenen Arbeitslosenrate eine eigenständige Versorgung der Bevölkerung nicht sichergestellt und 75 % (Ziffer 51) der Bevölkerung auf humanitäre Unterstützung angewiesen (bzw. 80 % nach Angaben vom Amnesty im Jahresbericht 2011). Diese wird aber geleistet, etwa von der UNRWA, die 240.000 Arme, die über weniger als 1,60 USD täglich verfügen, mit 3/4 ihres täglichen Kalorienbedarfs, sowie über 400.000 weitere Personen, die über weniger als 4 USD täglich verfügen, mit Lieferungen versorgen, die 40 Prozent ihres täglichen Kalorienbedarfs decken. Zusätzlich erhalten 220.000 Kinder in den Schulen eine ergänzende Nahrungsversorgung (vgl. OCHAoPT, Humanitarian Monitor, Sept. 2011, S. 5), und auch im Übrigen wird insbesondere soziale Nothilfe geleistet, u. a. auch für Behinderte sowie zur Unterkunftssicherung. Der in dem palästinensischen Autonomiegebiet tätigen Hilfsorganisation der Vereinten Nationen (OCHAoPT) steht außerdem durch Unterstützung europäischer Staaten seit August 2007 noch ein besonderer Hilfsfonds zur Verfügung, aus dem sofort für unvorsehbare Notfälle finanzielle Unterstützung zur Sicherung des Lebens oder auch zur Sicherung von Vermögen erbracht wird. Wie sich aus dem Jahresbericht für 2010 sowie den aktuellen Monatsberichten für 2011 dieses "Humanitarian Response Fund" ergibt, wurden daraus etwa Notunterkünfte erstellt, Hilfsleistungen für die Landwirtschaft (z. B. Impfungen), Gesundheitsleistungen sowie Infrastrukturhilfen für Schulen erbracht, aber auch die Wasserversorgung unterstützt. So profitierten im Jahr 2011 mehr als 600.000 Bewohner des Gazastreifens von einer Förderung des Wasserversorgungssystems mit knapp einer Million €. Den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln lässt sich demnach nicht entnehmen, dass es im Gazastreifen Hungersnöte oder gar Hungertote oder Tote infolge unzureichender Unterkunft gibt. Vielmehr wird etwa in dem englischsprachigen Überblick "Occupied palestinian territory 2012, consolidated appeal" der wiederholt bezeichneten Hilfsorganisation der Vereinten Nationen (OCHAoPT) für 2011 trotz eingeschränkter finanzieller Mittel (vgl. Humanitarian Monitor, Dezember 2011, S. 14) weitgehend eine Verbesserung der humanitären Lage festgestellt (S. 5, 18 ff.) und dort auf Daten bereits aus dem Jahr 2009 über eine damalige Unterernährungsquote von "nur" 16 % der Bevölkerung bei einer seitdem auf 70, 8 Jahre für Männer und 73, 6 Jahre für Frauen gestiegenen allgemeinen Lebenserwartung verwiesen. Die schwierige medizinische Versorgungslage führt für den erwachsenen Kläger gleichfalls nicht zu einer extremen Gefahr bei einer Rückkehr; vielmehr hängt es vom Einzelfall ab, ob medizinische Hilfe in den (u. a.) privaten Krankenhäusern im Gazastreifen verfügbar ist oder dem Betroffenen zwecks notwendiger auswärtiger Versorgung durch israelische oder ägyptische Behörden die Ausreise gestattet wird.