VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2013 - A 12 S 561/13 - asyl.net: M21285
https://www.asyl.net/rsdb/M21285
Leitsatz:

1. Die Versäumung der in § 73 Abs. 2a Satz 1, Abs. 7 AsylVfG geregelten Prüfungsfrist hat nicht zur Folge, dass der nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gebundene Widerruf in eine Ermessensentscheidung umschlägt (wie BVerwG, Urt. v. 05.06.2012 - 10 C 4.11 -).

2. Zum Widerruf einer im Jahr 1999 erfolgten Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. zu Gunsten einer türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit ohne herausgehobene exilpolitische Betätigung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Exilpolitik, exilpolitische Aktivitäten, exilpolitische Betätigung, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Ermessen,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1, AsylVfG § 73 Abs. 2a, AsylVfG § 73 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Versäumung der in § 73 Abs. 2a Satz 1, Abs. 7 AsylVfG geregelten Prüfungsfrist hat auch nicht zur Folge, dass der gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gebundene Widerruf in eine Ermessensentscheidung umschlägt. Denn § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG knüpft den Übergang zu einer Ermessensentscheidung nicht an den bloßen Zeitablauf von drei Jahren, sondern verlangt dafür eine vorherige sachliche Prüfung und Verneinung der Widerrufs- oder Rücknahmevoraussetzungen seitens des Bundesamtes durch eine formalisierte Negativentscheidung (BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21. 04 -, BVerwGE 124, 277, Urteil vom 25.11.2008 - 10 C 53.07 -, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22). Erst nach negativem Abschluss der von Amts wegen gebotenen Widerrufs- und Rücknahmeprüfung steht in einem späteren Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren die Aufhebungsentscheidung im Ermessen des Bundesamtes, wenn nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylVfG vorliegen (BVerwG, Urteil vom 05.06.2012, a.a.O.).

Eine Aufhebung der streitgegenständlichen Widerrufsentscheidung des Bundesamtes hat danach entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht aus dem Grund zu erfolgen, dass in dem vorliegenden Fall die zu Lasten der Klägerin ergangene Entscheidung erst nach dem Ablauf der Prüfungsfrist des § 73 Abs. 7 AsylVfG ergangen ist. [...]

bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen lässt sich für die Klägerin aus heutiger Sicht aufgrund in der Türkei seit dem Jahr 1999 eingetretener veränderter Verhältnisse (vgl. nachfolgend unter aaa)) sowie aufgrund der seither verstrichenen Zeit und des individuellen Vorbringens der Klägerin (vgl. unter bbb)) nicht (mehr) mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass diese bei einer unterstellten nunmehrigen Rückkehr in die Türkei von nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. relevanten Verfolgungsmaßnahmen betroffen werden wird, was letztlich auch die Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 09.08.1999 rechtfertigt. [...]

Die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland Türkei haben sich seit der aufgrund des Verpflichtungsurteils vom 09.08.1999 erfolgten Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. durch den Bescheid des Bundesamtes vom 30.12.1999 geändert. Seit der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin haben sich insbesondere die Rechtslage und die Menschenrechtssituation in der Türkei - nicht zuletzt mit Blick auf den angestrebten EU-Beitritt des Landes - deutlich zum Positiven gewandelt, so dass jedenfalls im konkreten Fall der Klägerin keine beachtliche Gefahr von politischer Verfolgung für den Fall ihrer nunmehrigen Rückkehr in die Türkei mehr besteht.

Die vergangenen Jahre waren in der Türkei durch einen tiefgreifenden Reformprozess gekennzeichnet, der wesentliche Teile der Rechtsordnung betraf (vgl. Auswärtiges Amt - AA -, Lageberichte Türkei vom 08.04.2011 und 26.08.2012). Zwischen 2002 und 2005 wurden insgesamt acht Reformpakete zur Änderung der Verfassung, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze verabschiedet (vgl. amnesty international -ai -, Länderbericht Türkei vom Dezember 2010 und Report 2011 Türkei). Abgesehen von der Beendigung des Notstandsregimes, in dessen Folge die Verfahrensgarantien gegenüber den Sicherheitsbehörden in den hiervon betroffenen Gegenden massiv eingeschränkt waren, sind dabei insbesondere die gesetzlichen Schutzmaßnahmen wie die Regeln über die Verstärkung der Verteidigerrechte, der Zugang zu einem Rechtsbeistand, die zeitlichen Vorgaben bis zur obligatorischen Vorführung eines Festgenommenen vor ein Gericht, die Regeln über die ärztliche Untersuchung eines Festgenommenen und die Straferhöhung für Foltertäter zu nennen (vgl. EU-Kommission, Turkey Progress Report vom 10.10.2012; AA, Lageberichte Türkei vom 08.04.2011 und 26.08.2012). Zu dem Reformpaket gehören auch die Ausweitung der Minderheitenrechte vor allem für die Kurden und die Stärkung der Meinungsfreiheit. Die türkische Regierung hat zudem wiederholt betont, dass sie gegenüber Folter eine "Null-Toleranz"-Politik verfolge. So unterstreicht das Auswärtige Amt die von der türkischen Regierung zur Unterbindung von Folter und Misshandlungen eingesetzten gesetzgeberischen Mittel, etwa eine Erhöhung der Strafandrohung gemäß Art. 94 ff. TStGB, direkte Anklagen ohne Einverständnis von Vorgesetzten des der Folter Verdächtigten, Durchsetzung ärztlicher Untersuchungen bei polizeilicher Ingewahrsamnahme sowie Stärkung von Verteidigerrechten und Kameras bei Verhören in Ermittlungs- und Strafverfahren (vgl. AA, Lageberichte Türkei vom 08.04.2011 und 26.08.2012). Die AKP-Regierung hat alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt, um Folter und Misshandlungen im Rahmen einer "Null-Toleranz-Politik" zu unterbinden. Nach belastbaren Informationen von Menschenrechtsorganisationen hat sich auch die Situation hinsichtlich der Folter in Gefängnissen in den letzten Jahren erheblich gebessert. Runderlasse schreiben vor, dass Staatsanwaltschaften Folterstraftaten vorrangig und mit besonderem Nachdruck zu verfolgen haben. Ein im Januar 2012 vorgestelltes 3. Justizreformpaket fokussiert auf die Beschleunigung von Verfahren und die Verkürzung der Untersuchungshaft, sieht aber auch weitere Verbesserungen der Meinungsfreiheit vor (AA, Lagebericht Türkei vom 26.08.2012).

Auch das politische System insgesamt hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Bedeutung des Militärs und der Sicherheitskräfte ist zurückgegangen. Im Jahr 2010 fand ein Verfassungsreferendum statt, das weitere Fortschritte vorsah. Insbesondere wurde eine Individualbeschwerdemöglichkeit vor dem Verfassungsgericht eingeführt. Das Verfassungsgericht wurde zudem mit der Gerichtsbarkeit auch gegenüber den Oberbefehlshabern des Militärs, welche bislang vor den Zivilgerichten fehlte, betraut (vgl. AA, Lageberichte Türkei vom 08.04.2011 und 26.08.2012; Taylan an OVG Bautzen vom 19.01.2013). Seit 2010 hat die Regierung auf der Grundlage des erfolgreichen Verfassungsreferendums substanzielle Reformen insbesondere im Bereich der Gewerkschaftsrechte, der Gleichstellung und des Datenschutzes verwirklicht (AA, Lagebericht Türkei vom 26.08.2012).

Auch hat sich die allgemeine Sicherheitslage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei verbessert. Das Notstandsregime, das in 13 Provinzen galt, wurde mit der Aufhebung des Notstands in den letzten Notstandsprovinzen Diyarbakir und Sirnak im November 2002 beendet. Ein Teil der abgewanderten oder infolge der militärischen Maßnahmen zur Bekämpfung der PKK zwangsevakuierten Bevölkerung hat danach begonnen, in die Heimat zurückzukehren (vgl. AA, Lagebericht Türkei vom 11.01.2007). Die türkische Regierung hat erkannt, dass die Probleme im Südosten nicht allein mit militärischen Mitteln überwunden werden können. So wurden außer der geplanten wirtschaftlichen Aufbauhilfe für die strukturschwachen Gebiete im Südosten im Rahmen des Programms zur "Demokratischen Öffnung" der kurdischen Bevölkerung kulturelle Rechte in Bezug auf die kurdische Sprache eingeräumt, wie Fernsehsendungen auf Kurdisch und Lehr- und Studienangebote für die kurdische Sprache (vgl. AA, Lageberichte Türkei vom 08.04.2011 und 26.08.2012).

Trotz allem wird übereinstimmend auch noch nach wie vor von bestimmten Defiziten, insbesondere im rechtsstaatlichen Bereich, im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit sowie im Bereich der Achtung der Menschenrechte durch die Sicherheitsbehörden berichtet. Der türkischen Regierung ist es bislang noch nicht vollständig gelungen, Folter und Misshandlung zu unterbinden. Vor allem beim Auflösen von Demonstrationen kam es bis in jüngste Zeit zu übermäßiger Gewaltanwendung. Es gibt zudem Anzeichen dafür, dass die im Falle einer Festnahme vorgesehenen gesetzlichen Schutzinstrumentarien zuweilen unbeachtet bleiben. Auch die Ahndung von Misshandlung und Folter ist noch nicht vollständig zufriedenstellend (vgl. AA, Lageberichte vom 08.04.2011 und 26.08.2012; Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH - vom 09.10.2008, Türkei, Aktuelle Entwicklungen; EU-Kommission, Turkey Progress Report vom 10.10.2012; ai, Länderbericht Türkei vom Dezember 2010). So berichtet etwa das Auswärtige Amt, dass Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, welche verfassungsrechtlich garantiert seien, nach wie vor aufgrund verschiedener, teils unklarer Rechtsbestimmungen Einschränkungen unterlägen. Ehemalige Tabuthemen, etwa die Kurdenfrage betreffend, könnten jedoch mittlerweile offener diskutiert werden. Auch lägen weiterhin Hinweise vor, dass die verfassungsrechtlich verankerte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sowie die rechtsstaatlichen Garantien im Strafverfahren nicht immer konsequent eingehalten würden (vgl. AA, Lagebericht Türkei vom 08.04.2011 und 26.08.2012). [...]

Zusammenfassend lässt sich für den Senat festzuhalten, dass in der Türkei seit der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin tiefgreifende Reformen stattgefunden und die gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen der letzten Jahre im Hinblick auf die Menschenrechtslage deutliche Veränderungen zum Positiven bewirkt haben, auch wenn, wie dargelegt, die erreichten Standards in verschiedener Hinsicht noch nicht gänzlich insbesondere den Vorgaben der EMRK entsprechen. Der Reformprozess dauert inzwischen aber schon über ein Jahrzehnt an und wird prinzipiell weitergeführt. Die Türkei strebt nach wie vor eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union an. Der Reformprozess unterliegt insofern einer Kontrolle, als die Europäische Union turnusgemäß über die erreichten Fortschritte berichtet und die Fortschrittsberichte veröffentlicht. Von daher sind die seit der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin in der Türkei stattgefundenen Veränderungen nach der Überzeugung des Senats durchaus als dauerhaft einzustufen, auch wenn es in Einzelpunkten im Laufe der Jahre auch Rückschritte gegeben hat. [...]

Bezogen auf die individuelle Situation der Klägerin kann nach allem aufgrund der dargestellten veränderten Umstände in ihrem Heimatland vor allem deswegen nicht mehr von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit ihrer Verfolgung im Falle einer Rückkehr in die Türkei ausgegangen werden, weil sie seitens der türkischen Sicherheitsbehörden - unter Zugrundelegung der vom Verwaltungsgericht Sigmaringen in seinem Urteil vom 09.08.1999 - A 8 K 11282/97 - dargestellten Annahmen in tatsächlicher Hinsicht - jedenfalls nicht (mehr) als eine potentielle Unterstützerin der PKK und auch nicht (mehr) etwa als eine exponierte exilpolitische Aktivistin angesehen werden dürfte. Wie ausgeführt, müssen heute nur noch derart qualifizierte Personen in der Türkei befürchten, politischer Verfolgung ausgesetzt zu werden. Im Gegensatz zu den noch im Jahr 1999 in der Türkei herrschenden Verhältnissen stehen heute nur noch exponierte Regimegegner im Fokus des türkischen Staates und damit in der Gefahr, etwa von einer extralegalen menschenunwürdigen Behandlung betroffen zu werden. Die Klägerin aber ist bereits bis zum Jahr 1999 nicht durch in irgendeiner Weise hervorgehobene exilpolitische Aktivitäten in Deutschland aufgefallen. Die von ihr in Folge der Veröffentlichung eines Artikels im Schwäbischen Tagblatt am 18.04.1998 wohl bezweckte öffentliche Aufmerksamkeit stellte - für sich genommen - bereits seinerzeit keinen Grund für die Annahme einer Gefährdung in ihrem Heimatland dar, wie dies auch das Verwaltungsgericht Sigmaringen in seinem Urteil vom 09.08.1999 unter Auswertung der von ihm eingeholten Gutachten angenommen hat, und aus der Verbindung mit ihrem Ehemann lässt sich ebenfalls kein ernsthaftes Engagement der Klägerin zu Gunsten der PKK im Sinne einer herausgehobenen bzw. exponierten exilpolitischen Betätigung ableiten. Dafür, dass die Klägerin selbst noch heute vom türkischen Geheimdienst als Unterstützerin der PKK geführt wird, lassen sich keine Anhaltspunkte erkennen, zumal zu keiner Zeit von der Einleitung irgendeines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens oder gar eines regulären strafgerichtlichen Verfahrens gegen sie die Rede gewesen ist. Aus welchem Grund noch heute die Klägerin als "lohnenswerte Quelle möglicher Informationen über die PKK" angesehen werden könnte, wie dies das Verwaltungsgericht Sigmaringen noch angenommen hat, lässt sich für den Senat insbesondere auch deswegen nicht (mehr) erkennen, weil weder die Klägerin selbst noch ihr Ehemann im Rahmen der sie betreffenden Widerrufsverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von einer irgendgearteten Fortsetzung der behaupteten Unterstützung der PKK für die Zeit nach ihrer Flüchtlingsanerkennung berichtet haben.

bbb) Der letztgenannte Gesichtspunkt führt im Übrigen auch für sich genommen zu der Annahme einer seit dem Jahr 1999 eingetretenen erheblichen Veränderung der die seinerzeitige Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. begründenden Umstände. Denn weder die Klägerin selbst noch ihr Ehemann haben für die mittlerweile vergangenen 14 Jahre seit dem anerkennenden Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen irgendwelche weiteren exilpolitischen Betätigungen bzw. auch nur Kontakte zur PKK oder PKK-nahen Kreisen im Bundesgebiet geltend gemacht. Es ist daher davon auszugehen, dass die Klägerin und ihr Ehemann in diesen ganzen Jahren keinen zusätzlichen Grund mehr dafür lieferten, um ein besonderes Interesse der türkischen Sicherheitskräfte zu wecken.

Zwar kann ein reiner Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung bewirken. Allerdings sind - so das Bundesverwaltungsgericht - "wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt" (Urteil vom 01.06.2011, a.a.O.), und können sich Widerrufsgründe nach der Auffassung des Senats durchaus auch aus Veränderungen in der Person des Flüchtlings ergeben (so Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand August 2012, § 73 Rn. 23 und 28; vgl. auch OVG Saarland, Urteil vom 25.08.2011 - 3 A 34/10 -, a.a.O.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14.05.2013 - 14a K 1699/11.A -, juris). [...]