OLG Karlsruhe

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Zitieren als:
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 19.05.2014 - 1 AK 77/13 (ASYLMAGAZIN 12/2014, S. 443 f.) - asyl.net: M22380
https://www.asyl.net/rsdb/M22380
Leitsatz:

1. Ist die Einlieferung des Verfolgten aufgrund eines Europäischen Haftbefehls vom ersuchenden Staat mit der Maßgabe versehen worden, dass dieser Im Falle eines Schuldspruchs zur Strafvollstreckung wieder in sein Heimatland zurücküberstellt wird, so neigt der Senat zur Ansicht, dass im Rahmen eines Überstellungsverfahrens zumindest aber auch ausschließlich zu prüfen ist, ob durch die Überstellung wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung oder aber Vorschriften der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 verletzt sein könnten (vgl. auch § 73 Abs.1 Satz 2 IRG).

2. Entsprechen die Haftbedingungen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht durchweg den Europäischen Mindeststandards, so reicht es in einem Überstellungsverfahren zur Wahrung der dem Verfolgten nach Art.3 MRK gewährten Mindestrechte aus, die Zulässigkeitsentscheidung mit der Maßgabe zu verbinden, dass das er ersuchende Staat gegenüber der Bewilligungsbehörde eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung abgibt, dass der Verfolgte im Falle seiner Überstellung in einer Haftanstalt untergebracht wird, welche bezüglich der Haftbedingungen europäischen Mindeststandards entspricht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Europäischer Haftbefehl, Europäische Menschenrechtskonvention, Haftbedingungen, Mindeststandards, europäische Mindeststandards, Litauen, Auslieferung, Straftat, Drogendelikt, Resozialisierungsanspruch, Resozialisierung, Überstellung, Strafverfahren,
Normen: IRG § 73 Abs. 1 S. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

II.

Die formellen Voraussetzungen einer Überstellung des Verurteilten nach Litauen zur Vollstreckung der restlichen gegen ihn mit Urteil des Landgerichts - Große Strafkammer - U. vom 31.07.2012 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe liegen vor. Der Vollstreckungshilfeverkehr mit Litauen findet derzeit nach dem Übereinkommen vom 01.03.1983 über die Überstellung verurteilter Personen (ÜberstÜbk) (BGBl. 1991 II S. 1006, 1007; 1992 II S. 98; 1995 II S. 176; 1995 II S. 528) in Verbindung mit dem Zusatzprotokoll vom 18.12.1997 zu dem vorbezeichneten Übereinkommen (ZP-ÜberstÜbk) (BGBl. 2002 II S. 2866; 2008 II S. 45) sowie in Verbindung mit den Artikeln 67-69 des Schengener Übereinkommens vom 19.06.1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Schengener Durchführungsübereinkommen -SDÜ-) (BGBl. 1993 II S. 1010, 1013; 1994 II S. 631; 1996 II S. 242; 2003 II S. 1413; 2004 II S. 1102) statt. Dies gilt auch dann, wenn der Verurteilte - wie hier - zuvor aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ausgeliefert worden ist (OLG Hamm NStZ-RR 2014, 119). Nach § 2 Abs. 2 ÜAG findet darüber hinaus bei Vollstreckungsersuchen nach Art. 3 des ZP-ÜberstÜbk § 71 Abs. 4 IRG Anwendung, woraus sich die Zuständigkeit des Senats ergibt.

III.

Auch die materiellen Voraussetzungen der von der Generalstaatsanwaltschaft beantragten Überstellung sind gegeben.

1. Das gegen den Verurteilten, einen litauischen Staatsangehörigen (Art. 3 Abs.1 lit.a ÜberstÜbk), ergangene Urteil des Landgerichts - Große Strafkammer - U. vom 31.07.2012 ist seit 08.08.2012 rechtskräftig (Art. 3 Abs.1 lit. b ÜberstÜbk). Das Strafende der gegen den Verurteilten verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten ist der 25.04.2020, so dass davon auszugehen ist, dass bei Eingang eines Überstellungsersuchens in Litauen die gegen ihn verhängte Sanktion noch für mehr als mindestens sechs Monate zu vollziehen wäre (Art. 3 Abs.1 lit.c ÜberstÜbk). Die dem Verurteilten zu Last gelegten Handlungen, wegen denen er durch das Landgericht U. verurteilt wurde, stellen auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaates eine Straftat dar, da auch nach litauischem Recht das dem Verurteilten vorgeworfene und durch das Landgericht U. abgeurteilte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln strafbar ist (Art. 3 Abs.1 lit e ÜberstÜbk). Es liegen auch keine Anhaltspunkte vor, dass die Republik Litauen eine etwaige Rücknahme oder Beschränkung eines Überstellungsersuchens sowie den Grundsatz der Spezialität nicht beachten würde (Art. 14 ÜberstÜbk; Art. 3 Abs. 4 ZP-ÜberstÜbk).

Zwar hat der Verurteilte zuletzt bei seiner richterlichen Anhörung am 05.08.2013 vor dem Amtsgericht P. seiner Überstellung nicht zugestimmt, dies steht dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft jedoch nicht entgegen. Nach Art. 3 Abs.1 ZP-ÜberstÜbk kann auf ein Ersuchen des Urteilsstaates der Vollstreckungsstaat nämlich in die Überstellung der verurteilten Person ohne deren Zustimmung einwilligen, wenn die gegen diese Person verhängte Sanktion oder eine infolge dieser Sanktion getroffene Verwaltungsentscheidung eine Ausweisungs- oder Abschiebeentscheidung oder eine andere Maßnahme enthält, aufgrund derer es dieser Person nicht gestattet sein wird, nach der Entlassung aus der Haft im Urteilsstaat zu bleiben. Die Voraussetzung hierfür liegen vor, da das Regierungspräsidium T. mit Verfügung vom 04.12.2012, seit 12.01.2013 bestandskräftig, den Verlust des Rechts des Verurteilten auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festgestellt und ihm seine Abschiebung nach Litauen aus der Haft angedroht hat.

2. Die Überstellung des Verfolgten scheitert auch nicht daran, dass eine solche vor dem Hintergrund seines Resozialisierungsanspruchs nicht zulässig wäre.

a. Dabei kann der Senat offen lassen, ob vorliegend eine vollumfängliche Abwägung der grundrechtlich geschützten Positionen des Verfolgten mit dem öffentlichen Interesse an einer Überstellung vorzunehmen und insoweit auch dem Gesichtspunkt seiner Resozialisierung maßgebliche Bedeutung beizumessen wäre (BVerfGE 96, 100 ff. = NJW 1997, 3013 f.; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 15.06.2000, 1 AK 21/09). Hier besteht nämlich die Besonderheit, dass das Bezirksgericht V./Litauen mit Beschluss vom 15.12.2011die von der Bundesrepublik Deutschland mit dem Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft U. vom 14.03.2011 begehrte Auslieferung des Verurteilten mit der Maßgabe versehen hat, dass dieser, sollte er für schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe oder zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme verurteilt werden, zur Strafvollstreckung wieder nach Litauen zurücküberstellt wird. Diese an die gewährte Rechtshilfe gestellte Bedingung hat der Senat nach Maßgabe des § 72 IRG zu beachten (vgl. Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Auflage 2012, § 72 IRG Rn. 7). Insoweit neigt der Senat zur Ansicht, dass eine Überprüfung lediglich insoweit rechtlich zulässig ist (a.A. wohl OLG Hamm NStZ-RR 2014, 119), als sich die Frage stellt, ob durch eine Überstellung wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung (vgl. auch § 73 Abs.1 Satz 2 IRG) oder Vorschriften der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 (MRK) verletzt sein könnten, denn insoweit ist davon auszugehen, dass auch der Beschluss des Bezirksgerichts V./Litauen vom 15.12.2011 die stillschweigende Zusicherung der Einhaltung von zentralen Menschen- und Verfahrensrechten, wie diese etwa in der MRK niedergelegt sind, beinhaltet.

b. Der Frage kommt vorliegend jedoch keine entscheidende Bedeutung bei, weil vorliegend nicht zu erkennen ist, dass eine Überstellung des Verurteilten seiner sozialen Wiedereingliederung entgegenstehen könnte. Nach den Feststellungen des Urteils des Landgerichts - Große Strafkammer - U. vom 31.07.2012 ist der am ...1973 in Litauen geborene Verurteilte dort aufgewachsen, hat zwölf Jahre in Litauen die Schule besucht, im Jahre 1991 eine kaufmännische Ausbildung begonnen, in der Folgezeit in seinem Heimatland mehrere Arbeitstätigkeiten ausgeübt und im Jahre 1997 die Ehe mit einer litauischen Staatsangehörigen geschlossen, aus welcher drei gemeinsame Kinder hervorgegangen sind. Die durch das Landgericht U. abgeurteilten Straftaten hat er aus seinem Heimatland heraus begangen, so dass eine Resozialisierung fördernde soziale Kontakte in der Bundesrepublik Deutschland weder bestanden haben noch derzeit außerhalb des Strafvollzugs bestehen.

c. Ernstliche Gründe für die Annahme, der Verurteilte würde im Falle seiner Überstellung politisch verfolgt werden, bestehen nicht. Gleiches gilt für das nicht substantiierte Vorbringen der Rechtsbeiständin des Verurteilten vor dem Amtsgericht P. am 05.08.2013, der Verurteilte sei im Falle seiner Überstellung Repressalien des litauischen Staates ausgesetzt. Konkrete Anhaltspunkte, welche eine solche Befürchtung rechtfertigen könnten, sind weder von dem Verurteilten dargetan noch sonst aus der Akten ersichtlich.

d. Jedoch könnte sich ein Überstellungshindernis daraus ergeben, dass der Verfolgte im Falle seiner Überstellung nach Litauen in der Haft einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden und dadurch die Rechtshilfe den in Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen widersprechen würde (Art. 3 MRK i.V.m. § 73 Satz 2 IRG; vgl. hierzu BVerfG NStZ 2001, 100; OLG Hamm StraFo 2013, 215). Insoweit ergibt sich aus den Berichten des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) vom 25.06.2009 und vom 19.05.2011, dass sich zwar bei den in den Jahren 2008 und 2010 durchgeführten Besuchen in litauischen Gefängnissen im Hinblick auf die Haftbedingungen Beanstandungen wegen der Einhaltung von Mindeststandards ergeben haben, aber auch festgestellt werden konnte, dass die litauischen Behörden vielfältige Anstrengungen unternehmen, um vorhandene Missstände zu beseitigen. Dem Bericht der deutschen Botschaft in Wilna vom 12.06.2013 ist zu entnehmen, dass die Haftbedingungen in den 15 Haftanstalten in Litauen - wenn auch zumeist im Polizeigewahrsam und in der Untersuchungshaft - mit Ausnahme der Haftanstalt in Kaunas bislang noch nicht durchweg europäischen Mindeststandards entsprechen und - so eine weitere Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 20.09.2013 - die Entscheidung, in welche Haftanstalt ein Verurteilter untergebracht wird, allein und maßgeblich vom zuständigen Gericht getroffen wird.

Bei dieser Sachlage hat es der Senat zur Wahrung der dem Verfolgten nach Art.3 MRK gewährten Mindestrechte für notwendig, aber auch für ausreichend angesehen, seine Überstellung nach Litauen zur weiteren Vollstreckung der mit Urteil des Landgerichts U. vom 31.07 2012 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten nur mit der Maßgabe für zulässig zu erklären, dass das zuständige Ministerium der Republik Litauen gegenüber der Bewilligungsbehörde eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung abgibt, dass der Verfolgte im Falle seiner Überstellung in einer Haftanstalt untergebracht wird, welche bezüglich der Haftbedingungen europäischen Mindeststandards entspricht. Insoweit geht der Senat jedoch davon aus, dass sich ein Mitgliedstaat der Europäischen Union an eine entsprechende Zusicherung halten wird, so dass eine vorherige Benennung der zur Verbüßung der weiteren Haftstrafe vorgesehenen Haftanstalt und ggf. sogar noch eine Überprüfung der Angaben im Hinblick auf deren Richtigkeit und die zukünftige Einhaltung nicht veranlasst ist.