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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 (= ASYLMAGAZIN 11/2015, S. 274 ff.) - asyl.net: M23228
https://www.asyl.net/rsdb/M23228
Leitsatz:

1. Afghanische Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, bilden eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG.

2. Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr.4a Halbsatz 1 AsylVfG nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht.

3. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, soziale Gruppe, westlicher Lebensstil, Lebensstil, geschlechtsspezifische Verfolgung, Herat, alleinstehende Frauen,
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Senat geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage davon aus, dass afghanische Frauen, deren Identität in der oben beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in der Islamischen Republik Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG), ausgesetzt sein können. Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6), drohen.

Zwar hat sich die Situation afghanischer Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14). Die Islamische Republik Afghanistan hat sich in ihrer Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze formal dazu verpflichtet, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14). Auch wurde durch das im Wege eines Präsidialdekrets im Jahr 2009 erlassene Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen - dessen Verabschiedung durch beide Parlamentskammern allerdings weiterhin aussteht (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 15; Amnesty International, Their lives on the line: women human rights defenders under attack in Afghanistan, Apr. 2015, S. 56 ff; USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2014 - Afghanistan vom 25.6.2015) - eine wichtige Grundlage geschaffen, Gewalt gegen Frauen - erstmals überhaupt - unter Strafe zu stellen. Gleichwohl gibt es in der Islamischen Republik Afghanistan nach wie vor gravierende Rechtsverletzungen zulasten von Frauen (Fortschrittsbericht der Bundesregierung von Nov. 2014, S. 15 f.). Es mangelt vielfach an der praktischen Umsetzung der genannten Rechte (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14; Amnesty International, Their lives on the line: women human rights defenders under attack in Afghanistan, Apr. 2015, S. 56).

Insbesondere ist in der afghanischen Gesellschaft in allen Lebensbereichen Gewalt gegenüber Frauen tief verwurzelt (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6.8.2013, S. 55; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage vom 5.10.2014, S. 13). Die Afghanistan Independent Human Rights Commission bezeichnet dies als eines der gravierendsten Menschenrechtsprobleme in Afghanistan (AIHRC, Summary of the Findings Report on Violence against Women vom 8.3.2015). Es wird geschätzt, dass mehr als 87 % aller afghanischen Frauen bereits körperliche, sexuelle, psychologische Gewalt oder eine Zwangsheirat erfahren mussten. Mehr als 60 % der afghanischen Frauen sind mehreren Formen der Gewalt ausgesetzt (UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Mission to Afghanistan, 12.5.2015, S. 5 ). Die gegenüber Frauen verübte Gewalt ist zum Teil äußerst brutal. Sie umfasst beispielsweise Tötungen in Form von Verbrennungen sowie das Abschneiden von Körperteilen (AIHRC, Summary of the Findings Report on Violence against Women vom 8.3.2015).

Als weiteres Hauptproblem bezeichnet die Afghanistan Independent Human Rights Commission den Umstand, dass Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan in besonderem Maße Belästigungen auf der Straße ausgesetzt sind (AIHRC, Summary of the Findings Report on Violence against Women vom 8.3.2015).

Auch ist es für viele afghanische Frauen immer noch sehr schwierig, außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors Berufe zu ergreifen. Einflussreiche Positionen werden abhängig von Beziehungen und Vermögen vergeben. Oft scheitern Frauen schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14).

Gewaltakten, Belästigungen und sonstigen Diskriminierungen können in der Islamischen Republik Afghanistan insbesondere solche Frauen ausgesetzt sein, die in der Wahrnehmung anderer gesellschaftliche Normen verletzen. Denn im gesellschaftlichen Bereich bestimmen nach wie vor eine orthodoxe Auslegung der Scharia und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes die Situation von Frauen. Der Verhaltenskodex der afghanischen Gesellschaft verlangt von ihnen grundsätzlich den Verzicht auf Eigenständigkeit. Falls sie sich den gesellschaftlichen Normen verweigern, besteht die Gefahr der sozialen Ächtung (vgl. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, Apr. 2010, S. 27). Afghanische Frauen, die in der Wahrnehmung anderer gesellschaftliche Normen verletzen, werden gesellschaftlich stigmatisiert, allgemein diskriminiert und ihre Sicherheit ist gefährdet (UNHCR-Richtlinien vom 6.8.2013, S. 62).

Dementsprechend geht der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), der eine besonders sorgfältige Prüfung der Asylanträge der Risikogruppe "Frauen" empfiehlt (vgl. UNHCR, "Darstellung allgemeiner Aspekte hinsichtlich der Situation in Afghanistan – Erkenntnisse u.a. aus den UNHCR-Richtlinien 2013" von Aug. 2014, S. 3), davon aus, dass je nach den individuellen Umständen des Einzelfalls nicht nur bei afghanischen Frauen, die bereits Opfer sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt oder schädlicher traditioneller Bräuche geworden sind oder entsprechend gefährdet sind, sondern auch bei afghanischen Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen, wahrscheinlich ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz besteht (UNHCR-Richtlinien vom 6.8.2013, S. 64).

Nach der Rechtsprechung des Senats sind unter Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen und damit einer geschlechtsspezifischen, von den individuellen Umständen abhängigen Verfolgung unterliegen können, solche Frauen zu verstehen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird (vgl. Senatsbeschluss vom 21.1.2014 - 9 LA 60/13 - juris Rn. 6). Hierzu können nicht nur Frauen zählen, die - wie z.B. Parlamentarierinnen, Beamtinnen, Journalistinnen, Anwältinnen, Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen oder Lehrerinnen - Aktivitäten im öffentlichen Leben entfalten, damit dem traditionellen Rollenbild widersprechen und von konservativen Elementen in der Gesellschaft systematisch eingeschüchtert, bedroht, attackiert und gezielt getötet werden (vgl. dazu BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, Apr. 2010, S. 27, 67; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage vom 5.10.2014, S. 14; USCIRF, Annual Report 2015, Afghanistan, S. 136; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Mission to Afghanistan, 12.5.2015, S. 7). Vielmehr verstoßen nach der öffentlichen Wahrnehmung in der afghanischen Gesellschaft auch solche Frauen gegen die sozialen Sitten, deren Identität derart westlich geprägt ist, dass ihr Verhalten deutlich vom Rollenbild der Frau in der afghanischen Gesellschaft abweicht. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 20.7.2010 - 23505/09, N. v. Sweden - HUDOC Rn. 55) werden afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben - z.B. solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind - in der Islamischen Republik Afghanistan nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen und können deshalb Opfer von Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte "Schande" reichen können (so auch Österr. BVerwG, Erkenntnis vom 31.7.2015 - W175 2100068-1 - veröffentlicht unter www.ris.bka.gv.at; siehe ferner Österr. BVerwG, Erkenntnisse vom 29.4.2015 - W120 1428376-3 -; vom 7.5.2015 - W175 2011342-1 -; vom 19.5.2015 - W191 2104127-1 -; vom 8.6.2015 - W202 1411035-3 -; vom 12.6.2015 - W197 2016697-1 -; vom 18.6.2015 - W163 2102498-1 -; vom 30.6.2015 - W191 2105467-1/5E -; vom 13.7.2015 - W200 1415926-1 -; vom 31.7.2015 - W175 2100069-1, jeweils veröffentlicht unter www.ris.bka.gv.at). Allerdings ist die Annahme eines westlichen Lebensstils nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a Halbsatz 1 AsylVfG nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht, und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist.

Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen (vgl. Senatsbeschluss vom 21.1.2014, a.a.O., Rn. 5 m.w.N.). Denn die konkrete Situation afghanischer Frauen kann sich je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14). Insbesondere ist zu berücksichtigen, ob und inwieweit die betreffende afghanische Frau voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann. Eine Verfolgungsgefahr besteht vor allem für alleinstehende Frauen und Frauen ohne männlichen Schutz (vgl. Senatsbeschluss vom 21.1.2014, a.a.O., Rn. 5).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin im Fall der Rückkehr in ihre Heimatstadt Herat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist, ausgesetzt wäre.

Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass die Klägerin eine solche nachhaltige Prägung erfahren hat.

Sie hat sich nach dem Eindruck des Senats gut in die deutsche Gesellschaft integriert. Sie spricht die deutsche Sprache und konnte sich in der mündlichen Verhandlung teilweise ohne Dolmetscherin mit dem Gericht verständigen. In der Flüchtlingsunterkunft, in der sie anfangs lebte, hat sie ihren glaubhaften Angaben zufolge den Kindern Deutsch beigebracht. Ihrem äußeren Erscheinungsbild nach unterscheidet sich die Klägerin nicht von jungen deutschen Frauen. Sie trug in der mündlichen Verhandlung - wie auf allen in den Akten befindlichen Fotos - kein Kopftuch und war wie deutsche Frauen ihres Alters gekleidet, ohne dabei aus verfahrenstaktischen Gründen gezielt westlich "gestylt" zu wirken. Auch hat sie nach Überzeugung des Senats die Lebensgewohnheiten vieler deutscher junger Frauen angenommen, die - wie sie - ein Kleinkind haben: Die Klägerin hat einen breit gefächerten Freundeskreis, der unter anderem eine deutsche Frau ihres Alters mit Kleinkind und eine deutsche Familie umfasst. Sie treibt mit Vorliebe Sport. Neben Laufen und Fahrradfahren geht sie ins Schwimmbad, seit der Geburt ihres Kindes meistens gemeinsam mit ihrem Ehemann, aber auch ohne ihn zusammen mit ihren Freundinnen. Ferner tanzt sie gern, im letzten Jahr im Fitnessstudio, nun weiterhin zuhause. Die Klägerin geht auch aus, etwa ins Kino. Soweit es möglich ist, nimmt sie bei ihren Aktivitäten ihr Kind mit. Sie erachtet es aber als völlig selbstverständlich, dass sie auch allein unterwegs sein kann und dann ihr Ehemann auf das Kind aufpasst. Obgleich die Klägerin, die in der Bundesrepublik Deutschland drei Jahre lang eine Hauptschule und eine berufsbildende Schule besucht hat, ihr Berufsvorbereitungsjahr schwangerschaftsbedingt abbrechen musste, ist sie fest gewillt, dieses zu beenden, den noch ausstehenden Hauptschulabschluss nachzuholen und im Anschluss daran eine Ausbildung aufzunehmen, sobald ihr Kind den Kindergarten besucht. Zu diesem Zweck hat sie sich - nachdem sie sich durch zwei Schulpraktika in Kindergärten entsprechende Einblicke verschafft hat - gemeinsam mit ihrem Ehemann bereits um einen Kindergartenplatz für ihr Kind gekümmert. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin zu ihrer Lebensweise in der Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin hat auf den Senat einen ausgesprochen authentischen Eindruck gemacht. Sie hat ernsthaft und ohne Widersprüche vorgetragen. Ihre Angaben wirkten weder übertrieben noch auf das Verfahren abgestimmt. Sie wurden in allen wesentlichen Punkten durch ihren informatorisch angehörten Ehemann bestätigt.

Die Klägerin ist darüber hinaus ihren glaubhaften Angaben zufolge nicht mehr in den Traditionen und Gebräuchen des Islams - der Staatsreligion der Islamischen Republik Afghanistan (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 10) - verhaftet. Sie lebt den muslimischen Glauben nicht mehr in der Form, wie es von ihr in der afghanischen archaisch-patriarchalischen Gesellschaft verlangt würde. In der mündlichen Verhandlung hat sie eine erhebliche Distanz zu den Glaubenstraditionen und dem religiösen Leben in ihrem Herkunftsland zum Ausdruck gebracht. So hält sie insbesondere die muslimischen Regeln, beispielsweise den Fastenmonat Ramadan, nicht ein, begleitet - wie ihr Ehemann bestätigt hat - diesen des Öfteren zu christlichen Gottesdiensten und Veranstaltungen und erzieht gemeinsam mit ihm ihr Kind religiös-weltanschaulich neutral mit dem Ziel, dass dieses später selbst entscheiden kann, ob und welcher Religion es folgen will. Sie selbst hat sich nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung noch nicht entschieden, nach welchem Glauben sie künftig leben will. Auch diese Angaben der Klägerin zeigen, dass sie nicht aus verfahrenstaktischen Gründen eine überzogene oder gar erfundene Darstellung gewählt hat, sondern ihre Ausführungen ihre tatsächliche Lebenseinstellung und Lebensweise wiedergeben.

Der Senat ist deshalb davon überzeugt, dass die westliche Lebensweise, die sich die Klägerin angeeignet hat, auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren glaubhaften Angaben zufolge, die mit denen ihres Bruders in dessen Asylverfahren übereinstimmen, nur bis zu ihrem sechsten oder siebten Lebensjahr in Afghanistan lebte. Während ihres anschließenden zehn Jahre langen Aufenthalts in Maschhad, der zweitgrößten Stadt im Iran mit mehr als 2 Millionen Einwohnern, verfolgte sie bereits einen weniger konservativen Lebensstil als er in Afghanistan üblich war. So konnte sie anstelle des Tschadors meistens einen Mantel mit Kopftuch tragen, ferner die Schule besuchen, an Englisch- und Computerkursen teilnehmen und Fahrrad fahren. Im Alter von 16 Jahren reiste die Klägerin sodann in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie seit nunmehr sechs Jahren lebt. Hier hat sie die maßgebend prägende Zeit als Jugendliche und junge Erwachsene verbracht und ist nach dem Eindruck des Senats zu einer selbstbewussten, durchsetzungsstarken und emanzipierten Persönlichkeit herangewachsen.

Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin nicht dazu in der Lage wäre, sich einem dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Denn da sie Afghanistan bereits als Kind verließ, hat sie - abgesehen von dem zweiwöchigen Zeitraum vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland - noch nie den Einschränkungen im alltäglichen Leben als Frau in der Islamischen Republik Afghanistan unterlegen. Unter dem Eindruck ihres zweiwöchigen Aufenthalts in Herat hat sie in der mündlichen Verhandlung - nach Ansicht des Senats aus einem tiefen inneren Angstgefühl heraus - mit Nachdruck betont, unter keinen Umständen mehr in Afghanistan als Frau leben zu können. Angesichts der geschilderten Umstände geht auch der Senat davon aus, dass die westliche Lebensweise in der Persönlichkeit der Klägerin so tief verwurzelt ist, dass sie sie nicht mehr ablegen kann.

Jedenfalls aber hält der Senat es aufgrund der genannten Umstände für unzumutbar, die Klägerin dazu zu zwingen, sich nunmehr einem dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Denn sie müsste dafür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben und würde dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt.

Mit ihrem westlich geprägten Verhalten würde die Klägerin im Fall der Rückkehr in ihre Heimatstadt Herat unweigerlich auffallen und wäre mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtspezifischen Gewaltakten, Belästigungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die in ihrer Kumulation einer schweren Menschenrechtsverletzung gleichkämen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu befürchten, dass afghanische Frauen in der Region Herat in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit aufgrund eines ausgeprägt traditionellen Verhaltenskodex besonders stark eingeschränkt sind (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.1.2012, S. 22). Weder der Ehemann der Klägerin noch ein sonstiger Familien- oder Stammesverbund könnte sie gegen Verfolgungshandlungen schützen. Der Ehemann der Klägerin ist erst 23 Jahre alt, hat wie die Klägerin seit seinem sechsten oder siebten Lebensjahr im Iran gelebt und genießt in der Islamischen Republik Afghanistan keine hervorgehobene Stellung. Abgesehen von einer Tante, die Hausfrau ist, einem gesundheitlich angeschlagenen Onkel, der bereits 62 Jahre alt ist, und deren Sohn, zu dem kein Kontakt besteht, leben den glaubhaften Angaben der Klägerin zufolge in Herat und auch in anderen Landesteilen der Islamischen Republik Afghanistan keine Verwandte der Klägerin mehr. Die Familie ihres Ehemanns lebt inzwischen - allenfalls bis auf entfernte Verwandte, zu denen kein Kontakt besteht - in der Islamischen Republik Iran.

Auch der afghanische Staat würde der Klägerin im Fall der Rückkehr keinen Schutz gegen die ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung bieten. Nach § 3c Nr. 3 in Verbindung mit § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG kann Schutz vor Verfolgung vom Staat nur geboten werden, sofern dieser willens und in der Lage ist, einen wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz im Sinne des § 3d Abs. 2 AsylVfG zu bieten. Die afghanischen staatlichen Akteure aller drei Gewalten sind jedoch entweder nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14; Amnesty International, Their lives on the line: women human rights defenders under attack in Afghanistan, Apr. 2015, S. 59; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Mission to Afghanistan, 12.5.2015, S. 17). [...]