VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.05.2016 - 11 S 492/16 - asyl.net: M23949
https://www.asyl.net/rsdb/M23949
Leitsatz:

Verkürzt die Ausländerbehörde nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG die Geltungsdauer einer zum Zwecke der Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft erteilten Aufenthaltserlaubnis aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Aufhebung der Ehe, so steht dem auch im Hinblick auf die nach § 27 Abs. 5 AufenthG kraft Gesetzes zugelassene Erwerbstätigkeit das Diskriminierungsverbot nach Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien vom 17.07.1995 (ABl. 1998 L 97, S. 1) nicht entgegen. Denn darin ist keine durch das Diskriminierungsverbot untersagte arbeitsrechtliche Benachteiligung tunesischer Arbeitnehmer zu sehen, die auf deren Staatsangehörigkeit beruht.

Schlagwörter: eheliche Lebensgemeinschaft, nachträgliche Befristung, Europa-Mittelmeer-Abkommen, Tunesien, Diskriminierungsverbot, Erwerbstätigkeit, Aufenthaltserlaubnis, Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen,
Normen: EGAbk TUN Art. 64, AufenthG § 7 Abs. 2 Satz 2, AufenthG § 27 Abs. 5
Auszüge:

[...]

a) Die Befristungsentscheidung, die ihre Rechtsgrundlage in § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG findet, verstößt zunächst nicht gegen Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien und das dort niedergelegte und nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unmittelbare Wirkung entfaltende (vgl. Urteil vom 14.12.2006 - C-97/05 <Gattoussi> -, juris) Diskriminierungsverbot. Dem vorgenannten Urteil (Rn. 40 und 42) liegt jeweils die maßgebliche und entscheidungserhebliche Auffassung zugrunde, dass dem jeweiligen Arbeitnehmer, dessen Aufenthalt unmittelbar zu einem anderen Zweck als dem der Beschäftigung erteilt wurde, losgelöst von diesem und in zeitlicher betrachtet Hinsicht weitergehende Rechte in Bezug auf den Zugang zum Arbeitsmarkt und einer Beschäftigung verliehen worden waren mit der Folge, dass nach dem Wegfall des eigentlichen Aufenthaltszweck grundsätzlich gleichwohl bis zum Ablauf der diesbezüglichen Berechtigung der Aufenthalt zur weiteren Ausübung der Beschäftigung gestattet werden muss, sofern dem nicht Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen (vgl. auch ausdrücklich EuGH, Urteil vom 02.03.1999 - C-416/96 <El-Yassini>, - juris, Rn. 64). Dem entsprach auch teilweise die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes im Jahre 2005. Bis dahin konnte nach § 2 ArGV vom 17.09.1998 (BGBl. I, S. 2899, später teilweise geändert durch VO v. 16.02.2001 - BGBl. I, S. 266) einem Ausländer eine unbefristete Arbeitsberechtigung erteilt werden, auch wenn der zugrunde liegende Titel nur befristet Geltung hatte; dieses galt bis 31.07.2001 insbesondere nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArGV a.F. für den Ausländer, der mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet war. Mit dem Aufenthaltsgesetz wurde ein grundsätzlich abweichendes Regime eingeführt. Die selbständige von der Arbeitsverwaltung erteilte Arbeitserlaubnis bzw. Arbeitsberechtigung ist ersatzlos entfallen. Vielmehr ist nach § 4 Abs. 2 und 3 AufenthG eine Erwerbstätigkeit nur noch erlaubt, wenn (1) der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die konkret zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder (2) dem Ausländer, der einen Aufenthaltstitel zu einem anderen Zweck besitzt, von der Ausländerbehörde die Erwerbstätigkeit erlaubt wird oder (3.) aufgrund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung, eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung unmittelbar hierzu berechtigt ist. Eine weitergehende Berechtigung ist somit von vornherein nur noch denkbar, wenn in der 2. Fallkonstellation die Ausländerbehörde eine Beschäftigungserlaubnis erteilt haben sollte, die ausdrücklich über die Geltungsdauer hinausreicht, was aber regelmäßig nicht anzunehmen ist und nicht so praktiziert wird (vgl. weiterführend Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG § 4 AufenthG Rn. 106). Im vorliegenden Fall beruht die Berechtigung des Klägers allein auf einer unmittelbar gesetzlichen Gestattung nach § 27 Abs. 5 AufenthG bzw. § 28 Abs. 5 AufenthG a.F., die in jeder Hinsicht an den Bestand des konkreten Titels gebunden ist und somit kein losgelöstes und weitergehendes Recht vermitteln kann. Sie ist untrennbar mit dem Bestand des Titels und - was hier wesentlich ist - mit dem konkreten Aufenthaltszweck verknüpft. Entfällt dieser und wird diesem Umstand durch eine in die Zukunft reichende Entscheidung der Ausländerbehörde in der Weise Rechnung getragen, dass auf der Grundlage des nationalen Rechts (hier § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) der Titel beseitigt wird, so entfällt auch die rechtliche Grundlage einer Beschäftigung (wie hier auch HessVGH, Beschluss vom 06.11.2014 - 6 A 691/15.Z -, InfAuslR 2015, 96). Dem Umstand einer tatsächlich ausgeübten Beschäftigung ist nur im Rahmen des der Ausländerbehörde durch § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eingeräumten Ermessens Rechnung zu tragen (vgl. hierzu unter b). Allerdings kann auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass das weitergehende Recht ausschließlich auf einer individuellen Verleihung beruhen muss und nicht auch auf einer unmittelbaren gesetzlichen Zulassung beruhen kann, sofern diese nur überschießenden Charakter hat. Denn dem Urteil vom 02.03.1999 (vgl. dort Rn. 5) lag eine solche gesetzliche Zulassung zugrunde. Einer abschließenden Entscheidung bedarf es allerdings nicht. [...]