VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me - asyl.net: M24163
https://www.asyl.net/rsdb/M24163
Leitsatz:

Aufgrund der aktuellen Lage in Syrien droht bei einer Rückkehr ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine staatliche Verfolgung aufgrund der Annahme einer regimefeindlichen Gesinnung wegen (illegaler) Ausreise und Aufenthalt im westlichen/europäischen Ausland, womit die Voraussetzungen für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Regel vorliegen § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. (Die Entscheidung erging ohne mündliche Verhandlung.)

Schlagwörter: Syrien, Rückkehrgefährdung, Flüchtlingsanerkennung, Asylantrag, illegale Ausreise, unerlaubte Ausreise, Auslandsaufenthalt, Folter, Verhör, Inhaftierung, Rückkehrerbefragung, westliches Ausland,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

2. Danach ist aufgrund der aktuellen Situation in Syrien nach wie vor davon auszugehen, dass syrische Flüchtlinge - wie die Klägerin - im Falle ihrer - erzwungenen oder auch freiwilligen - Rückkehr in ihr Herkunftsland Syrien Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG in Anknüpfung an eine bei ihnen vermutete regimekritische bzw. regimefeindliche Einstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten müssen. Nach Auffassung der Kammer spricht Überwiegendes dafür, dass der syrische Staat die illegale Ausreise seiner Staatsangehörigen, die Asylantragstellung und den jedenfalls längerfristigen Aufenthalt im (westlichen/europäischen) Ausland als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung auffasst. Rückkehrende syrische Staatsangehörige haben nach der heutigen Erkenntnislage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, wegen dieser ihnen unterstellten politischen Einstellung mit Verfolgungshandlungen überzogen zu werden (VG Meiningen, U.v. 27.03.2014 - 1 K 20092/12 Me und 1 K 20005/13 Me -, juris; U.v. 23.06.2016 - 1 K 20129/16 Me -, n.V.; so auch VG Trier, U.v. 16.06.2016 - 1 K 1576/16.TR - n.V.). [...]

Dass Rückkehrern derzeit nach wie vor beachtlich wahrscheinlich menschenrechtswidrige Behandlung (Verhörmethoden, Inhaftierung, Gefahr des Verschwindenlassen) bis hin zur Folter, also Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, drohen, entnimmt die Kammer den nachfolgend unter 2.2 aufgeführten Berichten zur Lage in Syrien. Nach Auswertung dieser Berichte (siehe nachfolgend 2.3) ist auch davon auszugehen, dass der Verfolgungsgrund der Anknüpfung an die (vermutete) politische Überzeugung der Rückkehrer im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 AsylG gegeben ist.

Zwar fehlt es für die letzten Jahre auch weiterhin an belastbaren Rückkehrerzahlen (Abschiebestopps in verschiedenen Bundesländern sowie auch des EU-Auslandes). Seit Verschärfung des Konfliktes in Syrien zu Beginn des Jahres 2012 wurden keine abgelehnten Flüchtlinge mehr nach Syrien zurückgeschoben. Angaben über freiwillige Rückkehrerzahlen sind nicht zu finden und angesichts der immer prekärer werdenden inländischen Situation auch nicht zu erwarten. Die hier streitentscheidende Beurteilung der den Asylbewerbern im Falle einer heutigen Rückkehr drohenden Verfolgung und ihres Charakters kann daher nur im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen. Bei der Bewertung der berichteten Tatsachen ist der bestehenden Bürgerkriegssituation sowie der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich mittlerweile um interne bewaffnete Konflikte zwischen verschiedensten Konfliktparteien handelt, so dass nicht jede Maßnahme des syrischen Staates in diesem Rahmen als Verfolgung des politischen Gegners, sondern gegebenenfalls als Verteidigung gegenüber und Bekämpfung von bewaffneten Aufständischen anzusehen ist.

Ausgehend von den Beobachtungen, dass die aufgrund des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rücknahmeübereinkommens zurückgeführten Asylbewerber bei ihrer Einreise zunächst ausnahmslos vom Geheimdienst über ihren Aufenthalt im Ausland befragt und z.T. (mehrwöchig) inhaftiert wurden (vgl. Lagebericht des AA vom 27.09.20 10, S. 19 f.), wobei von erhöhter Foltergefahr und vielfachen körperlichen und psychischen Misshandlungen auszugehen war (vgl. eben genannten Lagebericht; AI, Bericht vom 14.03.2012; vgl. auch die Darstellungen von dokumentierten Einzelfällen im Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, juris, Rdnr. 29 ff.), führen die nachfolgend im einzelnen beschriebenen Aspekte der zwischenzeitlichen Eskalation der innenpolitischen Lage in Syrien zur Annahme weiterhin bestehender beachtlicher Gefahr im Hinblick auf derartige Rückkehrer-Behandlung durch die syrischen Geheimdienste und sonstigen Exekutivbehörden und lassen gleichzeitig auf eine flüchtlingsrelevante politische Motivation dieser Stellen schließen.

2.2. Bereits der Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17.02.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien geht davon aus, dass sich die Risiken politischer Oppositionstätigkeit nicht auf eine strafrechtliche Verfolgung beschränken. Schon seit März 2011 hätten sich zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, "Verschwindenlassen" ("enforced disappearence"), tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen ereignet. Seit diesem Zeitpunkt gehe das Regime mit einer präzedenzlosen Verhaftungswelle gegen die Protestbewegungen vor. Die genaue Zahl der politischen Gefangenen sei nicht bekannt (S. 7). Menschenrechtsverteidiger schätzten die Zahl der Verhafteten und Verschwundenen auf insgesamt über 40.000 Personen. Die namentlich belegten Haftfälle beliefen sich auf ca. 19.400 (Stand: 14.02.2012). Willkürliche Verhaftungen seien gegenwärtig sehr häufig und gingen von Polizei, Sicherheitskräften und Milizen (sog. Shabbiha) aus. In glimpflichen Fällen erfolge nach einiger Zeit die Überstellung an ein Gefängnis oder die Justiz. In anderen Fällen blieben die Personen "verschwunden". Seit Beginn dieser Maßnahmen sei den Angehörigen in einer Reihe von belegten Fällen von den beteiligten Sicherheitsbehörden nur noch die Leiche der festgenommenen Person übergeben worden. Untersuchungen über die Todesumstände erfolgten in der Regel nicht (S. 8).

Im Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24.05.2012) werden Fälle von massiven Übergriffen gegenüber Personen geschildert, die in den Verdacht oppositioneller Haltung allein aufgrund des Besitzes einer größeren Geldmenge oder der bloßen Nachbarschaft zu Regimegegnern gerieten. Nach Einschätzung des Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen reicht als Anknüpfungspunkt für die Vermutung bestehender Regimegegnerschaft u.U. allein die Tatsache, dass man aus demselben Ort stammt, in dem sich Regimegegner aufhalten (Rdnr. 10). Diese Einschätzung hat er in seinen UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (4. aktualisierte Fassung vom 01.11.2015, 12 ff.) erneut bestätigt. Laut übereinstimmenden Berichten seien ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt werde, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung habe, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstütze, basiere oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit.

Human Rights Watch (HRW) schildert bereits in seinem Bericht "By all means necessary" vom Dezember 2011 über die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, die Regimegegner unterstützen, auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstranten versorgt zu haben (so auch: AI, Amnesty Report 2013 zu Syrien; dazu anschaulich Jonathan Littell, "Notizen aus Horns" Reisebericht über einen Aufenthalt vom 16.01. bis 02.02.2012, Berlin 2012).

Auch im HRW-World Report 2014 - Syria wird berichtet, dass seit Beginn der Demonstrationen und Aufstände Zehntausende Opfer von willkürlichen Verhaftungen, ungesetzlichem Festhalten, Verschwindenlassen, Misshandlungen und Folter durch Sicherheitskräfte des syrischen Regimes geworden sind, darunter friedliche Demonstranten und Aktivisten, die mit der Organisation, der Berichterstattung und dem Filmen der Veranstaltungen beschäftigt waren. Zudem seien Familienmitglieder - darunter auch Kinder - festgenommen worden, um das "Sichstellen" von Aktivisten zu erreichen. Freigelassene haben HRW eine Reihe von Foltermethoden beschrieben, die bei ihnen angewendet wurden, darunter andauernde Schläge - auch mit Stöcken oder Kabeln -, schmerzhafte Zwangspositionen, Elektroschocks, sexuelle Handlungen, das Herausziehen der Fingernägel und vorgetäuschte Exekution. Nach Angaben von Aktivisten vor Ort seien in 2013 mindestens 490 Gefangene in der Haft gestorben.

Betrafen die vom Auswärtigen Amt bereits für das Jahr 2011 dargelegten drastischen Verfolgungsmaßnahmen (Ad-hoc-Lagebericht vom 17.02.2012, a.a.O.) im Regelfall noch einzelne, vor allem anlässlich von Demonstrationen oder in diesem Zusammenhang als solche angeschuldigte "Oppositionelle", so haben sich mittlerweile die von Seiten des syrischen Staates ergriffenen Maßnahmen ausgeweitet. Inzwischen werden "großflächig" Gebiete der nunmehr als "Aufständische" bezeichneten Regimegegner mit Maßnahmen überzogen, die oppositionelle Betätigung ausschalten und abschrecken sollen, wobei die Verschärfung und Ausweitung der Übergriffe sicherlich auch auf der beiderseitigen "Aufrüstung" mit Handlungsmethoden und Waffengewalt beruht. So sind Maßnahmen der syrischen Armee und der Milizen, mit denen unmittelbar auf Angriffe der "Rebellen" reagiert wird oder diese allein getroffen werden sollen, bei der Betrachtung auszublenden. Dies gilt jedoch nicht für die nachfolgend in Berichten dargestellten Vorgehensweisen des syrischen Regimes, da diese - was auch jeweils gerade Gegenstand der jeweiligen Untersuchungen der Menschenrechtsorganisationen ist - Maßnahmen der syrischen Regierung gegenüber Zivilpersonen und friedlichen Demonstranten betreffen.

HRW zeigt in seinem Hintergrund-Bericht vom 30.01.2014: "Razed to the ground, Syrias unlawful neighbourhood demolitions in 2012-2013" die willkürliche Zerstörung tausender Wohnhäuser in Gebieten, die den Aufständischen zugeschrieben werden, in den Jahren 2012 und 2013 auf. Seit Juli 2012 gingen die syrischen Streitkräfte in Stadtteilen von Damaskus und Hama gegen Wohngebäude in der Nachbarschaft aufständischer Betätigungen mit Bulldozern und explosiven Materialien vor. Diese willkürlichen massiven Zerstörungen folgten offenbar auf Kampfhandlungen in den jeweiligen Gebieten und würden von Militärs überwacht. Sieben konkrete Fälle sind von HRW dokumentiert, um aufzuzeigen, dass durch diese Maßnahmen außerhalb von Kampfhandlungen willkürlich die Zivilbevölkerung getroffen wurde. Insgesamt sei bei diesen Maßnahmen in der genannten Zeit eine Fläche so groß wie 200 Fußballfelder mit vor allem Wohn- und Hochhaus-Bebauung komplett zerstört worden mit der Folge, dass tausende Familien ihre Unterkunft verloren hätten. Dies sei ohne Vorwarnung erfolgt und habe dem Zweck gegolten, Aufständische zu vertreiben. Zum Teil seien Nachbarschaften ausdrücklich gewarnt worden, sich den Aufständischen anzuschließen, ansonsten würde man bei ihnen ebenso vorgehen. Der Bericht von HRW basiert auf einer detaillierten Analyse von 15 hochauflösenden Satellitenbildern, die zwischen dem 16.07.2012 und dem 20.11.2013 aufgenommen wurden, dazu Zeugenaussagen von 16 betroffenen Personen und Auswertung von mehr als 85 Videos auf YouTube.

Auch Amnesty International berichtet im Juni 2012 unter Namens- und Ortsangaben von zahlreichen willkürlichen Tötungen und wahllosen Angriffen auf zivile Objekte, willkürlicher Zerstörung von Wohnungen und Eigentum, Folter und willkürlichen Verhaftungen in verschiedenen Städten Syriens (AI, "Deadly Reprisals: Deliberate Killings and other Abuses by Syria"s Armed Forces"). In seinem Report 2016 Syrien (vom 02.03.2016) bestätigt AI diese Vorgehensweise auch fir die aktuelle Situation. Die Regierungskräfte und ihre Verbündeten begingen weiterhin Kriegsverbrechen und schwere Verstöße gegen das Völkerrecht. Sie verübten sowohl gezielte als auch wahllose Angriffe auf Zivilpersonen. Bei rechtswidrigen Angriffen habe es Tote und Verletzte unter der Bevölkerung und Schäden an zivilen Gebäuden gegeben. Die Truppen führten nach wie vor wahllose Angriffe auf Wohngebiete durch, indem sie diese aus der Luft bombardierten oder unter Artilleriebeschuss nähmen (Seite 2 f. des Berichtes vom 02.03.2016).

In seinem World Report 2014 - Syria weist HRW auch auf die Tatsache hin, dass sich die Angriffe durch die syrische Regierung in 2013 intensiviert hätten, was den nunmehrigen Gebrauch von Vernichtungswaffen und geächteten Kriegswaffen (sog. Streu- bzw. Fassbomben, "cluster bombs") und den Einsatz von Granatgeschossen und Brandbomben aus der Luft sowie von ballistischen Raketen auf Wohngebiete anging, kulminierend im Einsatz von chemischen Waffen im August 2013 in der Umgebung von Damaskus.

Berichtet wird weiterhin von willkürlichen Massentötungen durch syrische Streitkräfte außerhalb von Kampfhandlungen, z. B. am 02. und 03.05.2013 in Al-Bayda und Baniyas in der Provinz Tartous. In einem 68-seitigen Bericht stellt HRW die dortigen Geschehnisse auf der Grundlage der Zeugenaussagen von 15 ehemaligen Einwohnern von Al-Bayda und 5 Einwohnern von Baniyas dar (HRW vom 13.09.2013, "No One's Left - Summary Executions by Syrian Forces in al-Bayda and Baniyas").

Nach einem Bericht von Amnesty International ("An International Failure: The Syrian Refugee Crisis") vom 13.12.2013 sind bis September 2013 über 2 Millionen Menschen aus Syrien in die Nachbarländer oder weiter geflüchtet, im Dezember sind es bereits 2,3 Millionen gewesen, darunter 52 % Kinder. Über 4 Millionen Menschen lebten als Binnenflüchtlinge in Syrien, weil sie wegen der Kampfhandlungen bzw. der Angriffe des syrischen Militärs ihre Wohnungen verloren oder diese aus Furcht verlassen hätten. Damit sei fast ein Drittel der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt auf der Flucht gewesen (vgl. auch AI Report 2016 Syrien, vom 02.03.2016).

HRW weist darauf hin, dass während der schrecklichen Brutalität der Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und Aufständischen nunmehr eine unbeachtete Misshandlung und Bestrafung von politischen Häftlingen, die wegen friedlicher Demonstration oder wegen Hilfeleistung gegenüber friedlichen Demonstranten in Not verhaftet worden seien, stattfinde (HRW vorn 03.10.2013, "Syria: Political Detainees tortured, killed"). In dem Bericht werden verschiedene namentlich benannte Einzelschicksale berichtet.

2.3. Aus diesen Entwicklungen in Syrien schließt die Kammer, dass auch gerade Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beachtlich wahrscheinlich massive Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 Asy1G durch syrische staatliche Sicherheitskräfte drohen, weil Regimegegnerschaft oder Nähe zu solcher vermutet wird (vgl. auch VG Meiningen, U. v. 27.03.2014 - 1 K 20092/12 Me und 1 K 20005/13 Me -, juris; U. v. 21.06.2016 - 1 K 20121/16 Me -, n.v.). Anhand des geschilderten massiven Vorgehens syrischer staatlicher Kräfte gegenüber inländischen - auch nur vermeintlichen - "Gegnern" zeigt sich eine Haltung des syrischen Staates, die Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulässt: Gegenüber potenziell der Regimegegnerschaft verdächtigen Staatsangehörigen werden ungeachtet der Frage, ob die tatsächlichen Umstände den Vorwurf regimegegnerischen Verhaltens tragen, ohne Weiteres Leben und Gesundheit schädigende Maßnahmen angewandt in der deutlichen Intention, jede Gegnerschaft bereits im Keim zu ersticken. Insbesondere auch der Tatsache, dass bereits seit Beginn der Demonstrationen Helfer und Unterstützer der Demonstranten oder solcher Hilfe Verdächtige, Beerdigungsteilnehmer ebenso wie im Krankensektor Arbeitende (Ärzte und Pflegepersonal), allein wegen der damit in den Augen des Regimes bekundeten Nähe zu den verletzten und toten Regimegegnern als Regimefeinde angesehen und mit Maßnahmen überzogen werden (HRW vom Dezember 2011 "By all means necessary", s.o.), ist zu entnehmen, dass der syrische Staat willens und bestrebt ist, jegliche regimekritische Betätigung bereits von vornherein zu verhindern. Ersichtlich betrachtet das Regime nicht differenziert, sondern greift bei potentieller Gegnerschaft sofort und unerbittlich zu.

Dabei kommt einem weiteren Gesichtspunkt maßgebliche Bedeutung für die dargelegte Prognose des Gerichtes zu: Angehörige der Sicherheitsdienste müssen sich für Folter, Misshandlung, Todesfälle oder Verschwindenlassen seit dem Jahr 2011 ausdrücklich nicht strafrechtlich verantworten. Ihnen wurde mit Ausbruch der inneren Unruhen in Syrien vom Staatspräsidenten Straffreiheit in Ausübung ihres Amtes zugesichert (AI, Amnesty-Report 2013, "Straflosigkeit").

2.4. Das Gericht schließt hierbei auf die politische Motivation von Rückkehrern bei einer obligatorischen Rückkehrerbefragung drohenden menschenrechtswidrigen Maßnahmen zum einen aufgrund der allgemeinen Eskalation der innenpolitischen Situation. Zum anderen ist maßgeblich Art und Weise sowie der Umfang der sich in Syrien derzeit und in jüngster Vergangenheit gegenüber an den Kampfhandlungen nicht direkt beteiligten Bevölkerungsgruppen ereignenden Übergriffe syrischer staatlicher Kräfte und staatstreuer Gruppierungen. Diese lassen eine verstärkte massive Gefährdung aller mit regimegegnerischer Betätigung in Beziehung und Nähe stehenden Personen im Inland erkennen: Es ergibt sich das Bild einer massiv intensivierten Bekämpfung innerstaatlicher Regimegegnerschaft bzw. vermeintlicher Untreue gegenüber dem Regime.

Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg, "Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus Sicht des syrischen Regimes nicht staatstreue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland Verbliebenen.

Ein deutliches Interesse des syrischen Regimes an der Nachverfolgung oppositioneller Betätigung syrischer Staatsangehöriger im westlichen Ausland ergibt sich zudem aus dem Umstand verstärkter Geheimdiensttätigkeit seit Ausbruch und Eskalation des Konflikts (Ad-Hoc-Lagebericht des AA vom 17.02.2012; Verfassungsschutzbericht 2012 des Bundesministeriums des Innern, Internet). Für ein nach wie vor aktives Interesse an Exilsyrern und ihren exilpolitischen Aktivitäten sprechen auch Berichte darüber, dass diese seitens der Regierung Assad dadurch bedroht wurden und werden, dass man ihre noch in der Heimat lebenden Verwandten mit Maßnahmen bis hin zur Folter überzieht (vgl. AI, Bericht vom Oktober 2011, "The Long Reach of the Mukharbarat: Violence and Harassment against Syrians abroad an their Relatives back home").

Auch die Existenz verschiedener Straftatbestände, die z. B. zu Kriegszeiten das Aufstellen von Behauptungen, die das Nationalgefühl schwächen, oder das wissentliche Verbreiten falscher oder übertriebener Nachrichten, die zur Schwächung des Nationalgefühls führen, sowie das Verbreiten wissentlich falscher oder übertriebener Informationen im Ausland unter die Androhung von Freiheitsstrafe stellen (vgl. Art. 285 bis Art. 287 des Syrischen Strafgesetzbuchs), legt ein Straf- und Informationsinteresse politischer Natur an Rückkehrern nahe. Damit ist über das syrische Strafgesetzbuch die Möglichkeit strafrechtlicher Verfolgung von "regimegegnerischen" Betätigungen und Äußerungen, vor allem der Verunglimpfung des syrischen Staates im Ausland, eröffnet.

Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt (Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land. Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.

2.5. Die bisherige Annahme der Beklagten, das syrische Regime hätte keine Veranlassung und angesichts der Bürgerkriegssituation in vielen Landesteilen auch keine Ressourcen, alle zurückgeführten Asylbewerber ohne erkennbaren individuellen Grund bzw. Bezug zu einer regimegegnerischen Haltung aus den in § 3 AsylG und § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gründen zu verfolgen, ist durch nichts belegt. Vielmehr sprechen die neuesten Erkenntnisse, insbesondere die Presseberichte der jüngsten Zeit (FR vom 11.03.2014, 15./16.03.2014; SZ vom 17.03.2014) zur Lage im Land dafür, dass das syrische Regime sich zwar in vielen Landesteilen mit den jeweiligen aufständischen Gruppierungen in massiven Kampfhandlungen befindet. Jedoch ist deutlich, dass es dem syrischen Militär lokal auch des Öfteren gelingt, Gebiete zurückzuerobern, insbesondere weil von Seiten der syrischen Machthaber Luftwaffe sowie Kriegswaffen, auch international geächtete Kriegswaffen, gegenüber den Gebieten eingesetzt werden, in denen Aufständische vermutet werden oder sich aufhalten (FR vom 15.03.2014; vgl. hierzu auch Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 07.12.2015). Das syrische Militär und die von ihm eingesetzten verbündeten Milizen haben vielfache Erfolge gegenüber den Aufständischen verbuchen können (SZ vom 17.03.2014; vgl. auch aktuell Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 11.04.2016). Trotz der Desertionswelle im Jahr 2011 ist das syrische Militär ersichtlich nach wie vor kampffähig und theoretisch in der Lage, den Bürgerkrieg zu gewinnen bzw. zumindest weite Teile des Kernlandes unter Kontrolle zu behalten. Damit ist das syrische Regime aber gerade für die über den Flughafen in Damaskus aus dem europäischen Ausland rückkehrenden Asylbewerber vor Ort präsent und ohne weiteres in der Lage, Rückkehrende zu kontrollieren.

Dabei sind aus Sicht des syrischen Geheimdienstes auch keine besondere Logistik bzw. Ressourcen an Personal erforderlich, da derzeit, angesichts der Lage im Land, nicht damit zu rechnen ist, dass Rückkehrer zeitgleich in großen Mengen zurückkehren. Zudem handelt es sich bei den verschiedenen syrischen Sicherheits- und Geheimdiensten um bereits langjährig und mit großer Routine funktionierende "Behörden", so dass die Annahme nahe liegt, dass diese auch in den heutigen Krisenzeiten ihre Effektivität nicht einbüßen und ihre Methoden weiterhin anwenden. Jedenfalls gibt es keinerlei Anhaltspunkte für gegenteilige Entwicklungen. Nach wie vor kontrollieren vier große Sicherheitsdienste in Syrien unabhängig voneinander alle Bereiche des militärischen und zivilen Lebens. Sie sind nur dem Staatspräsidenten gegenüber verantwortlich und unterhalten eigene Verhörzentralen und Hafteinrichtungen, wobei sie sich im rechtsfreien Raum bewegen (s.o.). Die syrischen Geheimdienste sollen nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes auch in Deutschland aktiv sein (Verfassungsschutzbericht 2012 des Bundesministeriums des Innern, Intemet). Es ist daher davon auszugehen, dass diese Staatsstrukturen nach wie vor funktionieren und unter denselben Vorgaben wie vor Ausbruch der Unruhen arbeiten, für welche Zeitintensive Rückkehrerbefragungen der genannten Art und Weise in vielen Fällen dokumentiert sind (vgl. die vom OVG Sachsen-Anhalt aufgezählten, auf der Grundlage überwiegend von Kurdwatch dokumentierten konkreten Fälle menschenrechtswidriger Rückkehrerbehandlung a.a.O.).

Es handelt sich auch um eine vergleichsweise geringe Anzahl an syrischen Flüchtlingen, die in Europa Schutz gesucht haben oder von Europa vorübergehend aufgenommen werden, verglichen mit der Zahl der Flüchtlinge, die in die Nachbarländer Syriens geflohen sind. Lediglich rund 53.000 Asylbegehren wurden in europäischen Staaten ohne die Türkei seit Ausbruch der Aufstände registriert (so UNHCR, "Internal Protection Considerations with regard to people fleeing the Syrian Arab Republic, Update II" vom 22.10.2013) gegenüber insgesamt über 2,3 Mio. Flüchtlingen in den Nachbarländern Syriens (AI, "An International Failure: The Syrian Refugee Crisis" vom 13.12.2013). Damit erscheint eine Kontrolle - auch wenn inzwischen ein deutlicher Anstieg der Asylanträge zu verzeichnen ist - von aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Syrern durchaus möglich und machbar.

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Beklagte selbst in vielen ihrer Entscheidungen davon ausgegangen ist, dass rückkehrende Asylbewerber im Rahmen einer obligatorischen Rückkehrerbefragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkret gefährdet seien, einer menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zur Folter unterzogen zu werden. Erkenntnismaterialien, aus denen sich deutlich ergeben würde, dass von Seiten des syrischen Regimes diese zu erwartenden Behandlungen nicht von der Vermutung politischer Gegnerschaft, sondern anders motiviert sind, kann die Beklagte hierzu auch aktuell nicht benennen. Sie sieht als Motiv für die drohende Rückkehrerbefragung eine reine Informationsgewinnungsabsicht über die Vorgänge und Gegebenheiten im jeweiligen westlichen Gastland des Rückkehrers, die sie für nicht in jedem Fall, sondern nur bei Vorliegen individueller Umstände für politisch motiviert hält. Zu Recht weist der VGH Baden-Württemberg hier darauf hin, dass Motivationen, die nicht für § 3 AsylG relevant wären, an dieser Stelle kaum vorstellbar und nicht wahrscheinlich sind (VGH Baden-Württemberg, B.v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris). In der momentanen innenpolitischen Situation kann sich die Absicht der Informationsgewinnung nur auf im weitesten Sinne politische Informationen aus dem Ausland beziehen. Es spricht damit derzeit alles dafür, dass die Behandlung, der sich rückkehrende Asylbewerber mit großer Wahrscheinlichkeit auch nach Auffassung der Beklagten bei einer Rückkehr nach Syrien werden unterziehen müssen, an eine vermutete regimegegnerische Haltung oder an die vermutete Nähe zu einer solchen anknüpft.

2.6. Ausreichend für die Annahme einer politischen Gerichtetheit der drohenden Maßnahmen ist im Übrigen, dass allein eine Nähe zur politischen Gegnerschaft dem Rückkehrer pauschal unterstellt und der daraus folgende "Informationsvorsprung des aus Europa Zurückkehrenden" durch Androhung und Ausführen von menschenrechtswidrigen Maßnahmen körperlicher und seelischer Gewalt abgeschöpft werden soll. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (allerdings zum Asylgrundrecht aus Art. 16a GG - aber in dieser Hinsicht auf die Flüchtlingsanerkennung übertragbar) verlangt die Asylanerkennung nicht, dass der Verfolgte entweder tatsächlich oder doch zumindest nach Überzeugung des verfolgenden Staates Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals ist: "Politische Verfolgung ist bereits zu bejahen, wenn Maßnahmen gegen Personen ergriffen werden, die einer nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Gruppierung zugerechnet werden ... oder wenn dies im Blick auf diese asylrelevanten Merkmale geschieht ... Deswegen dürfen bei einem vom Verfolger gehegten Verdacht der Trägerschaft von asylerheblichen Merkmalen die zur weiteren Aufklärung dieses Verdachtes eingesetzten Mittel nicht als asylrechtlich unbeachtlich qualifiziert werden ... Im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kann politische Verfolgung auch dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist." (BVerfG, Kammerbeschluss vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris). Dabei impliziert die Intensität der dafür zu befürchtenden Maßnahmen die Gerichtetheit (vgl. BVerfG, a.a.O.). Selbst wenn also die zu erwartenden Übergriffe bei Rückkehrern lediglich dem Abschöpfen von Information über vermutete Regimegegner dienen sollen, so wäre dies eine für die Flüchtlingsanerkennung ausreichende Motivation.

An der geschilderten politischen und daraus folgenden rechtlichen Situation hat sich auch aktuell nichts Wesentliches verändert, was Anlass zu einer anderen, abweichenden Einschätzung geben würde. Die weitere Entwicklung in Syrien in den Jahren 2015 und 2016 weist keine Verbesserung der politischen und rechtlichen Situation für Flüchtlinge aus Syrien aus. Vielmehr ist von einer Verschlechterung der Lage in Syrien durch die weitere Eskalation der Kampfhandlungen auszugehen (vgl. hierzu Deutsche Botschaft Beirut, zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 03.02.201 4 sowie AI Report 2016 Syrien vom 02.03.2016). [...]