VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 24.10.2016 - 3 B 2352/16 - asyl.net: M24472
https://www.asyl.net/rsdb/M24472
Leitsatz:

1. Bei der Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, bei der die Ausländerbehörde eine umfassende Abwägung unter Einstellung aller für und gegen die Verlustfeststellung sprechenden Umstände sowie unter Einhaltung der gemäß Art. 15 Unionsbürgerrichtlinie zu beachtenden Verfahrensgrundsätze der Art. 30 und 31 der Unionsbürgerrichtlinie vorzunehmen hat.

2. Die Entscheidung des EuGH vom 15.09.2015 - C 67/14 [asylnet: M23179]- besagt zu der erforderlichen Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nichts. Danach soll lediglich hinsichtlich des Bezugs von Sozialleistungen aufgrund des abgestuften Systems in der Unionsbürgerrichtlinie eine Einzelfallbetrachtung entfallen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unionsbürger, freizügigkeitsberechtigt, Unionsbürgerrichtlinie, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Sozialleistungen, Ermessen, Verlustfeststellung, Ausländerbehörde,
Normen: FreizügG/EU § 11 Abs 2, FreizügG/EU § 2 Abs 1, FreizügG/EU § 5 Abs 4, RL 2004/38/EG Art.15, RL 2004/38/EG Art. 30, RL 2004/38/EG Art. 31
Auszüge:

[...]

Zu Recht weisen die Antragsteller zunächst darauf hin, dass es sich bei der Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU um eine Ermessensentscheidung handelt, bei der die Ausländerbehörde eine umfassende Abwägung unter Einstellung aller für und gegen die Verlustfeststellung sprechenden sowie unter Einhaltung der gemäß Art. 15 UnionsbürgerRL zu beachtenden Verfahrensgrundsätze der Art. 30 und 31 der UnionsbürgerRL vorzunehmen hat. Der Antragsgegner hat in den angefochtenen Verfügungen vom 22. Februar 2016 und 6. Juli 2016 das ihm gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU zustehende Ermessen betätigt und Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Verlustfeststellung angestellt (S. 3 der angefochtenen Verfügungen vom 22.02.2016 bzw. 06.07.2016). Hierbei ist er nach Aktenlage - zutreffend - davon ausgegangen, dass die Verlustfeststellung als Ermessensentscheidung konstitutiv für die Beantwortung der Frage ist, ob die Freizügigkeitsvermutung und die darauf fußende Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes fortbesteht, ob gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz zur Anwendung kommt und ob die Ausreisepflicht gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU eintritt. Daran, dass gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU eine Ermessensentscheidung zu treffen ist, hat auch die Entscheidung des EuGH in der Sache Alimanovic (EuGH, Urteil vom 15.09.2015, C-67/14 juris) nichts geändert, wovon der Antragsgegner nach Aktenlage ausgegangen sein dürfte. Nach der Entscheidung des EuGH in der Sache Alimanovic entfällt zwar hinsichtlich des Bezugs von Sozialleistungen aufgrund des abgestuften Systems in der Unionsbürgerrichtlinie eine Einzelfallbewertung, dies besagt jedoch nichts für die Frage, ob bei der Verlustfeststellung als Ermessensentscheidung alle für und gegen sie sprechenden Gesichtspunkte eingestellt werden müssen. Letzteres ist nach wie vor der Fall. Entgegen der Auffassung der Antragsteller hat der Antragsgegner Ermessenserwägungen angestellt und dabei insbesondere die Dauer des Aufenthaltes der Antragsteller im Bundesgebiet, mithin den Grad ihrer Aufenthaltsverfestigung, eingestellt und berücksichtigt, dass erwartbar eine Einkommensverbesserung auf Seiten der Antragsteller nicht zu erwarten ist. Er hat weiter festgestellt, dass dem Familieneinkommen einschließlich Kindergeld i.H.v. 1576,62 € ein Bedarf von 1985,- € gegenüber steht, mithin eine Unterdeckung von 408,38 € besteht. Auch das Verwaltungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung die Dauer des Aufenthaltes der Antragsteller im Bundesgebiet und die erkennbaren Bindungen mit in seine Entscheidung eingestellt und zutreffend darauf verwiesen, dass Ermessensfehler des Antragsgegners nicht erkennbar sind. Es ist nicht zu beanstanden, dass bei einer monatlichen Unterdeckung von etwa 400 € der Antragsgegner davon ausgeht, dass die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU hinsichtlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel nicht gegeben sind und dass besondere Bindungen zum Bundesgebiet für die erst im September 2014 eingereisten Antragsteller nicht substantiiert dargelegt sind. Damit ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht hinreichend belegt, dass das der Antragsgegnerin gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU eingeräumte Ermessen dahingehend gebunden ist, dass sich nur ein Absehen von der Verlustfeststellung als ermessensfehlerfrei darstellen könnte.

Der Antragsgegner hat in den angefochtenen Bescheiden zudem geprüft, ob aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union - VO (EU) Nr. 492/2011 (vormals VO (EWG) Nr. 1612/68 vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft) Aufenthaltsrechte der Antragstellerin in dem Verfahren 3 B 2357/16 und 3 D 2358/19 (die am 18.12.2005 geborene Antragstellerin B. hat als einziges Familienmitglied die spanische Staatsangehörigkeit) und damit abgeleitete - einkommensunabhängige - Aufenthaltsrechte zumindest ihrer Eltern erwachsen könnten. Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 besagt, dass die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedsstaates wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedsstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen können. Die Antragstellerin B. ist jedoch nicht Kind eines Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates, sondern einzige EU-Bürgerin der Familie, ihre Eltern und Geschwister sind allesamt ecuadorianische Staatsangehörige. [...]