EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 07.03.2017 - C-638/16 PPU, X. und X. gg. Belgien - asyl.net: M24792
https://www.asyl.net/rsdb/M24792
Leitsatz:

EuGH zur Frage humanitärer Visa für Asylsuchende:

Für Visa, die für einen Aufenthaltszweck von über 90 Tagen gestellt werden (hier: humanitäres Visum zum Zwecke der Asylantragstellung) gilt nicht der Visakodex der EU, sondern beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts allein das nationale Recht.

(Leitsatz der Redaktion)

Für eine Besprechung des Urteils siehe folgenden Beitrag im FlüchtlingsforschungsBlog: fluechtlingsforschung.net/humanitare-visa-fur-fluchtlinge/

Schlagwörter: Visum, humanitäre Gründe, Visakodex, Flüchtlingsanerkennung, Unionsrecht, Syrien, Europäische Grundrechtecharta, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: VO 810/2009 Art. 25 Abs. 1 Buchst. a, GR-Charta Art. 4, GR-Charta Art. 18, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Zu den Vorlagefragen

38 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex dahin auszulegen ist, dass die dort genannten internationalen Verpflichtungen die Wahrung sämtlicher durch die Charta, insbesondere in deren Art. 4 und 18, sowie durch die EMRK und durch Art. 33 des Genfer Abkommens garantierter Rechte seitens eines Mitgliedstaats umfassen. Mit seiner zweiten Frage möchte es wissen, ob Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex unter Berücksichtigung der Antwort auf seine erste Frage dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der mit einem Antrag auf ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit befasst ist, das beantragte Visum erteilen muss, wenn die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 und/oder Art. 18 der Charta oder gegen eine internationale Verpflichtung, der dieser Mitgliedstaat nachkommen muss, besteht. Gegebenenfalls möchte es wissen, ob das Vorliegen von Verbindungen zwischen dem Antragsteller und dem mit dem Visumantrag befassten Mitgliedstaat insoweit Auswirkungen hat.

39 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand, dass das vorlegende Gericht eine Frage unter Bezugnahme nur auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran hindert, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. u.a. Urteil vom 12. Februar 2015, Oil Trading Poland, C-349/13, EU:C:2015:84, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Visakodex auf der Grundlage von Art. 62 Nr. 2 Buchst. a und b Ziff. ii des EG-Vertrags erlassen wurde, wonach der Rat der Europäischen Union Maßnahmen über Visa für geplante Aufenthalte von höchstens drei Monaten einschließlich der Verfahren und Voraussetzungen für die Visumerteilung durch die Mitgliedstaaten beschließt.

41 Mit dem Visakodex werden gemäß seinem Art. 1 die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt. Nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. a und b des Visakodex bezeichnet der Ausdruck "Visum" im Sinne dieses Kodex "die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung" im Hinblick auf "die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen" bzw. "die Durchreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen von Mitgliedstaaten".

42 Wie aus der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorgeht, stellten die Antragsteller des Ausgangsverfahrens bei der belgischen Botschaft im Libanon ihre auf Art. 25 des Visakodex gestützten Anträge auf Visa aus humanitären Gründen aber in der Absicht, sogleich nach ihrer Ankunft in Belgien in diesem Mitgliedstaat Asyl zu beantragen; sie strebten somit die Erteilung eines Aufenthaltstitels an, dessen Gültigkeit nicht auf 90 Tage beschränkt wäre.

43 Nach Art. 1 des Visakodex fallen solche Anträge, obgleich sie formal auf der Grundlage von Art. 25 dieses Kodex gestellt wurden, nicht in dessen Anwendungsbereich und insbesondere nicht in den Anwendungsbereich seines Art. 25 Abs. 1 Buchst. a, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht im Zusammenhang mit dem darin enthaltenen Begriff "internationale Verpflichtungen" ersucht.

44 Außerdem fallen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge allein unter das nationale Recht, weil der Unionsgesetzgeber bisher – wie die belgische Regierung und die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben – keinen auf Art. 79 Abs. 2 Buchst. a AEUV beruhenden Rechtsakt erlassen hat, der die Voraussetzungen betrifft, unter denen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen Visa oder Aufenthaltstitel für einen langfristigen Aufenthalt erteilen.

45 Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation somit nicht vom Unionsrecht geregelt ist, sind die Vorschriften der Charta, insbesondere deren Art. 4 und 18, auf die sich die Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen, nicht auf sie anwendbar (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19, und vom 27. März 2014, Torralbo Marcos, C-265/13, EU:C:2014:187, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

46 Das vorstehende Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. b des Visakodex "begründete Zweifel an der [vom Antragsteller] bekundeten Absicht …, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen", ein Grund für die Verweigerung des Visums und nicht für die Nichtanwendung dieses Kodex sind.

47 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation ist nämlich nicht dadurch gekennzeichnet, dass solche Zweifel bestehen, sondern durch einen Antrag, der einen anderen Gegenstand hat als den eines Visums für einen kurzfristigen Aufenthalt.

48 Das umgekehrte Ergebnis liefe überdies darauf hinaus, dass Drittstaatsangehörige unter Berufung auf den Visakodex, obwohl er für die Zwecke der Erteilung von Visa für Aufenthalte im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen konzipiert wurde, Visumanträge mit dem Ziel stellen könnten, die Gewährung internationalen Schutzes im Mitgliedstaat ihrer Wahl zu erreichen, was die allgemeine Systematik des mit der Verordnung Nr. 604/2013 geschaffenen Systems beeinträchtigen würde.

49 Außerdem würde das umgekehrte Ergebnis bedeuten, dass die Mitgliedstaaten nach dem Visakodex verpflichtet wären, es Drittstaatsangehörigen de facto zu ermöglichen, einen Antrag auf internationalen Schutz bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines Drittstaats zu stellen. Auch wenn der Visakodex nicht dazu dient, die Regelungen der Mitgliedstaaten über den internationalen Schutz zu harmonisieren, ist aber festzustellen, dass die auf der Grundlage von Art. 78 AEUV erlassenen Rechtsakte der Union, die die Verfahren für Anträge auf internationalen Schutz regeln, keine solche Verpflichtung vorsehen; sie schließen im Gegenteil Anträge, die bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten gestellt werden, von ihrem Anwendungsbereich aus. So geht aus Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/32 hervor, dass sie für Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, gilt, nicht aber für Ersuchen um diplomatisches oder territoriales Asyl in Vertretungen der Mitgliedstaaten. Ebenso ergibt sich aus Art. 1 und Art. 3 der Verordnung Nr. 604/2013, dass sie die Mitgliedstaaten nur dazu verpflichtet, jeden im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, und dass die in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren nur für solche Anträge auf internationalen Schutz gelten.

50 Unter diesen Umständen haben die belgischen Behörden die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge fälschlich als Anträge auf Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt eingestuft.

51 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 1 des Visakodex dahin auszulegen ist, dass für einen Antrag auf ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit, der von einem Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen auf der Grundlage von Art. 25 dieses Kodex bei der Vertretung des Zielmitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines Drittstaats in der Absicht gestellt wird, sogleich nach seiner Ankunft in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und sich infolgedessen in einem Zeitraum von 180 Tagen länger als 90 Tage dort aufzuhalten, nicht der Visakodex gilt, sondern beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts allein das nationale Recht. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass für einen Antrag auf ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit, der von einem Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen auf der Grundlage von Art. 25 dieses Kodex bei der Vertretung des Zielmitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines Drittstaats in der Absicht gestellt wird, sogleich nach seiner Ankunft in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und sich infolgedessen in einem Zeitraum von 180 Tagen länger als 90 Tage dort aufzuhalten, nicht der Visakodex gilt, sondern beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts allein das nationale Recht. [...]