VG Halle

Merkliste
Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 14.07.2017 - 3 A 231/16 HAL - asyl.net: M25327
https://www.asyl.net/rsdb/M25327
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Minderjährigen, der zwangsrekrutiert wurde:

1. Dem Kläger droht in Syrien eine asylerhebliche Verfolgung gegen Kinder nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG durch den syrischen Staat. Vorverfolgung liegt vor, da er bereits zwangsrekrutiert wurde.

2. Zudem ist er von Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung eines völkerrechtswidrigen Militärdienstes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bedroht.

3. Da ihm eine staatsfeindliche Einstellung unterstellt wird, droht ihm Verfolgung aus politischen Gründen nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (in Auseinandersetzung mit entgegenstehendem Urteil des OVG NRW vom 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A - asyl.net: M25072, Asylmagazin 7-8/2017, mit Anmerkung von Julia Idler).

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf Herkunftslandinformationen zur Zwangsrekrutierung Minderjähriger in Syrien)

Schlagwörter: Syrien, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, minderjährig, Zwangsrekrutierung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, Rückkehrbefragung, politische Verfolgung, minderjährig, Kinder, Kind, Verfolgungsgrund, Wehrpflicht, Wehrdienstverweigerung, Einberufung, Vorverfolgung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3c, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 4, AsylG § 28 Abs. 1a, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3a Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Nach den zugrunde zu legenden Erkenntnismitteln der Kammer droht dem Kläger Verfolgung im vorgenannten Sinne durch den syrischen Staat. Dem Kläger droht wegen Verweigerung des Militärdienstes (dazu 1.) eine Verfolgungshandlung, die gegen Kinder gerichtet ist (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG) sowie Strafverfolgung oder Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (dazu 2.) in einem Konflikt, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die als Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren wären (dazu 3.), aufgrund einer ihnen unterstellten politischen Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (dazu 4.), ohne dass ihm eine inländische Fluchtalternative offen stünde (dazu 5.). [...]

1. Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist dem am … 2000 geborenen Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Kläger ist bereits vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Er hat in seiner Anhörung beim Bundesamt vorgetragen, er sei dort immer kontrolliert worden, manchmal sei er auch mitgenommen worden und habe dann Sandsäcke mit Sand oder Steinen befüllen müssen. [...]

Zudem liegen auch Nachfluchtgründe vor. Denn dem Kläger droht im Falle seiner Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") eine asylerhebliche Verfolgung gegen Kinder (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG) durch den syrischen Staat. Er ist bei einer Rückkehr zudem konkret von Strafverfolgung oder Bestrafung durch den syrischen Staat wegen Verweigerung des Militärdienstes bedroht, in einem Konflikt, der u.a. Kriegsverbrechen umfasst, und dies aus Gründen (unterstellter) staatsfeindlicher Einstellung, somit aus politischen Gründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr mit beachtlicher Verfolgung die Einziehung zum Wehrdienst durch die syrische Armee. Dies gilt zum einen, da er in etwa einem halben Jahr die Volljährigkeit erreichen wird, was das Gericht im Rahmen seiner zu treffenden Prognoseentscheidung zu berücksichtigen hat und zum anderen, da das syrische Regime und die National Defence Forces (NDF) bereits Minderjährige als Kämpfer rekrutieren. [...]

Es ist also nicht mehr davon auszugehen, dass noch formell einberufen wird, sondern eine Rekrutierung jeder Zeit "von der Straße weg" erfolgen kann.

Dass es sich bei der Schilderung der Rekrutierung von Minderjährigen in den der Entscheidung zugrundeliegenden Erkenntnismitteln um Schilderungen von Einzelfällen handelt, steht der Prognose eines "real risks" nicht entgegen. [...]

Doch selbst wenn man davon ausgehen würde, dem Kläger drohe keine Rekrutierung unmittelbar in die Syrische Armee, wäre er dennoch gefährdet, durch die National Defence Forces (NDF) rekrutiert zu werden. Diese und andere paramilitärische Milizen rekrutieren Minderjährige und schicken sie teils ohne jede Ausbildung in den Kampfeinsatz (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst, 30.11.2016, S. 5 unter Verweis auf UN Human Rights Council vom 11. August 2016). [...] Kinder werden als Zwangsarbeiter oder Informanten benutzt, wodurch sie dem Risiko von Vergeltungsakten oder extremen Bestrafungen ausgesetzt sind. Einige bewaffnete Gruppierungen, die auf der Seite der Regierung kämpfen, zwangsrekrutieren Kinder - manche nicht älter als 6 Jahre (a.a.O. S. 22).

2. Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen stellen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar. Die Zwangsrekrutierung von Kindern bildet den klassischen Anwendungsfall der in § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG gesetzlich definierten Verfolgungshandlung (vgl. VG Bremen, Urteil vom 27. April 2017 - 5 K 3839/16 -, Rn. 29, juris).

Darüber hinaus droht dem Kläger eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 AsylG fallen. [...]

Folglich würde eine Weigerung des Klägers, den Wehrdienst zu leisten, zu derartigen Bestrafungen führen. Er hätte auch keine Möglichkeit, sich den lebensgefährdenden Hilfsarbeiten zu entziehen, zu denen er bereits vor seiner Ausreise und damit schon in jüngeren Jahren verpflichtet wurde. [...]

Wenn der Kläger als Minderjähriger nach Syrien zurückkehren und damit rechtswidrig eingezogen werden würde, hätte er keine Möglichkeit, im Falle rechtswidriger Rekrutierung Rechtsschutz zu erlangen. [...] Es ist derzeit nicht davon auszugehen, dass im Falle der Weigerung zum Kriegseinsatz eine tatsächliche Rechtsschutzmöglichkeit besteht. So führt der aktuelle Bericht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich aus (5.1.2017, S. 13): "Die Arabische Republik Syrien existiert formal noch, ist de facto jedoch in vom Regime, vom IS, von der Kurdisch Demokratischen Unionspartei (PYD) und von anderen Rebellen-Fraktionen kontrollierte Gebiete aufgeteilt (BS 2016)." Kommt es zu willkürlichen Verhaftungen. wissen Verhaftete oft nicht, von welcher Institution sie inhaftiert sind. Sie kennen weder den Grund der Verhaftung noch wissen sie, wohin sie gebracht werden. […] Auf eine rein formal bestehende, tatsächlich nicht umgesetzte Rechtsschutzpraxis kann der Kläger nicht verwiesen werden. [...]

4. Die drohende Verfolgungshandlung beruht auch auf einem Verfolgungsgrund i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG. Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon aus, dass die dargestellte Strafverfolgung oder Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgrund einer dem Kläger unterstellten politischen Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG beruht. [...]

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen führt dagegen im Urteil vom 04. Mai 2017 (Az.: 14 A 2023/16.A -, Rn. 70, juris) aus: [...]

Mag das Phänomen der Furcht vor Krieg ein kulturübergreifendes sein, entscheidend für den vorliegenden Fall sind allein die Konsequenzen, die seitens des Staates daraus gezogen werden. [...]

Dass für eine Person, die sich dem Militärdienst entzogen hat, eine deutlich erhöhte Gefahr besteht, als Oppositioneller eingestuft zu werden, ergibt sich schon daraus, dass die Mobilisierung der syrischen Armee gerade der Bekämpfung der ("oppositionellen") Rebellengruppen dient (vgl. UNHCR, a.a.O., S. 26). [...]

All dies zeigt, dass eine Bestrafung wegen der Weigerung zur Ableistung des Militärdienstes nicht allein den Charakter einer Sanktionierung hat. Vielmehr wird der Verweigerer zu einem Feindbild erhoben, seine Bestrafung oder gar Tötung exemplarisch als Einschüchterung missbraucht. Entscheidend ist, dass derjenige nicht in der gemeinsamen Sache des Regimes kämpft. Eine oppositionelle Haltung wird schon deshalb zugeschrieben, um andere davon abzuhalten, sich ebenso zu verweigern (in diese Richtung auch: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 02. Mai 2017 - A 11 S 562/17 -, Rn. 68, juris). Diese lediglich unterstellte politische Haltung genügt jedoch.

Die Verfolgung ging und geht vom syrischen Staat aus, § 3c Nr. 1 AsylG. Denn die Bestrafung erfolgt durch diesen. Das Gericht hat keinen Anhalt für die Annahme, dass der Staat aktuell hierzu nicht mehr Willens oder in der Lage wäre. [...]

Verfolgung geht zudem von der NDF aus. Selbst wenn man davon ausgehen würde, die paramilitärischen Truppen seien keine durch den syrischen Staat selbst gegründete Institution, so dass die Verfolgung nach § 3c Nr. 3 AsylG von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen würde, duldet der Staat deren Vorgehen im Sinne des § 3a Nr. 3 AsylG und ist nicht willens, Schutz vor diesen zu bieten. [...]

Der syrische Staat bietet somit nicht nur keinen Schutz vor der Verfolgung durch die NDF, sondern hat sie überhaupt erst so erstarken lassen.

5. Dem Kläger steht voraussichtlich auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG offen. [...]