VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 03.08.2017 - 7 K 806/16.A - asyl.net: M25425
https://www.asyl.net/rsdb/M25425
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Wehrdienstentziehung in Syrien:

1. Bei Rückkehr nach Syrien kommt es zu Einreisebefragungen, bei denen es zu Folterungen kommen kann. Allerdings knüpfen diese nicht allein wegen (illegaler) Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt in Deutschland an eine flüchtlingsrelevante Gesinnung oder Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe an.

2. Dem Kläger droht aber Verfolgung wegen unterstellter oppositioneller Gesinnung, weil er in Syrien der Wehrpflicht unterliegt und sich dieser durch Ausreise entzogen hat.

3. Erschwerend kommt hinzu, dass er aus der von Regierungstruppen und Rebellengruppen umkämpften Stadt Aleppo stammt und ihm daher eine regimefeindliche Haltung unterstellt wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Wehrdienstentziehung, Militärdienst, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Folter, Flüchtlingseigenschaft, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Rückkehrbefragung, Verfolgungsgrund, Wehrpflicht, Wehrdienstverweigerung, Einberufung, Verknüpfung, Bestrafung, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Asylantragstellung, Ausreise, gefahrerhöhende Umstände, illegale Ausreise, illegaler Aufenthalt, Asylantrag, Aleppo, Upgrade-Klage
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b, AsylG § 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3c, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 Asylgesetz - AsylG – zu, weil er in Syrien der Wehrpflicht unterliegt und sich dieser durch seine Ausreise entzogen hat und ihm daher bei der Einreise im Zusammenhang mit den Sicherheitskontrollen durch die syrischen Sicherheitskräfte in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung i.S.d. § 3a Abs. l, Abs. 2 Nr. 1 AsylG, insbesondere Folter, droht. [...]

Im vorliegenden Fall sind vor diesem Hintergrund die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung nach § 3 Abs. 1 AsylG gegeben. Es besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger einer Verfolgung wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals ausgesetzt ist. [...]

2. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich jedoch aus den vorliegenden Nachfluchtgründen, § 28 Abs. 1a AsylG.

Zwar rechtfertigen die nach einer (illegalen) Ausreise, der Asylantragstellung und dem Aufenthalt in Deutschland mit allen Rückkehrern durch die syrischen Behörden durchgeführten Einreisebefragungen, bei denen es zu Folterungen kommen kann, für sich genommen eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (hierzu unter a.). Dem Kläger droht aber deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil er in Syrien der Wehrpflicht unterliegt und sich dieser durch seine Ausreise entzogen hat (hierzu unter b.). Erschwerend kommt hinzu, dass der Kläger aus der von Regierungstruppen und Rebellengruppen umkämpften Stadt Aleppo stammt (hierzu unter c.). [...]

a. Zunächst rechtfertigen die nach einer (illegalen) Ausreise, der Asylantragstellung und des Aufenthalts in Deutschland bei einer hypothetischen Rückkehr, insbesondere über den Flughafen Damaskus, drohenden Befragungen durch die syrischen Behörden für sich genommen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die begründete Furcht vor Verfolgung.

Zwar ist im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände anhand der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel (hierzu unter aa.) davon auszugehen, dass jedem syrischen Asylantragsteller bei Rückkehr Befragungen durch die syrischen Sicherheitskräfte drohen, bei denen es auch mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu Folterungen kommen kann, was als Verfolgunghandlung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG zu bewerten ist (hierzu unter bb.). Allerdings ist nicht anzunehmen, dass die drohende Befragung und Folter an eine tatsächliche oder dem Rückkehrer lediglich aufgrund seiner Ausreise, der Asylantragstellung und dem Aufenthalt im Ausland auch nur unterstellte politische, religiöse oder sonst für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erhebliche Gesinnung oder Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe anknüpft, § 3a Abs. 3 AsylG (hierzu unter cc.). [...]

bb. Die vorgenannten Erkenntnismittel belegen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass jeder Rückkehrer bei der Einreise durch die syrischen Sicherheitsbehörden einer Befragung unterzogen wird, um die Gründe für seine Ausreise sowie Informationen zu seinem Auslandsaufenthalt zu erlangen. Aufgrund des Umstandes, dass das syrische Regime insbesondere seit dem Ausbruch der Unruhen im Jahr 2011 ohne Achtung der Menschenrechte mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner vorgeht, um seine Macht zu erhalten, ist zudem mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass es bei der Befragung der Rückkehrer zu Misshandlungen und Folter und damit zu Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kommen kann, da diese - den Aussagen der Sachverständigen Petra Becker folgend - beinahe routinemäßig angewandt werden, um an Informationen zu gelangen. Es kann auf der Grundlage der genannten Erkenntnisquellen davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitskräfte eine Art "carte blanche" haben, um zu tun, was immer sie tun wollen, wenn sie die Wiedereinreisenden einer Kontrolle unterziehen, um unter ihnen mögliche Regimegegner oder auch Terroristen herauszufiltern. [...]

cc. Anhand dieser Erkenntnismittel lässt sich jedoch nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Verfolgungshandlungen "wegen" eines bestimmten Verfolgungsgrundes (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG) zu befürchten sind. Es fehlt jedenfalls an der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung. [...]

Allerdings ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger allein wegen seiner Ausreise, seines Asylantrages und des Aufenthaltes in Deutschland vom syrischen Staat eine oppositionelle Haltung zugeschrieben wird und er aus diesem Grund bei einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG ausgesetzt wäre. [...]

b. Der Kläger unterliegt jedoch in Syrien der Wehrpflicht und hat sich dieser durch seine Ausreise entzogen (hierzu unter aa.). Anhand einer Gesamtschau der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass Rückkehrern im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich durch Flucht ins Ausland einer in der Bürgerkriegssituation drohenden Einberufung zum Militärdienst entzogen haben, bei der Einreise im Zusammenhang mit den Sicherheitskontrollen durch die syrischen Sicherheitskräfte in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung i.S.d. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. l AsylG, insbesondere Folter, droht (hierzu unter bb.). [...]

bb. In der Wehrdienstpflichtentziehung des Klägers ist ein individuell gefahrerhöhender Umstand zu sehen, der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Zuschreibung einer regimefeindlichen Haltung und hieran anknüpfende Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG, insbesondere Folter im Rahmen der bei einer Rückreise durchgeführten Befragung, zur Folge hätte.

Da bei der Behandlung von erstmals Wehrpflichtigen und Reservisten, die sich der Wehrpflicht entziehen, seitens des syrischen Regimes keine Unterschiede festzustellen sind, erscheint auch hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft keine unterschiedliche Bewertung angezeigt. Es kommt auch nicht darauf an, ob bereits ein Einberufungsbescheid vorliegt oder nicht, da nach der aktuellen Erkenntnislage Rekrutierungen auch jenseits eines formalen Einberufungsverfahrens vorgenommen werden, beispielsweise an Checkpoints oder bei Razzien in Wohnquartieren und Universitäten (vgl. SFH, Auskunft vom 30. Juli 2014, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, S. 3). [...]

cc. Darüber hinausgehende Ausführungen zu weiteren möglichen Verfolgungshandlungen seitens des syrischen Regimes, insbesondere im Hinblick auf eine gegebenenfalls dem Kläger gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG drohende Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes, sind nicht mehr veranlasst.

c. Erschwerend kommt vorliegend hinzu, dass der Kläger aus der von Rebellen und Regierungstruppen umkämpften Stadt Aleppo stammt. Dies lässt die Gefahr für Verfolgungshandlungen im Rahmen der Einreisekontrollen durch die syrischen Sicherheitskräfte in Anknüpfung an eine dem Kläger unterstellte oppositionelle Haltung noch beachtlicher erscheinen.

Anhand der vorliegenden Erkenntnismittel ist anzunehmen, dass Personen aus bestimmten Regionen und Gebieten, insbesondere solchen, die unter der Kontrolle oppositioneller Kräfte stehen oder standen, einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sein können, vom syrischen Regime eine regimefeindliche Haltung zugeschrieben zu bekommen (hierzu unter aa.). Dies trifft auch für den aus Aleppo stammenden Kläger zu. Es ist davon auszugehen, dass die dem Kläger bei der (hypothetischen) Wiedereinreise drohende Befragung und Folter vorliegend daher ebenfalls an eine tatsächliche oder ihm lediglich aufgrund seiner Herkunft aus dieser Region unterstellte politische Gesinnung anknüpft, § 3a Abs. 3 AsylG (hierzu unter bb.). [...]

bb. Aus den vorgenannten Erkenntnissen ergibt sich, dass gerade die Herkunft aus Gebieten, die unter der Kontrolle von oppositionellen Gruppierungen stehen, eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen einer zugeschriebenen politischen Überzeugung rechtfertigen kann.

Der Kläger stammt aus Aleppo. In die militärischen Auseinandersetzungen in und um Aleppo waren neben den syrischen Streit- und Sicherheitskräften, kurdische und schiitische Milizen, diverse lokale Gruppierungen, die syrische Oppositionsgruppe Ahrar al-Sham sowie Kräfte der al-Quaida-Regionalorganisation Jabhat al-Nusra involviert. Verschiedene Stadtviertel von Aleppo wurden vom bewaffneten Widerstand gehalten (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage (BT-Drs 18/8304): Militärische Lageentwicklung im Syrienkonflikt und Stand des Genfer Prozesses, BT-Drs. 18/8543, 24.5.2016, S. 8). [...]

Aus der Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnismittel folgt, dass dem wehrpflichtigen Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch in Anknüpfung an seine Herkunft aus einem durch eine oppositionelle Gruppe besetzten Gebiet eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt wird (vgl. im Ergebnis auch VGH Hessen, Urteile vom 6. Juni 2017 - 3 A 3040/16.A, 3 A 255/17.A, 3 A 747/17.A laut Pressemitteilung vom 6. Juni 2017; VG Bremen, Urteil vom 27. April 2017 - 5 K 1228/16 -; VG Köln, Urteil vom 24. April 2017 - 20 K 7836/16.A -; jeweils juris; a.A.: VG Braunschweig, Urteil vom 27. März 2017 - 9 A 51/17 , juris Rn. 4; VG Dresden, Urteil vom 1. März 2017 - 4 K 689/16.A, juris). Der UNHCR führt dazu aus, dass eine Besonderheit des Konfliktes in Syrien darin bestehe, dass die verschiedenen Konfliktparteien, insbesondere das syrische Regime, oftmals größeren Personengruppen allein wegen ihrer Herkunft aus bestimmten Gebieten eine politische Meinung unterstelle. [...] Insbesondere im vorliegenden Fall des sich im wehrpflichtigen Alter befindlichen Klägers liegt es nahe, dass der syrische Staat diesem in Anwendung seines strengen Freund-Feind-Bildes aufgrund seiner Herkunft aus einem oppositionellen Gebiet unterstellen würde, deshalb nicht für das syrische Regime kämpfen zu wollen, weil er eine gegnerische Konfliktpartei unterstützt und dem Kläger aus diesem Grund mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsbandlungen in Form der weit verbreiteten Misshandlungen und Folter drohen. Für diese Annahme sprechen insbesondere die Ausführungen des UNHCR dazu, dass Männern im wehrpflichtigen Alter aus Gebieten unter der Kontrolle von regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen wahrscheinlich von den syrischen Rebellen unterstellt werde, dass sie diese regimefeindlichen Gruppen unterstützten oder sich sogar an feindlichen bewaffneten Auseinandersetzungen mit Regierungskräften beteiligten, weshalb sie wegen ihrer vermeintlichen regimefeindlichen Ansichten einem erhöhten Risiko ausgesetzt seien, gezielt verhaftet, zwangsverschleppt, gefoltert und im schlimmsten Fall extralegal hingerichtet zu werden, wenn Regierungskräfte ihrer habhaft werden. [...]