VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 09.11.2017 - 6 K 13718/16.A - asyl.net: M25708
https://www.asyl.net/rsdb/M25708
Leitsatz:

Sanktionen des eritreischen Staates gegen Angehörige von Personen, die sich dem Nationaldienst durch illegale Ausreise entzogen haben, knüpfen nicht ohne weiteres an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal i.S.d. § 3b AsylG - hier: die politische Überzeugung - des Angehörigen an (Anschluss an Urteil vom 16. März 2017 – 6 K 12164/16.A –, juris).

Vorverfolgt ausgereiste Angehörige von Deserteuren können sich auf die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 EURL 2011/95/EU berufen.

Die außergerichtliche und willkürliche Inhaftierung von Angehörigen von Deserteuren stellt Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG und zugleich unmenschliche und erniedrigende Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i.V.m. Art. 3 EMRK dar.

Zur Verfolgung in Eritrea wegen exilpolitischen Betätigung (hier verneint).

Zur Verfolgung pfingstchristlicher Glaubensangehöriger in Eritrea (hier verneint).

Zur Zwangsbeschneidung in Eritrea.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Eritrea, Asylrelevanz, Nationaldienst, nationaler Dienst, Militärdienst, religiöse Verfolgung, politische Verfolgung, Konvertiten, Sippenhaft, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Haft, Diaspora-Steuer, Diaspora-Status, Reuebrief, Genitalverstümmelung, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, illegale Ausreise, Religionszugehörigkeit, Vorverfolgung, Wehrdienstverweigerung, Desertion, Exilpolitik, Verfolgungsgrund,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2, AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3a, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Sie ist teilweise begründet. [...]

I. Den Klägern steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu. [...]

Im Zeitpunkt der Ausreise drohte der Klägerin zu 1. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jederzeit die willkürliche und außergerichtliche Verhaftung. Die Klägerin schilderte mehrfach – sowohl schriftlich als auch mündlich bei ihrer persönlichen Anhörung und gegenüber dem Einzelrichter –, dass sie mehrere Male von Soldaten zu Hause aufgesucht und nach dem Verbleib ihres aus dem Nationaldienst desertierten Ehemannes befragt und einmal für wenige Tage inhaftiert worden sei. [...]

Diese Schilderungen decken sich mit vorliegenden Berichten über außergerichtliche und willkürliche Inhaftierungen von Familienangehörigen von Deserteuren und Dienstverweigerern. Insofern ergibt sich nach Würdigung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen folgendes Bild:

Die Ermittlung der tatsächlichen Sanktionierungspraxis der eritreischen Behörden ist aufgrund der lückenhaften Auskunftslage zu Eritrea schwierig. Es existieren nur wenige verlässliche Primärquellen und nur wenige überprüfbare Informationen, die auf in Eritrea erhobenen empirischen Daten beruhen. Zahlreiche Informationen von Quellen außerhalb Eritreas sind Meinungen, Annahmen, Spekulationen und Schätzungen ohne empirische Datenbasis. Die verfügbaren Informationen sind oft wenig spezifisch, nicht aktuell, widersprüchlich und nicht verifizierbar. Sie beruhen teilweise auf unbekannten Quellen, was Quellenkritik und Quellenvalidierung verunmöglicht. Methodisch problematisch ist zudem, dass sich manche Organisationen in ihren Berichten über Eritrea gegenseitig zitieren und Quellen verwenden, ohne diese zu referenzieren. So kann der täuschende Eindruck einer breiten Quellenbasis für bestimmte Informationen entstehen, auch wenn die tatsächliche Quellenlage sehr dünn ist (Problematik der gegenseitigen Zitierung, "round-tripping" genannt) (Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Januar 2017 – D-7898/2015 – S. 15).

Eritrea ist in vielen Bereichen eine "black box". Innerhalb des Einparteienstaates existieren seit 2001 keine nichtstaatlichen Medien und keine kritischen Stimmen mehr. Die eritreische Verwaltung (zivil und militärisch) verhält sich weitgehend intransparent. Änderungen der behördlichen Praxis werden kaum je öffentlich kommuniziert. Von den westlichen Staaten verfügen derzeit die USA, Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, eine Delegation der EU und Israel über Botschaften in Eritrea. Sie sind in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Die Mehrheit der Informationen in Berichten von Menschenrechtsorganisationen stützt sich aufgrund des fehlenden Zugangs zum Land auf Quellen außerhalb Eritreas, hauptsächlich auf Aussagen von eritreischen Flüchtlingen und Asylsuchenden. Problematisch hieran wird gesehen, dass Asylsuchende Eigeninteressen hätten, eine kritische Auseinandersetzung mit den verwendeten Quellen aber größtenteils fehle (vgl. Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Januar 2017 – D-7898/2015 – S. 15 f.; Landinfo, Report Eritrea: National Service, 20. Mai 2016, S. 6 f.).

Den vorliegenden Berichten ist jedoch zu entnehmen, dass Deserteuren und Dienstverweigerern in der Praxis Haftstrafen drohen, welche außergerichtlich und willkürlich – häufig von Militärvorgesetzten – verhängt werden (EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 42; SEM, Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22. Juni 2016, S. 21).

Die Haftbedingungen sind häufig unmenschlich hart und lebensbedrohlich, insbesondere wegen massiver Überbelegung der Gefängnisse unzureichender medizinischer Behandlung und der Anwendung von incommunicado-Haft. Folter und Misshandlungen sind während der Inhaftierung verbreitet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, 21. November 2016, S. 15; Amnesty International, Eritrea - 20 Years of Independence, but still no Freedom, Mai 2013, S. 27. Human Rights Council, Bericht vom 8. Juni 2016, Nr. 219; Kibreab, The Open-Ended Eritrean National Service, Oktober 2014, S. 5, 14 (“draft evaders, deserters are routinely subjected to torture and detention under severe conditions”)).

Der Bericht des EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 46 f., führt hierzu exemplarisch aus: "Einige Haftanstalten sind unterirdisch oder befinden sich in Schiffscontainern. In diesen kann es aufgrund des Klimas in Eritrea extrem heiß werden.

Die Zellen sind oft derart überfüllt, dass sich die Häftlinge nur abwechselnd oder gar nicht hinlegen können.

Die hygienischen Bedingungen sind schlecht. In manchen Gefängnissen gibt es anstelle einer Toilette nur ein Loch im Boden oder einen Kübel. Hofgang wird oft nicht erlaubt. Es gibt kaum medizinische Versorgung.

Die Essensrationen sind klein und wenig nahrhaft, der Zugang zu Trinkwasser eingeschränkt.

Teils werden die Häftlinge misshandelt oder gefoltert und zu Zwangsarbeit eingesetzt.

Angehörige haben häufig keinen Zugang zu den Häftlingen.

Frauen werden üblicherweise getrennt von Männern untergebracht. Dennoch gibt es Berichte über sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung z.B. durch Wächter.

Aufgrund dieser schwierigen Umstände kommt es Berichten zufolge immer wieder zu Todesfällen in Haft“.

Zu den gängigen Foltermethoden gehören unter anderem Fesselungen über Tage oder sogar Wochen an Händen und oder Füßen mit Seilen und Handschellen ("Helikopter", "Ferro", "Otto", "Jesus Christ") sowie das Verharren in einem Lastwagenreifen ("Gomma"). Auch Waterboarding wird angewandt sowie das erzwungene Barfußgehen über scharfe Gegenstände oder sehr heißen Wüstenboden. Hinzu kommen meist Schläge (EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 47; Human Rights Council, Bericht vom 5. Juni 2015, S. 284 ff. (Nr. 1015 ff.)).

Die Haftdauer liegt einigen Berichten zufolge im Bereich von einem Monat bis zu zwei Jahren, wobei Dienstverweigerer damit rechnen müssen, für einige Monate ohne Anklage inhaftiert und danach in die militärische Ausbildung – welche oftmals unter prekären, haftähnlichen Bedingungen stattfindet – überführt zu werden. Andere Betroffene berichten von einer Haftdauer von einigen Tagen bis zu mehreren Jahren, während der sie teilweise auch gefoltert würden (EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 42; SEM, Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22. Juni 2016, S. 19, 25, 31 m.w.N.; Amnesty International, Eritrea - 20 Years of Independence, but still no Freedom, Mai 2013, S. 26 f.), wobei offenbar Geldzahlungen sowohl die Dauer als auch die Bedingungen der Inhaftierung bisweilen günstig beeinflussen können (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 21. November 2016, S. 17).

Strafmaßnahmen beschränken sich nach einigen Quellen auch nicht auf die Personen, die sich dem Nationalen Dienst entziehen, sondern treffen oft auch, wenn auch nicht systematisch, Familienangehörige. Gegen diese werden sowohl Geldzahlungen wie z.B. eine "Geldbuße" von in der Regel rund 50.000 Nafka als auch Freiheitsentzug verhängt, um ins Ausland geflohene Deserteure bzw. Dienstverweigerer zur Rückkehr zu bewegen. Weitere Repressalien bestehen im Entzug von Genehmigungen zum Betrieb eines Gewerbes oder im Entzug von Eigentum (vgl. Schweizerisches Bundesamt für Migration, National Service and State Structures in Eritrea, 28. Juni 2012, S. 10 f.; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Eritrea, 20. April 2011, S. 17 f.; EASO, a.a.O., S. 43 m.w.N.; vgl. Auch Amnesty International [AI], Just Deserters, August 2016, S. 42; UN-Kommission, Report 2015, S. 203 f. Abs. 748 f.).

Es besteht kein durchgreifender Anlass, unter Berücksichtigung der vorstehenden Erkenntnisse an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin zu 1. zu zweifeln. [...] Soweit das Bundesamt die fehlende Glaubhaftigkeit daraus abzuleiten sucht, die von der Klägerin dargestellte Einreise nach Saudi-Arabien mit gefälschten Pässen aus dem Sudan sei in Anbetracht der strengen Passkontrollen in Saudi-Arabien auszuschließen, so geht dies ohne – hier fehlende – belastbare Quellen nicht über eine bloße Behauptung hinaus. [...]

bb) Drohte der Klägerin zu 1. mithin als Ehefrau eines Deserteurs eine außergerichtliche und willkürliche Inhaftierung in Eritrea, die nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu bewerten ist, fehlte es gleichwohl an einem Verfolgungsgrund gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 b Abs. 1 AsylG. Letzteres läge nur dann vor, wenn die Verfolgungshandlung aufgrund des Status, der Aktivitäten oder Überzeugungen des Ehegatten oder anderer Familienangehöriger ausgeübt würde. Denn die Gefahr eigener Verfolgung ergibt aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen nur dann, wenn diese wegen eines flüchtlingsrelevanten Merkmales erfolgt, das der Verfolgte mit dem Dritten teilt (BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 –, BVerfGE 83, 216; BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. Januar 1993 – 2 BvR 1803/92 –, InfAuslR 1993, 142, juris Rn. 21 m.w.N. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 3b Rn. 43 ff.).

Dies ist im vorliegenden Fall zu verneinen. Eine Bestrafung der Klägerin wegen der Desertion ihres Ehemannes erfolgt nicht beachtlich wahrscheinlich in Anknüpfung an den hier allein näher in Betracht zu ziehenden Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3 b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Dass der eritreische Staat allein aus der Desertion und illegalen Ausreise eine regimefeindliche Gesinnung des Wehrflüchtigen bzw. seiner Angehörigen ableitet, lässt sich derzeit nicht feststellen. [...]

Nach diesen Grundsätzen knüpfen etwaige Sanktionierungen von Dienstentziehung/Desertion und illegaler Ausreise durch den eritreischen Staat jedenfalls nicht generell an eine vermutete politische Überzeugung i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG an. Der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Konnex zwischen Verfolgungshandlung und einer missliebigen politischen Überzeugung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG lässt sich gegenwärtig nicht feststellen. Eine wegen Verweigerung des Nationaldienstes durch illegale Ausreise drohende Bestrafung vermag ohne Hinzutreten weiterer Umstände allenfalls eine Gefahr im Sinne der subsidiären Schutzbedürftigkeit zu begründen (vgl. zuletzt auch VG München, Urteil vom 10. Januar 2017 – M 12 K 16.33214 -, juris Rn. 27; VG Regensburg, Urteil vom 27. Oktober 2016 – RN 2 K 16.31289 –, juris; VG Ansbach, Urteil vom 26. September 2016 – AN 3 K 16.30584 –, juris; VG Augsburg, Urteil vom 11. August 2016 – Au 1 K 16.30744 –, juris; VG Braunschweig, Urteil vom 7. Juli 2015 – 7 A 368/14 – juris; Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Januar 2017 – D-7898/2015 –, abrufbar unter www.bvger.ch.), der das vorliegende Urteil unter Ziffer II. (s.u.) Rechnung trägt.

Soweit einigen – vorwiegend älteren – Quellen zufolge die Desertion oder Wehrdienstverweigerung aufgrund des politischen bzw. ideologischen Charakters des Nationaldienstes von den Behörden als Ausdruck politischer Opposition bzw. Verrat an der Nation aufgefasst wird (UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Eritrea, 20. April 2011, S. 14; Müller, T.R., ‘Bare life and the developmental state: implications of the militarization of high education in Eritrea’, März 2008, S. 115; HRW, Service for Life. State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea, 16. April 2009, S. 27), können diese gegenwärtig nicht vorbehaltlos zugrunde gelegt werden. Sie beziehen sich auf Ereignisse aus den Jahren 2008 und 2009. Die UNHCR-Eligibility Guidelines von 2011 rekurrieren beispielsweise auf eine Äußerung des Präsidenten Afewerki aus dem Jahre 2008, derzufolge die Fluchtbewegungen von der CIA gelenkt und organisiert würden (a.a.O., S. 15 (Fn. 107)).

Diese Erkenntnisse zur Behandlung rückgeführter Eritreer beruhen auf Erfahrungen mit Rückführungen von abgewiesenen Asylsuchenden, die zwischen 2002 und 2008 zurückgeführt wurden. So kommt auch die EASOLänderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 41, zu dem Schluss, dass die Einstufung von Deserteuren/Wehrflüchtigen als Oppositionelle mangels neuerer Erfahrungswerte "unklar" sei (vgl. auch VG Augsburg, Urteil vom 11. August 2016 – Au 1 K 16.30744 –, juris).

Soweit gleichwohl auch jüngere Auskünfte des Human Rights Council, Einzelsachverständiger und internationaler Menschenrechtsorganisationen auch unter Bezugnahme auf die Zeugnisse von Eritreern, die in den letzten Jahren das Land verlassen haben, davon ausgehen, dass das Verlassen des Nationaldienstes bzw. des Landes und andere Vergehen wie Dienstverweigerung als Ausdruck politischer Opposition bzw. "Verrat" aufgefasst werde (Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (A/HRC/29/CRP.1) vom 5. Juni 2015, S. 114, 300; Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (A/HRC/32/CPR.1) vom 8. Juni 2016. S. 59; Amnesty International Report 2015/16 vom 24. Februar 2016; Kibreab, The Open-Ended Eritrean National Service: The Driver of Forced Migration, S. 5; weitere Nachweise bei SEM, Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22. Juni 2016, S. 20 (Fn. 60)) und mit dieser Begründung in Teilen der Rechtsprechung eine politische Verfolgung angenommen wird (vgl. VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2016 – 4 A 1646/16 –, juris; VG Aachen, Urteil vom 16. Dezember 2016 – 7 K 2327/16.A –, juris Rn. 53 ff.; VG Darmstadt, Urteil vom 6. Oktober 2015, juris, Rn. 28; VG Hannover, Urteil vom 26. Oktober 2016 – 3 A 5251/16 –, juris; VG Saarland, Urteil vom 22. Januar 2015 – 3 K 403/14 –, juris Rn. 34; VG Schwerin, Urteil vom 8. Juli 2016 – 15 A 190/16 As – , juris Rn. 60 ff. unter Betonung des totalitären Charakters des eritreischen Regimes und die Unberechenbarkeit seiner Organe; VG Minden, Urteil vom 13. November 2014 – 10 K 2815/13.A –, juris Rn. 43-45; VG Frankfurt a.M., Gerichtsbescheid vom 4. Februar 2015 – 8 K 2300/14.F.A –, juris, UA S. 4; Urteil vom 12. August 2013 – 8 K 2202/13.F.A –, juris – vgl. auch österreichisches Bundesverwaltungsgericht, Entscheidung vom 24. Mai 2016, BVwG W226 2120345-1, abrufbar unter rdb.manz.at; UK Upper Tribunal, Entscheidung vom 7. Oktober 2016 – UKUT 443 (IAC), Nr. 430, abrufbar unter tribunalsdecisions.service.gov.uk), folgt das erkennende Gericht dieser Auffassung nicht.

Der zur Begründung einer politischen Anknüpfung zuvörderst angeführte ideologische Stellenwert, den der Nationaldienst als "Schule der Nation" im eritreischen Staat einnimmt (vgl. eingehend VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2016 – 4 A 1646/16 –, juris). lässt allein den Rückschluss auf eine politische Zielrichtung der Sanktionierungsmaßnahmen jedenfalls gegenwärtig nicht (mehr) zu. Gemäß Art. 5 der Nationaldienst-Proklamation von 1995 liegen die Ziele des Nationaldienstes darin,

"eine starke Armee zu etablieren, um ein freies und unabhängiges Eritrea zu sichern;

den Mut, die Entschlossenheit und das Heldentum, das unser Volk in den letzten dreißig Jahren gezeigt hat, zu erhalten und den künftigen Generationen weiterzugeben;

eine Generation zu schaffen, die Arbeit und Disziplin liebt und am Wiederaufbau der Nation teilnehmen und dienen will;

die Wirtschaft des Landes zu entwickeln durch Investitionen in die Entwicklung unseres Volkes als potentiellen Reichtum;

das Gefühl der nationalen Einheit in unserem Volk zu stärken um sub-nationale Gefühle zu eliminieren" (abgedruckt in EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32).

Demnach dient der Nationaldienst nicht nur der Landesverteidigung, sondern auch dem Wiederaufbau des Landes nach dem Unabhängigkeitskrieg und der Vermittlung der nationalen Ideologie. Zwar verstehen der eritreische Präsident Afewerki und die herrschende PFDJ den Nationaldienst als "Schule der Nation", d.h. als Instrument zur Nationenbildung. Dessen Hauptaufgabe liegt in der Tat darin, die während des Unabhängigkeitskrieges entstandenen sozialen Werte der jungen Generation und damit der eritreischen Gesellschaft weiterzugeben. Zu diesem Zweck werden sämtliche jungen Männer und Frauen des Landes einberufen und in einer gemeinsamen Sprache – Tigrinja – ausgebildet. Das 12. Schuljahr absolvieren alle Schüler zentral in einem Ausbildungslager in Sawa, wo sie unter anderem ideologisch geschult werden und eine paramilitärische Ausbildung erfahren. Am Ende des Nationaldienstes haben sie eine gemeinsame nationale Identität und ignorieren ihren religiösen, ethnischen und regionalen Hintergrund (vgl. EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32; Schweizerisches Bundesamt für Migration, BFM, vom 25. August 2010, Notiz MILA, Eritrea: Militärkomplex und Desertion, Angaben von Prof. Dr. Gaim Kibreab, 5. November 2009, S. 9).

Nicht übersehen werden darf jedoch, dass die wirtschafts- und entwicklungspolitische Zielrichtung des Nationaldienstes (Wiederaufbau des Landes, wirtschaftlicher Fortschritt). in Anbetracht der nunmehr jahrelang anhaltenden Massenflucht vorwiegend junger Leute, die zum wirtschaftlichen Aufbau des Landes dringend benötigt werden, zunehmend in den Vordergrund tritt.

So gelangte der Sachverständige Prof. ... (London South Bank University) im Oktober 2014 zu der Auffassung, dass der ursprünglich mit "legitimen Zielsetzungen" verbundene Nationaldienst aufgrund seines unbefristeten und unbedingten Charakters mittlerweile zu bloßer Zwangsarbeit "degeneriert" sei (…, The Open-Ended Eritrean National Service: The Driver of Forced Migration, S. 16, abrufbar unter www.ecoi.net).

Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen kommt in seinem jüngsten Bericht zu Eritrea vom 8. Juni 2016 zu dem Schluss, dass der Nationaldienst entgegen den mit der Proklamation ursprünglich verfolgten (politischen) Zielsetzungen heute in erster Linie der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und zur Aufrechterhaltung einer (völkerrechtswidrigen) Kontrolle des Staates über die Bevölkerung dient (Human Rights Council, Bericht vom 8. Juni 2016, Nr. 234).

Gegen die politische Zielrichtung spricht ferner der Zweck der Maßnahmen. So ist im Hinblick auf die insoweit maßgeblichen Gründe, aus denen der Verfolgerstaat die drohende Verfolgung betreibt, nicht ersichtlich, dass die Sanktionierungen von Dienstentziehung und illegaler Ausreise erkennbar zielgerichtet auf die politische Komponente der dem jeweiligen Betroffenen individuell zur Last gelegten Straftaten gerichtet wäre.

Die dem eritreischen Staat zuzurechnenden Sanktionierungsmaßnahmen (extralegale Inhaftierungen, Misshandlungen einschließlich Folterungen, Verweigerung der Benachrichtigung Angehöriger) zielen nach den vorliegenden Erkenntnissen auf die Erzwingung von Geständnissen, die Informationsgewinnung, die Bestrafung für angebliches Fehlverhalten und die Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst, sowie - innerhalb des Militärs – die Aufrechterhaltung der Disziplin. Die Maßnahmen sind Ausdruck einer Strategie der Regierung zur Aufrechterhaltung einer völkerrechtswidrigen Kontrolle über die eigene Bevölkerung. Die Anwendung von Folter bildet diesbezüglich einen integralen Bestandteil (vgl. Human Rights Council, Bericht vom 8. Juni 2016, S. 25 (Nr. 97), S. 65 (Nr. 258, 260), S. 68 (Nr. 270)).

Eine zielgerichtete Anknüpfung der Maßnahmen an die individuelle politische Überzeugung liegt hierin jedoch nicht. Die drohende Sanktionierung von Desertion, Dienstentziehung und/oder illegaler Ausreise durch Maßnahmen bis hin zu Folter beschränkt sich nicht auf als Oppositionelle bekannte oder als solche eingeschätzte Personen, sondern sie erstreckt sich potenziell auf sämtliche Teile der Bevölkerung. Dabei geht es nicht um die drakonische Bestrafung von Einzelpersonen oder von Mitgliedern einer als feindlich erachteten Personengruppe, sondern allenfalls um den insoweit vorgelagerten Prozess der Feststellung, ob die jeweilige Person überhaupt der politischen Opposition zuzurechnen ist, sowie um die Bestrafung kriminellen Unrechts bzw. um die Einschüchterung der Bevölkerung an sich.

Anhaltspunkte für einen beachtlichen "Politmalus" von Deserteuren oder Wehrflüchtigen gegenüber sonstigen Inhaftierten finden sich in den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen ebenfalls nicht (vgl. etwa Human Rights Council, Bericht vom 8. Juni 2016, S. 59 ff. (Nr. 239 ff. zur Inhaftierungspraxis), S. 65 ff. (Nr. 260 ff. bzgl. Folter)).

Dies deutet darauf hin, dass die Betroffenen gerade nicht nach flüchtlingsrelevanten Kriterien ausgewählt und nicht wegen dieser Kriterien misshandelt und gefoltert werden. Liegen diesen Maßnahmen aber gerade nicht die insoweit typischen politischen oder religiösen Motive zugrunde, kommt ihnen auch die Indizwirkung eines entsprechenden Verfolgungsmerkmals nicht zu. Insofern handelt es sich eher um die typischen Begleiterscheinungen einer totalitären Herrschaftsmacht, die Menschenrechtsverletzungen generell – nicht nur gegenüber Andersdenkenden – einschließen und damit nicht um individuelle (politische) Verfolgung.

Darüber hinaus ist einzustellen, dass sich das Phänomen illegaler Ausreisen zu einer Fluchtbewegung vor dem Wehrdienst zu einem Massenphänomen ausgeweitet hat. Nach jüngsten Schätzungen verlassen mehrere tausend Eritreer monatlich – dem Bericht des HRC vom 5. Juni 2015 zufolge bis zu 5.000 – illegal ihr Land (Human Rights Council, Bericht vom 5. Juni 2015, S. 42 (Nr. 151); UK Home Office, Report of a Home Office Fact-Finding Mission conducted 7–20 February 2016, Eritrea: illegal exit and national service, S. 96 f. (Nr. 11.5.1, 11.5.2: ca. 50.000 pro Jahr)).

Fluchtauslöser sind in erster Linie die grundsätzlich unbefristete Dauer des Nationaldienstes, die jedenfalls im Militär drohende Gefahr willkürlicher Bestrafung oder Misshandlung, der Arbeitseinsatz an von Heimat und Familie entfernten Orten, die kärgliche Entlohnung, die Unterdrückung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rechte sowie fehlende privatwirtschaftliche Erwerbsmöglichkeiten und der damit einhergehende Verlust einer jeglichen Lebensperspektive (AI, "Just deserters", Dezember 2015, S. 39; Hirt, Flüchtlinge aus Eritrea: Spielball europäischer Interessen, GIGA-Focus Afrika 2/2016, S. 2).

Konsequenzen dieses Abflusses von "Humankapital" sind erhebliche Kapazitätseinbußen des eritreischen Staates sowohl im militärischen als auch im zivilen Teil des Nationaldienstes (etwa in Krankenhäusern, Schulen und der Verwaltung) sowie eine desolate wirtschaftliche Situation, die mittlerweile auch das Funktionieren des Staates tangiert (Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Januar 2017 – D-7898/2015 –, S. 26 (Nr. 4.8.4) m.w.N.; vgl. auch Hirt, GIGA-Focus 2/2016, S. 7, die aber noch keine Anzeichen für einen Zusammenbruch des Regimes sieht).

Angesichts dessen kann nicht vernünftigerweise angenommen werden, der eritreische Staat werde (nach wie vor) gleichsam hinter jeder Flucht eines (National-) Dienstpflichtigen generell eine missliebige politische Überzeugung vermuten. Dies ist schon deshalb fernliegend, weil auch dem eritreischen Staat bekannt ist, dass die übergroße Zahl der Asylbewerber zuvörderst vor den prekären und unfreien Lebensbedingungen im zeitlich unbefristeten Nationaldienst und nicht aufgrund einer regimefeindlichen Haltung flieht (vgl. UK Upper Tribunal, Urteil vom 7. Oktober 2016 (UKUT 443), Nr. 337: This is that the Eritrean authorities consciously recognise the economic value to them of having a sizeable diaspora who send remittances and some of whose members also pay the 2 per cent tax. Rightly or wrongly, they clearly consider that many of the Eritreans who have left have done so out of a desire for economic betterment rather than asylum yet go on to claim asylum as a way of residing elsewhere. That may be a factor that has played a part in Eritrean government thinking for some time, but recent evidence does underscore how greatly the Eritrean government depends on foreign remittances. - Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 24. April 1990 – 9 C 4.89 –, juris Rn. 15).

Doch auch die Annahme, der eritreische Staat betreibe bei illegal ausgereisten Personen sowie Deserteuren und Dienstpflichtigen eine Gesinnungsverfolgung unabhängig von deren wirklicher politischer Einstellung, ist unbegründet. Letzteres wäre nach oben stehenden Grundsätzen allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn der eritreische Regime aufgrund einer alle Lebensbereiche umfassenden ideologisch einseitig ausgerichteten totalitären Struktur zu Überreaktionen neigte (BVerwG, Urteil vom 21. Oktober 1986 – 9 C 28.85 -, a.a.O.).

Hiervon ist jedoch gegenwärtig nicht auszugehen. Wie bereits dargelegt, tritt der ideologische Charakter des Nationaldienstes inzwischen zugunsten ökonomischer Gesichtspunkte in den Hintergrund. Im Übrigen ist das eritreische Regime bestrebt, die Bedingungen des Nationaldienstes durch innenpolitische Maßnahmen wie z.B. Lohnerhöhungen zu verbessern. Zu der immer wieder hinausgeschobenen Wiedereinführung der Dienstzeitbefristung sieht sich das Regime offenbar aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage (vgl. Human Rights Council, Bericht vom 8. Juni 2016, Nr. 93: About reports that the Government would limit military/national service to 18 months, an Eritrean expert explained, “economically they can’t. The labour market cannot absorb released conscripts. It would be dangerous for the Government and could be a liability for society. [Even using conscript labour], most of these companies are not making a profit. Unless there is a complete overhaul nothing will work.”).

Ebenso spricht gegen eine generelle politische Verfolgung aller Personen, die sich dem Nationalen Dienst durch illegale Ausreise entziehen, der derzeitige Umgang der eritreischen Regierung mit freiwilligen – zumindest vorübergehenden – Rückkehrern. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage des Gerichts werden die gesetzlichen Bestimmungen für Desertion, Dienstverweigerung und illegale Ausreise derzeit für diese Personen nicht angewandt. Sofern sie sich mindestens drei Jahre im Ausland aufgehalten haben, besteht für die Rückkehrer die Möglichkeit, einen sog. "Diaspora Status" zu erhalten. Dieser setzt voraus, dass eine Diasporasteuer (2 % Steuer) bezahlt wurde und, sofern die nationale Dienstpflicht noch nicht erfüllt wurde, ein sog. "Reueformular" unterzeichnet wurde. Dieses umfasst auch ein Schuldeingeständnis für die Nichtabsolvierung des Nationaldienstes mit der Erklärung, die dafür vorgesehene Bestrafung anzunehmen. Zumindest in der Mehrheit kommt es nach den Erkenntnisquellen des Gerichts zu keiner tatsächlichen Bestrafung. Mit diesem "Diaspora Status" ist es möglich, drei Jahre in Eritrea zu bleiben, ohne den Nationalen Dienst ableisten zu müssen. Auch eine Ausreise ist mit diesem Status möglich, so dass es mittlerweile zahlreiche Reisen nach Eritrea zu Urlaubs- und Besuchszwecken gibt (VG Regensburg, Urteil vom 27. Oktober 2016 – RN 2 K 16.31289 –, juris; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22. Juni 2016, S. 43; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 55; Human Rights Council, Report vom 5. Juni 2015, Nr. 436; Landinfo, National Service 2016, S. 22 f.).

Dies schlägt sich auch in den Flugverbindungen zwischen Europa und Eritrea nieder, welche unter anderem mit der Begründung einer steigenden Nachfrage der eritreischen Diaspora ausgebaut wurden. Gleichzeitig mehren sich die Hinweise darauf, dass die Rückkehrer zunächst mit ihren in Europa ausgestellten Papieren in Drittländer wie z.B. Italien, Ägypten und in den Sudan fliegen, auf den dortigen eritreischen Botschaften eritreische Pässe oder Identitätskarten zu beziehen und mit diesen weiter in ihre Heimat zu reisen. Weil auf diese Weise in den inländischen Dokumenten keine Stempel von eritreischen Grenzbehörden auftauchen würden, bleibe die Reise nach Eritrea den hiesigen Behörden verborgen (vgl. eingehend Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Januar 2017 – D-7898/2015 –, S. 35 ff. (Nr. 4.11) m.w.N.; vgl. auch Basler Zeitung vom 24. Januar 2017 ("Eritreer machen Heimaturlaub", abrufbar unter www.bazonline.ch); Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2017 ("Auf gepackten Koffern", abrufbar unter www.faz.de)).

Die Aufbausteuer macht nach Beobachtern zufolge zusammen mit anderen Spenden und Abgaben ca. ein Drittel des Staatsbudgets aus. Mindestens ebenso wichtig sind private Geldtransfers an die zurückgebliebenen Angehörigen, die durch den Nationaldienst am Broterwerb gehindert werden. Das Regime profitiert somit indirekt vom Exodus der Bevölkerung, zumal dieser als Ventil für die frustrierte Jugend dient, die ihr Heil in der Flucht anstatt im Widerstand sucht. Vor diesem Hintergrund nimmt das eritreische Regime den Massenexodus der eigenen Bevölkerung bewusst in Kauf, da dieser zur innenpolitischen Stabilität beiträgt. Es bietet sich das Bild, dass der eritreische Staat einerseits mit drakonischen Maßnahmen versucht, die massenhafte Flucht seiner Staatsangehörigen zu verhindern; andererseits scheint er die Flüchtlingssituation zugleich zu nutzen, um neue finanzielle Einnahmequellen zu erschließen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: Oktober 2016), vom 21. November 2016, S. 17).

Die Zahlung der Aufbausteuer wird daher von der eritreischen Regierung im wohlverstandenen Eigeninteresse als Unterstützung des eritreischen Staates verstanden und zugunsten der Betroffenen ausgelegt (vgl. Hirt, Flüchtlinge aus Eritrea: Spielball europäischer Interessen, in: GIGA, Focus Afrika, Juli 2016, S. 6 f.; Human Rights Council, Bericht vom 5. Juni 2015, Rn. 348).

Diese Optionen, die gerade auch für Personen gelten, die sich dem Nationalen Dienst durch die illegale Ausreise entzogen haben (SEM, Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22. Juni 2016, S. 33 ff., 43; Landinfo, Eritrea: Reactions towards returned asylum seekers, 27. April 2016, S. 3: “Most Eritrean asylum seekers have left the country without exit visas and the majority have deserted from or evaded national service”), sprechen nach der für die Feststellung der politischen Verfolgungsmotivation in besonderem Maße gebotenen Berücksichtigung von Erfahrungen und typischen Geschehensabläufen (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184-195, juris Rn. 32) gegen eine generelle Einstufung von illegal ausgereisten Deserteuren oder Wehrflüchtigen als politische Gegner. Denn dass ein Staatsregierung, die zugunsten ökonomischer Interessen von einer Verfolgung illegal ausgereister Dienstpflichtiger im Wege eines "Ablasshandels" Abstand nimmt, einer möglicherweise dahinter stehenden politischen Überzeugung keinen bedeutsamen Stellenwert mehr beimisst, liegt auf der Hand. Insbesondere kann nicht davon gesprochen werden, illegal ausgereiste Dienstpflichtige würden infolge einer ideologisch motivierten Überreaktion des Staates generell als Verräter bzw. Oppositionelle betrachtet und deshalb zielgerichtet verfolgt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der eritreische Staat gegenwärtig eine zuvörderst an Machterhalt bzw. "Staatsräson" ausgerichtete Realpolitik betreibt. Eine Bestrafung illegal ausgereister Deserteure und Dienstverweigerer stellt sich folglich derzeit nicht als Ausdruck einer ideologisch motivierten Gesinnungsverfolgung dar.

Vor diesem Hintergrund teilt das Gericht den Standpunkt der Berichte verschiedener "Fact Finding.Missionen" westeuropäischer Staaten, die im Oktober 2014 (Dänemark) bzw. im Februar 2016 (UK) und März 2016 (Schweiz) nach Auswertung zahlreicher diplomatischer Quellen sowie von Auskünften internationaler Organisationen, Mitgliedern der eritreischen Regierung und von Rückkehrern in Asmara zu der Auffassung gelangt sind, dass die dem Nationaldienst vom eritreischen Staat beigemessene politische Bedeutung des Nationaldienstes aufgrund der wirtschaftlichen Probleme und der gesteigerten Fluchtbewegungen zunehmend in den Hintergrund tritt und Desertion/Dienstentziehung durch das eritreische Regime nicht (mehr) generell als Ausdruck politischer Opposition bzw. "Verrat" gewertet wird (UK Home Office, Country Information and Guidance, Eritrea: National (incl. Military) Service, August 2016, Nr. 2.2.3, 2.2.6; Danish Immigration Office, Eritrea – Drivers and Root Causes of Emigration, National Service and the Possibility of Return, Appendix edition, Dezember 2014, Nr. 5.2.1, SEM, Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22. Juni 2016, Nr. 3.1.2). [...]

aa) Die Klägerin zu 1. ist zwar im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea aufgrund ihrer illegalen Ausreise in den Sudan beachtlich wahrscheinlich von Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 1 AsylG in Gestalt außergerichtlicher und willkürlicher Haft bedroht (1). Diese knüpft aber ebenfalls nicht an einen Verfolgungsgrund i.S.d. § 3b AsylG an (2).

(1) Die Klägerin hat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Vollstreckung einer gegen sie von den eritreischen Behörden außergerichtlich und willkürlich verhängten Haftstrafe unter unmenschlichen Haftbedingungen zu erwarten, weil sie im dienstpflichtigen Alter illegal aus Eritrea ausgereist ist. Sie verließ Eritrea insbesondere ohne das erforderliche Ausreisevisum, dessen Erteilung die Erfüllung der Nationaldienstpflicht oder die legale Freistellung von der Dienstpflicht voraussetzt (EASO, a.a.O., S. 52 m.w.N.).

Zwar werden Frauen nach der derzeitigen Erkenntnislage normalerweise nicht zum Nationaldienst eingezogen, wenn sie verheiratet sowie schwanger oder mit Kind sind, und sie können aus dem Nationaldienst entlassen werden (vgl. AA, Lagebericht, S. 12; EASO, a.a.O., S. 33 f.; Landinfo, a.a.O., S. 18 f.).

Allerdings ist diese Praxis nicht gesetzlich geregelt und die Entscheidung obliegt offenbar den militärischen Vorgesetzten (vgl. Landinfo, a.a.O., S. 18 f.; AI, Just Deserters, S. 28).

Dass die im Zeitpunkt ihrer Ausreise 31 Jahre alte Klägerin von ihrer Dienstpflicht offiziell freigestellt worden wäre, ist indes nicht ersichtlich.

Zum Umgang der eritreischen Behörden mit zwangsweise zurückgeführten Personen liegen kaum gesicherte Informationen vor, insbesondere da es in den letzten Jahren nur aus dem Sudan und möglicherweise aus Ägypten zu Zwangsrückführungen gekommen ist (SEM, a.a.O., S. 44).

Allerdings berichtet die UN-Kommission von 313 im Jahr 2016 aus dem Sudan zurückgeführten Eritreern, von denen alle, auch jene, die vor ihrer Ausreise noch nicht zum Nationaldienst herangezogen worden waren, inhaftiert wurden. Überdies bestand für die Klägerin schon vor der Ausreise die beachtliche Wahrscheinlichkeit, als Familienangehörige eines Deserteurs inhaftiert zu werden. Zudem wird auch die illegale Ausreise außergerichtlich und willkürlich mit Haftstrafen von einigen Monaten bis zu zwei Jahren bestraft, wobei das Strafmaß mutmaßlich von den weiteren gleichsam mit der illegalen Ausreise erfüllten Straftaten wie Desertion oder Dienstverweigerung abhängig ist. Ferner berichtet auch das AA von zwei Fällen nach illegaler Ausreise inhaftierter Rückkehrer, wobei in einem Fall der aktive Militärdienst bereits abgeleistet worden war (VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 – 28 K 166.17 A –, juris Rn. 51 m.w.N.).

Die derzeit praktizierte Möglichkeit, gegen Zahlung einer sog. "Aufbau-" oder "Diasporasteuer" in Höhe von 2% des Jahreseinkommens und Unterzeichnung eines Reueschreibens den sog. "Diaspora-Status" zu erlangen, bietet der Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr keinen hinreichenden Schutz vor einer Bestrafung (vgl. auch VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2016 – 4 A 1646/16 –, juris, Rn. 38).

Wenngleich nach der aktuellen Erkenntnislage vorübergehende Rückkehrer tatsächlich nicht bestraft werden, entfällt der "Diaspora-Status" nach drei Jahren ununterbrochenen Aufenthalts in Eritrea wieder. Erkenntnisse darüber, was nach Ablauf dieser Zeit mit den dauerhaft zurückgekehrten Personen geschieht, liegen nicht vor. Ferner beruht die Änderung der Praxis der Behandlung von Rückkehrern durch die Einführung des "Diaspora-Status" auf keiner formellen Rechtsgrundlage, sodass sich die Behandlung der Rückkehrer – gerade auch angesichts der Verbreitung außergerichtlicher und willkürlicher Inhaftierungen – ohne weiteres auch wieder ändern kann. Schließlich spricht auch der Wortlaut des zu unterzeichnenden Reueformulars – "Ich bestätige, dass ich eine Straftat begangen habe, indem ich den Nationaldienst nicht erfüllt habe, und bin bereit, angemessene Bestrafung zur gegebenen Zeit anzunehmen." – gegen eine hinreichende Sicherheit der Klägerin vor einer Bestrafung bei einer dauerhaften Rückkehr (vgl. VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 – 28 K 166.17 A –, juris Rn. 52 unter Hinweis auf SEM, a.a.O., S. 32 ff., 44; EASO, a.a.O., S. 43 m.w.N.). [...]

(2) Die der Klägerin hiernach im Falle ihrer Rückkehr drohende Bestrafung erfolgt jedoch nicht "wegen" eines Verfolgungsgrundes i.S.d. § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG. Der Umstand, dass die Klägerin zu 1. ihr Heimatland illegal verlassen hat, stellt aus den vorstehenden Gründen (s.o. 1. a) bb)) ebenfalls keine an ein Merkmal des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG anknüpfende Verfolgung dar (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. November 2016, S. 17; Schweiz. BVerwG, Urteil vom 30. Januar 2017 – D-7898/2015 –, abrufbar unter www.bvger.ch; ein "real risk" allein für die illegale Ausreise verneinend UK Upper Tribunal, Urteil vom 7. Oktober 2016 (UKUT 443), Nrn. 337, 344 f.).

Insbesondere die Praxis, dass offenbar auch Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge den "Diaspora-Status" erhalten und so ohne Bestrafung nach Eritrea ein- und wieder ausreisen können, spricht dafür, dass allein die illegale Ausreise nicht die Zuschreibung einer gegnerischen politischen Gesinnung durch den eritreischen Staat nach sich zieht.

Hinweise darauf, dass die bloße Stellung eines Asylantrags im Ausland Verfolgungsmaßnahmen in Eritrea nach sich zieht, gibt es ebenfalls nicht (vgl. SEM, Focus Eritrea - Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016, S. 42 m.w.N.).

bb) Soweit die Klägerin zu 1. eine Zwangsbeschneidung erlitten hat, vermag diese ebenfalls keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung zu begründen. Zwar erfolgt eine Genitalverstümmelung wegen der Zugehörigkeit der betroffenen Frau oder des betroffenen Mädchens zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4, 4. Halbsatz AsylG, wonach eine Gruppe insbesondere auch als eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gilt, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtlichen Identität anknüpft. Aber schon der Umstand, dass die Klägerin zu 1. die Genitalverstümmelung bereits erlitten hat, spricht dagegen, dass ihr dieses Schicksal nach ihrer Rückkehr erneut droht (vgl. VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 – 28 K 166.17 A –, juris Rn. 48; VG Düsseldorf, Urteil vom 16. März 2017 – 6 K 12164/16.A –, juris Rn. 129).

cc) Schließlich droht der Klägerin eine flüchtlingsrelevante Verfolgung auch nicht aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit in Deutschland. Zwar geht das Gericht nach den vorliegenden Auskünften davon aus, dass der eritreische Staat politische Aktivitäten in der Diaspora überwacht und grundsätzlich auch untergeordnete Tätigkeiten für die Exilopposition zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nimmt, wobei es Anzeichen gibt, dass der eritreische Staat auch bei regierungskritischer Betätigung auch in Ansehung des von Klägerseite zuletzt vorgelegten BBC-Berichts vom 1. November 2017 zur Niederschlagung von Studentenprotesten in Asmara (Bl. 50 ff. GA) nach Art und Schwere der Handlungen differenziert und Referenzfälle von Verhaftungen nach Rückkehr nach Eritrea seit dem Jahre 2005 nicht bekannt geworden sind (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 21. März 2007 – 9 UE 1676/06.A -, juris; UNHCR, Eligibility Guidelines 2011, S. 20; SFH, Eritrea, Update vom Februar 2010, S. 12; AA, Lagebericht vom 21. November 2016, S. 17; Auskunft vom 31. Juli 2008, 508-516.80/44710/44913, S. 2).

Eine nach diesen Maßstäben flüchtlingsrelevante exilpolitische Betätigung der Klägerin zu 1. liegt nach dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung nicht vor. Sie ist lediglich einfaches Mitglied der ENSF. [...] Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten wie z.B. Teilnahme an Demonstrationen hat die Klägerin bislang nicht entfaltet. Eine Tätigkeit als Kassenwart hat sie, selbst wenn man hierin eine herausgehobene Stellung erkennen wollte, nach eigenem Vortrag bislang nicht aufgenommen. Vorträge oder regimekritische Artikel hat die Klägerin bisher nicht gehalten bzw. verfasst. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass regierungstreue Stellen von der Klägerin zu 1., die nur ein bis zwei Mal jährlich zu den in … stattfindenden Sitzungen anreist, Kenntnis genommen haben könnten und zudem in der Lage wären, sie namentlich zuzuordnen, bestehen vorliegend nicht. Dass die Klägerin zu 1. bei einer derart untergeordneten und bislang nur sporadischen politischen Betätigung im Falle ihrer (hypothetischen) Rückkehr nach Eritrea erheblichen Repressalien der eritreischen Behörden ausgesetzt wäre, lässt sich insgesamt zwar nicht schlechthin ausschließen; eine solche Gefahr ist aber nicht im Rechtssinne beachtlich wahrscheinlich.

dd) Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt auch nicht aufgrund der behaupteten Hinwendung der Klägerin zu 1. vom katholischen Glauben zu einem pfingstchristlichen Glauben und der Aufnahme in eine evangelikale bzw. pentekostale Glaubensgemeinschaft in Betracht. [...]

Nach eritreischem Staatsverständnis ist der Säkularismus eine der wichtigsten Säulen des Staates. Die Regierung, deren Mitglieder überwiegend eritreisch-orthodoxe Christen sind, behauptet, dass sie sich gegenüber den Religionsgemeinschaften strikt neutral verhalte. In Eritrea sind nur die eritreisch-orthodoxe, die katholische, die evangelisch-lutherische Kirche und der sunnitische Islam von der Regierung anerkannt und dürfen sich unter strikter Überwachung religiös betätigen. Andere Religionsgemeinschaften und Kirchen wie etwa die Zeugen Jehovas, Adventisten, sowie pentekostale und evangelikale Kirchen bedürfen der Registrierung, die jedoch restriktiv gehandhabt wird. Diesen Religionsgemeinschaften ist es daher nicht erlaubt, Gottesdienste zu feiern, nicht einmal im privaten Rahmen, ohne dass die Teilnehmer mit Verhaftung rechnen müssen. Pentekostale Gruppen werden als Bedrohung der nationalen Sicherheit gesehen (Lagebericht des auswärtigen Amtes vom 21. November 2016, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Evangelikale und pentekostale Kirchen, vom 9. November 2011, S. 1 ff.).

Insoweit vermag eine Hinwendung vom katholischen zum pfingstchristlichen Glauben die vom eritreischen Staat ausgehende Gefahr einer drohenden Verfolgung mit der hinreichenden objektiven Schwere im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu begründen, wenn ein Konvertit dort seinen pfingstchristlichen Glauben offen praktiziert oder aus Angst vor Übergriffen verleugnet oder verheimlicht und dadurch in erhebliche Gewissenskonflikte gerät (VG Lüneburg, Urteil vom 13. Juni 2017 - 3 A 136/16 -, juris, Rn. 31, unter Berufung auf: Niedersächsisches OVG, Urteil vom 7. September 2015 - 9 LB 98/13 -, juris, Rn. 32 und m.w.N.). [...]

Soweit sich die Klägerin zu 2. auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung in Gestalt drohender Genitalverstümmelung beruft, erfolgen derartige Maßnahmen zwar wegen der Zugehörigkeit der betroffenen Frau oder des betroffenen Mädchens zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4, 4. Halbsatz AsylG; hiernach gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtlichen Identität anknüpft. Dies ist bei der weiblichen Genitalverstümmelung der Fall.

Die Klägerin zu 2. ist jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Genitalverstümmelung bedroht. Die Befürchtung der Klägerin zu 1., sie könne im Falle der Rückkehr eine Genitalverstümmelung ihrer Tochter nicht verhindern, greift nicht durch. Diese Annahme steht bereits mit der aktuellen Erkenntnislage nicht in Einklang. Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) ist in Eritrea dem 20. März 2007 verboten. Die Zahl der Mädchen, die beschnitten werden, ist in Eritrea stark rückläufig. So sind in Eritrea 83% der Mädchen und Frauen (15-49 Jahre) beschnitten, wohingegen lediglich 33% der Mädchen unter 14 Jahren und 5% der unter 5-jährigen Mädchen beschnitten sind. Auch die Befürwortungsrate von FGM ist in Eritrea seit 1995 stetig gesunken. Waren es 1995 noch 57% der Mädchen und Frauen, die sich für die Weiterführung von weiblicher Genitalverstümmelung aussprachen, sind es heute nur noch 12%. 82% der Mädchen und Frauen (15-49 Jahre) und 85% der Jungen und Männer (15-49 Jahre) sind der Meinung, FGM solle gestoppt werden (Auswärtiges Amt. Lagebericht vom 21. November 2016, S. 13; Terre des femmes, FGM in Afrika – Eritrea, Stand: September 2016 (abrufbar unter www.frauenrechte.de)).

Dass die Klägerin zu 2. gleichwohl beachtlich wahrscheinlich von Genitalverstümmelung bedroht wäre, ist nicht ersichtlich. Dagegen spricht bereits die ablehnende Haltung der Klägerin zu 1. Warum eine Beschneidung bei der Klägerin zu 2. gegen den eindeutigen Willen der alleinerziehenden Mutter durchgeführt werden sollte bzw. es dieser nicht möglich wäre, sich gegen entsprechende – zumal rückläufige – Erwartungen seitens der Gesellschaft durchzusetzen, wurde aus dem Vortrag der Klägerin zu 1. nicht deutlich. dass nahe Verwandte oder die Familie der Kläger zu einer Beschneidung drängten, wurde ebenfalls nicht substantiiert vorgetragen und ist auch sonst nicht erkennbar.

II. Der Hilfsantrag hat indes Erfolg.

1. Den Klägern ist der von ihnen hilfsweise geltend gemachte subsidiäre Schutz zuzuerkennen. [...]

a) Die der Klägerin zu 1. im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Eritrea im Jahre 2004 drohenden Verfolgungsmaßnahmen (Inhaftierung wegen Desertion des Ehemannes) stellen zugleich eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung i.S.d. Art 3 EMRK dar. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen (s.o. 1. A) aa)) Bezug genommen mit der Maßgabe, dass der Klägerin zu 1. die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift auch im Rahmen des subsidiären Schutzes zugute kommt. Darüber hinaus muss die Klägerin zu 1. im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch aufgrund einer zu befürchtenden Bestrafung wegen illegaler Ausreise beachtlich wahrscheinlich mit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung rechnen (s.o. 1. b) aa)). [...]