VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 22.01.2018 - 19 CE 18.51 - asyl.net: M25897
https://www.asyl.net/rsdb/M25897
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung zur Verlängerung der Ausbildungsduldung für einen von Abschiebung bedrohten Afghanen:

1. Ein "Ausreisegespräch" ist noch keine konkrete Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung.

2. Die mangelnde Mitwirkung bei der Beschaffung von Identitätspapieren kann dem Antragsteller nur dann vorgeworfen werden, wenn er zuerst deutlich über seine Pflichten belehrt wurde. Die fehlende Mitwirkung muss ein gewisses Gewicht erreichen, so dass es gerechtfertigt erscheint, sie aktivem Tun gleichzusetzen und ein Bleiberecht zu versagen. Insbesondere muss die Ausländerbehörde auf die konkret geforderten Schritte hinweisen, wenn diese nicht offensichtlich sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Identitätsfeststellung, Täuschung über Identität, Identitätsverweigerer, Kausalität, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Beurteilungszeitpunkt, Belehrung, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Ausreisegespräch, Gespräch, freiwillige Ausreise,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 4, AufenthG § 60a Abs. 6 S. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]
18 Für die Ausbildungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4-AufenthG gilt, dass die Voraussetzungen grundsätzlich zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung bzw. bei einem dagegen gerichteten Rechtsschutz zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen müssen (vgl. OVG NRW, B.v. 13.3.2017 - B 148/17 - juris Rn. 23; OVG RhPf, B.v. 11.7.2017 - 7 B 11079/17 - juris Rn. 35). Abweichendes gilt jedoch für die Frage, ob der Versagungsgrund konkret bevorstehender Maßnahmen. zur Aufenthaltsbeendigung einer Ausbildungsduldung entgegensteht. Das Verwaltungsgericht hat insoweit zu Unrecht darauf abgestellt, dass zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung Abschiebehaft beantragt war und daher kein vernünftiger Zweifel an bevorstehenden aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bestehen könne. Würde hinsichtlich des Ausschlussgrundes der bevorstehenden konkreten Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung auf den Zeitpunkt der Entscheidung der Ausländerbehörde oder auf den des Gerichts abgestellt, so hätte es die Ausländerbehörde sogar nach einem (rechtmäßigen) Beginn der Ausbildung in der Hand, durch Einleitung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Entstehung des Anspruchs zu verhindern (vgl. VGH BW, B.v. 13.10.2016 - 11 S 1991/16 - juris Rn. 19; OVG Berlin-Bbg, B.v. 22.11.2016 - OVG 12 S 61.16 - juris Rn. 9; NdsOVG, B.v. 9.12.2016 - 8 ME 184/16 - juris Rn. 8; OVG NRW, B.v. 13.3.2017 - 18 B 148/17 - juris Rn. 23; OVG Rh-Pf, B.v. 11.7.2017 - 7 B 11079/17 - juris Rn. 36). Als maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob der Versagungsgrund der konkret bevorstehenden Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung einer Ausbildungsduldung entgegensteht, wird in der Rechtsprechung daher zu Recht überwiegend auf den Zeitpunkt der Beantragung der Ausbildungsduldung abgestellt, wobei im Einzelnen unterschiedliche Anforderungen gestellt werden, was mit dem Antrag an die Ausländerbehörde vorzutragen oder vorzulegen ist, damit dieser hinreichend konkret ist. Die Spanne reicht insoweit von einer Mitteilung des (konkreten) Ausbildungsverhältnisses (vgl. VGH BW, B.v. 13.10.2016 - 11 S 1991/16 - juris Rn. 19; zum zusätzlich erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zur Aufnahme der Ausbildung VGH BW, B.v. 27.6.2017 -- 11 S 1067/17 - juris Rn. 16 ff.) über eine Vorlage des bereits abgeschlossenen Ausbildungsvertrages, der sich zumindest auf das unmittelbar bevorstehende Ausbildungsjahr beziehen muss und in engem zeitlichen Zusammenhang mit diesem steht (vgl. OVG NRW, B.v. 13.3.2017 - 18 B 148/17 - juris Rn. 25) bis zur Forderung nach einem Antrag auf Eintragung des Ausbildungsverhältnisses in ein Verzeichnis nach § 34 Abs. 2 BBiG (vgl, dazu VG Neustadt an der Weinstraße, B.v. 12.10.2016 - 2 L 680/16.NW - juris Rn. 8; kritisch: OVG NRW, B.v. 13.3.2017 - 18 B 148/17 - juris Rn. 25). Der Senat teilt in Weiterentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung die Auffassung, dass hinsichtlich der Beurteilung der Frage, ob konkrete Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung entgegenstehen, maßgeblich auf den Zeitpunkt der Beantragung einer zeitnah aufzunehmenden, konkret bezeichneten Berufsausbildung unter Vorlage geeigneter Nachweise abzustellen ist (vgl. insoweit BayVGH, B.v. 31.7.2017 - 19 CE 17.1032 - juris; B. v. 24.4.2017 - 19 CE 17.619 - Juris Rn. 17, bei denen es auf eine Differenzierung nach den möglichen maßgeblichen Zeitpunkt nicht ankam). [...]

22 Zum Zeitpunkt der Vorsprache und Beantragung der Ausbildungsduldung am 7. August 2017 standen konkrete Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung (noch) nicht bevor.

23 Der Antragsteller wurde im Rahmen seiner Vorsprache bei der Ausländerbehörde am 6. Juli 2017 zwar auf die nach Abschluss des Asylerstverfahrens bestehende Ausreisepflicht hingewiesen. Das im Rahmen dieser Vorsprache geführte "Ausreisegespräch" weist indes noch keinen konkreten Bezug zu bevorstehenden aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf. Zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens zur Erlangung von Passersatzpapieren am 7. September 2017 als konkret bevorstehende Vorbereitungsmaßnahme zur Aufenthaltsbeendigung hatte der Antragsteller jedoch bereits unter hinreichender Konkretisierung des Ausbildungsverhältnisses in der Vorsprache bei der Ausländerbehörde am 7. August 2017 eine Ausbildungsduldung beantragt.

24 b) Der Erteilung einer Ausbildungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG steht nach Auffassung des Senats voraussichtlich auch nicht entgegen, dass die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vorliegen, wonach die Erteilung einer Ausbildungsduldung ausscheidet, wenn bei dem Antragsteller aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden konnten.

25 Neben den in § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG beispielhaft aufgeführten Fällen der Täuschung und Falschangaben kann zwar in der unzureichenden Mitwirkung bei der Passbeschaffung grundsätzlich ein Versagungsgrund nach § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu sehen sein, der ein absolutes Erwerbstätigkeitsverbot und einen Versagungsgrund für die Ausbildungsduldung begründet (vgl. zu § 11 BeschV a.F. SächsOVG, B.v. 7.3.2013 - 3 A 495/11 - juris Rn. 7). Auch ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer im Rahmen seiner ihm obliegenden Mitwirkungspflichten gefordert, bezüglich seiner Identität und Staatsangehörigkeit zutreffende Angaben zu machen, an allen zumutbaren Handlungen mitzuwirken, die die Behörden von ihm verlangen, und darüber hinaus eigeninitiativ ihm mögliche und bekannte Schritte in die Wege zu leiten, die geeignet sind, seine Identität und Staatsangehörigkeit zu klären und die Passlosigkeit zu beseitigen. Zu den denkbaren Schritten kann auch die Beschaffung von Identitätsnachweisen über Dritte (beispielsweise beauftragte Rechtsanwälte) im Herkunftsland gehören (vgl. OVG MV, U.v. 24.6.2014 - 2 L 192/10 - Juris). Die Verletzung von gesetzlichen Mitwirkungspflichten nach § 48 Abs. 3 und § 82 Abs. 1 AufenthG durch Unterlassen steht nicht per se eigenen Falschangaben oder Täuschungshandlungen gleich (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 - 1 C 17.12 - BVerwGE 146, 281-293, Rn. 17). Unter Berücksichtigung der genannten Regelbeispiele muss eine mangelnde Mitwirkung ein gewisses Gewicht erreichen, so dass es gerechtfertigt erscheint, sie aktivem Handeln gleichzustellen und ein Bleiberecht zu versagen (vgl. für § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG BVerwG, U.v. 26.10.2010 - 1 C 18.09 - NVwZ-RR 2011, 210). Wenngleich dem Ausländer mithin eine Initiativpflicht obliegt, ist diese durch die Ausländerbehörde dergestalt zu aktualisieren, dass sie den Ausländer unter konkreter Benennung des Abschiebungshindernisses zu dessen Beseitigung auffordert, wobei ein allgemeiner Hinweis auf die Passpflicht sowie allgemeine Belehrungen nur bei Offensichtlichkeit der einzuleitenden Schritte genügen dürften (vgl. Röder/Wittmann, Aktuelle Rechtsfragen der Ausbildungsduldung, ZAR 2017, 345/351). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss die Ausländerbehörde gesetzliche Mitwirkungspflichten beispielsweise zur Beschaffung von Identitätspapieren konkret gegenüber dem Betroffenen aktualisiert haben, um aus der mangelnden Mitwirkung negative aufenthaltsrechtliche Folgen ziehen zu können (vgl. für § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG BVerwG, Um. 28.10.2010 - 1 C 18.09 - juris Rn, 17).

26 Vorliegend wurde der Antragsteller im Rahmen eines Antrags auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis mit Schreiben des Antragsgegners vom 5. Oktober 2016 auf die Passpflicht und darauf hingewiesen, dass er an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken und alle Urkunden und sonstigen Unterlagen, die für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein könnten und in deren Besitz er sei, vorzulegen habe (vgl. AS 88 der Verwaltungsakte). Abgesehen davon, dass zu diesem Zeitpunkt das Asylerstverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen war, wurde mit diesem Schreiben die Mitwirkungspflicht des Antragstellers nicht dahingehend konkretisiert, bei der Auslandsvertretung einen Pass zu beantragen, was zu diesem Zeitpunkt möglicherweise auch nicht zumutbar gewesen wäre - (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, § 15 AsylG. Rn. 11). Mit weiterem Schreiben des Antragsgegners vom 28. Juni 2017 wurde auf die Erfüllung der Passpflicht hingewiesen (vgl. AS 133 der Verwaltungsakte); im Rahmen der Vorsprache am 6. Juli 2017 wurden dem Antragsteller Belehrungen über gesetzliche Regelungen, u.a. über die Passpflicht ausgehändigt. Entgegen der Ausführungen des Antragsgegners wurde die Mitwirkungsverpflichtung des Antragstellers - abgesehen von der angeordneten Botschaftsvorführung mit Bescheid vom 29. September 2017, der der Antragsteller Folge leistete - nicht dahingehend konkretisiert, dass er zum Zwecke der Passbeschaffung bei der Auslandsvertretung einen Pass beantragen müsse. Es ist dem Antragsteller bei dieser Sachlage daher nicht anzulasten, dass er zunächst den Weg einer Dokumentenbeschaffung über einen in Afghanistan beauftragten Anwalt gewählt hat (vgl. Schreiben des Antragstellerbevollmächtigten vom 24.10.2017, AS 226). Dass dieser Weg nach Identitätsklärung im Rahmen der Botschaftsvorsprache und Ausstellung eines Reisedokumentes nach der Rückmeldung des kontaktierten Anwaltes vom 10. Dezember 2017 nicht weiterverfolgt wurde, ist dem Antragsteller auch nicht als kausale Mitwirkungspflichtverletzung anzulasten. Schließlich können der Erteilung nur solche Gründe entgegengehalten werden, die aktuell den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen hindern. Gründe, die den Vollzug ausschließlich in der Vergangenheit verzögert oder behindert haben, sind unbeachtlich (vgl. BayVGH, B. v. 28.04.2011 - 19 ZB 11.875 - juris Rn. 5 zu § 11 BeschVerfV a.F.). [...]