VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Beschluss vom 09.03.2018 - 4 L 444/18.WI.A - Asylmagazin 5/2018, S. 170 ff. - asyl.net: M26085
https://www.asyl.net/rsdb/M26085
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung zur Dublin-Familienzusammenführung nach Ablauf der Überstellungsfrist:

1. Das BAMF hat die Dublin-Familienzusammenführung der Eltern und jüngeren Schwester zu einem fast volljährigen Afghanen mit Abschiebungsverbot in Deutschland unverzüglich (spätestens bist zur gerichtlich gesetzten Frist) zu bewirken.

2. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Überstellung seiner Familienangehörigen aus Griechenland nach Deutschland (unter Bezug auf VG Wiesbaden, Beschluss vom 15.09.2017 - 6 L 4438/17.WI - asyl.net: M25517, Asylmagazin 10-11/2017). Dem Wohl des unbegleiteten Minderjährigen ist die familiäre Zusammenführung in Deutschland dienlich, daher ist Deutschland nach Art. 8 Abs. 3 Dublin-III-VO zuständig.

3. Der Anspruch auf Zusammenführung erlischt nicht durch Ablauf der Überstellungsfrist, da die rechtzeitige Überstellung daran scheiterte, dass Deutschland seiner Übernahmepflicht nicht nachgekommen ist (unter Bezug auf VG Wiesbaden, Beschluss vom 15.09.2017 - 6 L 4438/17.WI - asyl.net: M25517, Asylmagazin 10-11/2017). Ferner dürfte in der Übernahmeerklärung Deutschlands eine Zusicherung zu sehen sein.

4. Die Regelung des Art. 10 Dublin-III-VO, wonach die Zusammenführung zu einer Person erfolgt, die sich noch im Asylverfahren befindet, steht dem Anordnungsanspruch nicht entgegen. Zwar ist das Asylverfahren des unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland bereits abgeschlossen. Da die rechtzeitige Überstellung seiner Angehörigen aber allein durch das fahrlässige Verhalten des BAMF verhindert wurde, kann dies nicht zum Rechtsverlust des Betroffenen führen.

5. Die Überstellung hat zu erfolgen bevor der Antragsteller volljährig wird und sein Anspruch untergeht.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Dublinverfahren, unbegleitete Minderjährige, Familienzusammenführung, Griechenland, Dublin III-Verordnung, Familiennachzug, minderjährig, einstweilige Anordnung, Übernahmeersuchen, Überstellungsfrist, Überstellung, Beschränkung, Deckelung, Verlangsamung, Verwaltungspraxis, vorläufiger Rechtsschutz, Vorwegnahme der Hauptsache, subjektives Recht, Drittschutz, drittschützend, Kindeswohl, Achtung des Familienlebens, Kontingent, Kontingentierung, Familieneinheit, effektiver Rechtsschutz,
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 6, VO 604/2013 Art. 8 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 10, VO 604/2013 Art. 8 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 22 Abs. 7, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1 a, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1 S. 1, VO 604/2013 Art. 22 Abs. 7, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Insbesondere steht dem Antragsbegehren hier nicht das Verbot der unzulässigen, weil unnötigen Vorwegnahme der Hauptsache entgegen.

Mit Eintritt seiner Volljährigkeit droht dem Antragsteller ein unumkehrbarer Verlust seines Rechts, mit seiner Familie wieder zusammengeführt zu werden. (Daran änderte auch nichts, wenn die Antragsgegnerin etwa zusicherte, die Familienmitglieder auch danach noch zusammenzuführen.) [...]

Der Antragsteller hat einen zum Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

So macht der Antragsteller zutreffend geltend, dass der Anspruch auf Überstellung seiner Familienangehörigen mit Vollendung seines 18. Lebensjahres Anfang Juni 2018 untergehen könnte. Dieser Anspruch droht insbesondere deshalb hier vereitelt zu werden, weil die Antragsgegnerin ausweislich des Schreibens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2017 schon vor über elf Monaten mitgeteilt hat, dass sie dem Übernahmeersuchen Griechenlands zur Familienzusammenführung zugestimmt habe. Vor diesem Hintergrund steht zu besorgen, dass die Antragsgegnerin auch fürderhin die Überstellung nicht zu organisieren in der Lage oder bereit ist.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch darauf, dass die Antragsgegnerin verpflichtet wird, in Abstimmung mit den griechischen Behörden für eine unverzügliche Überstellung der genannten Familienangehörigen zu sorgen.

Das Gericht geht in Anbetracht des offenbar vorliegenden Übernahmeersuchens der griechischen Asylbehörden davon aus, dass diese zur Überstellung bereit sind und darum ersucht haben. Zudem haben diese die Asylanträge der dortigen Familienangehörigen als unzulässig abgelehnt mit der Begründung, die Antragsgegnerin sei für deren Bearbeitung zuständig.

Die Regelungen des Art. 8 Abs. 1 und 3, 29 Abs. 2 und 22 Abs. 7 Dublin III-VO sind auch drittschützender Natur (vgl. hierzu VG Wiesbaden, Beschluss vom 15.09.2017, Az.: 6 L 4438/17.WI.A, S. 7 ff. m. w. Nw.), so dass sich auch der Antragsteller auf einen Anspruch auf Überführung seiner Familienmitglieder berufen kann.

Bei dem Antragsteller handelt es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen, dessen Familienangehörige sich in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union aufhalten. Gemäß Art. 8 Abs. 3 Dublin III-VO wird der für das Bearbeiten des Asylverfahrens der Familienangehörigen zuständige Mitgliedsstaat danach bestimmt, was dem Wohl des unbegleiteten Minderjährigen dienlich ist. Dem Wohl des Antragstellers dienlich ist eine familiäre Zusammenführung hier in Deutschland, wo und weil sich der Antragsteller hier bereits seit April 2015, also seit annähernd drei Jahren, aufhält (laut Bundesamtsbescheid vom 17.11.17 soll er am 29.4.2015 Asyl beantragt haben).

Gemäß § 18 Abs. 1 a) Dublin III-VO ist die Antragsgegnerin als zuständiger EU-Mitgliedsstaat verpflichtet, die Familienangehörigen des Antragstellers, welche in Griechenland einen Asylantrag gestellt haben, der dort unter Hinweis auf die Zuständigkeit Deutschlands als unzulässig abgelehnt wurde, hier in Deutschland aufzunehmen.

Gemäß Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO hat die Überstellung innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs zu erfolgen. Hier liegt offenbar ein Aufnahmegesuch der Hellenischen Republik vor, dem die Antragsgegnerin bereits zugestimmt hat.

Gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO ist die Antragsgegnerin verpflichtet, diese Familienangehörigen aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für deren Ankunft zutreffen.

Es ist danach nicht ersichtlich, was einer Überstellung der Familienangehörigen des Antragstellers seither entgegensteht. Entsprechende Vorbehalte wurden auch von der Antragsgegnerin in diesem Verfahren nicht vorgetragen.

Der Antragsteller hat daher einen Anspruch darauf glaubhaft gemacht, dass seine Familienangehörigen unverzüglich nach Deutschland überstellt werden.

Dieser Anspruch dürfte hier auch nicht nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO erloschen sein. Zum einen ist nicht ersichtlich, dass es noch ausstehende Überstellung an griechischen Behörden scheiterte, es gibt vielmehr Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin der Übernahmepflicht nach Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO nicht nachgekommen ist. Letzteres kann nicht zum Untergang des Rechts des Antragstellers auf Zusammenführung führen, schon weil eine etwaige Kontingentierung in der Dublinregelungen nicht vorgesehen ist (vgl. hierzu VG Wiesbaden, a.a.O.).

Zum anderen dürfte der Übernahmeerklärung hier auch Zusicherungscharakter zukommen; die Antragsgegnerin kann sich nicht durch Zeitverzögerung einer Rechtspflicht entziehen.

Dem Anordnungsanspruch steht auch nicht entgegen, dass Art. 10 Dublin-III-VO für die Zuständigkeit des Mitgliedsstaats darauf abstellt, dass dort "noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist". Diese Formulierung lässt darauf schließen, dass eine Familienzusammenführung in einem anderen. Mitgliedsstaat nur dann erfolgen soll, wenn das Asylverfahren des dortigen Familienmitglieds noch nicht abgeschlossen ist. Dem dürfte die Überlegung zugrunde liegen, eine möglichst einheitliche Bewertung, wechselseitige Würdigung der Aussagen zu den Verfolgungsgründen und eine einheitliche Entscheidung der Asylbegehren der Familienmitglieder zu erreichen.

Im vorliegenden Fall ist der Asylantrag des hier lebenden Antragstellers mit Bescheid vom 17.11.2017 beschieden und weitgehend abgelehnt worden. Da am zuständigen VG Wiesbaden kein Rechtsmittelverfahren registriert ist, dürfte der Bescheid überdies bestandskräftig sein, da Zustellhindernisse nicht erkennbar sind.

Dies kann hier jedoch nicht zu einem Rechtsverlust des Antragstellers bzw. seiner in Griechenland wartenden Familienmitglieder führen, weil diese Konstellation allein durch das in der Verantwortung der Antragsgegnerin liegende Verhalten verursacht wurde, also von dieser fahrlässig herbeigeführt worden ist, ohne dass der Antragsteller hierauf einen Einfluss gehabt hätte. Eine denkbare Berufung auf diesen Umstand durch die Antragsgegnerin wäre als rechtsmissbräuchlich zu werten.

Dem Antragsbegehren ist daher stattzugeben.

Zwar hat der Antragsteller hier lediglich beantragt, dass an griechische Behörden entsprechende Mitteilungen gemacht werden. Das Gericht ist gemäß § 88 VwGO) jedoch nicht an die Fassung der Anträge gebunden, wohl aber an das erkennbare Rechtsschutzziel. Das Gericht geht ausweislich der eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers davon aus, dass es ihm darum geht, die Antragsgegnerin zu verpflichten, für eine unverzügliche Einreise seiner Familienangehörigen zu sorgen und dieses entsprechend zu bewerkstelligen.

Hierzu wird die Antragsgegnerin mit diesem Beschluss verpflichtet und dieses Rechtsschutzbegehren mit dem oben angegebenen Tenor damit zur Überzeugung des Gerichts vollständig erfasst. [...]

Das Gericht hat hier eine Frist bis zum 1. Mai 2018 für ausreichend erachtet, die Überstellung zu bewerkstelligen. Gleichzeitig bleibt danach bis zum Untergang des auf seiner Minderjährigkeit gründenden Rechts des Antragstellers ggfs. noch Raum für etwaige Vollstreckungsverfahren. [...]