OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.04.2018 - 1 A 10988/16 - asyl.net: M26347
https://www.asyl.net/rsdb/M26347
Leitsatz:

[Ehemaligem Schuldirektor aus Syrien droht Verfolgung aus politischen Gründen:]

1. Keine beachtlich wahrscheinliche Gefahr politischer Verfolgung im Falle einer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung des Senats und Rechtsprechungsübersicht) (Rn.43).

2. Drohende politische Verfolgung bei eigenmächtigem Verlassen eines Arbeitsplatzes in deutlich hervor­gehobener Position im syrischen Verwaltungsapparat (hier: Direktor einer größeren Schule) und illegaler Ausreise zwecks Schutzsuche im Ausland (Rn.40).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Syrien, Staatsdienst, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Berufsgruppe, illegale Ausreise, Aufenthalt im Ausland, Lehrer, politische Verfolgung, Schuldirektor, Loyalität, Geheimdienst, Befragung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

40 Der Kläger hat schon im Verwaltungsverfahren sowohl bei seiner Erstbefragung am Tag der Asylantragstellung, dem 28. April 2016, wie auch im Rahmen seiner Anhörung am 12. Mai 2016 angegeben, Schuldirektor gewesen zu sein (vgl. Bl. 31 und 39 der Verwaltungsakte). [...]

42 b. Selbst wenn man danach – wozu der Senat neigt – nicht von einer Vorverfolgung des Klägers ausgeht, so ergibt sich eine begründete Furcht vor Verfolgung jedoch jedenfalls aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

43 aa. Zwar kann, anders als das Verwaltungsgericht in seinem Urteil meint, eine solche Gefährdung nicht schon unter Hinweis darauf bejaht werden, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde. [...]

45 bb. Dem Kläger droht im Falle einer unterstellten Rückkehr nach Syrien indessen zur Überzeugung des Senats beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung, weil er seinen Arbeitsplatz als Direktor einer Schule unerlaubt verlassen hat und illegal ausgereist ist, um im Ausland Schutz zu suchen.

46 Syrischen Staatsbediensteten ist das Verlassen des Landes ohne eine entsprechende Erlaubnis ihrer Beschäftigungsbehörde grundsätzlich untersagt. Zwar erhalten verschiedenen Quellen zufolge Bedienstete in nicht sensiblen Bereichen – wie etwa Lehrer – eine solche Erlaubnis in der Regel ohne Schwierigkeiten. Wer jedoch das Land unerlaubt verlassen hat, muss bei seiner Rückkehr mit einer Untersuchung rechnen, mit der die Gründe hierfür aufgeklärt werden sollen. Abhängig vom Ergebnis wird dann der Berichtslage zufolge versucht, eine Lösung zu finden, um eine Rückkehr an den Arbeitsplatz zu erleichtern; die Ursache dieser Kompromissbereitschaft wird darin gesehen, dass dem Regime daran gelegen sei, sich seine Unterstützer zu erhalten (vgl. zum Ganzen Danish Refugee Council / Danish Immigration Service, August 2017).

47 Vorliegend ist der Kläger eigenem Bekunden zufolge bereits im Februar 2015 von D... nach Damaskus geflohen, hat sich dort versteckt und Syrien sodann im November 2015 verlassen. Selbst wenn man die Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens einmal dahinstehen lässt und unterstellt, dass der Kläger in Wahrheit legal und mit einer Ausreiseerlaubnis versehen das Land verlassen hat, so hätte er zumindest die syrischen Behörden über den Zweck seiner Ausreise und seine Absicht, nicht nach Syrien zurückzukehren, getäuscht und müsste im Falle einer Rückkehr jedenfalls aus diesem Grunde mit einer Untersuchung rechnen.

48 Für den – hypothetischen – Fall einer solchen Untersuchung erschiene es in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalles beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger in Anknüpfung an seine illegale Ausreise eine oppositionelle Haltung unterstellt würde. Als maßgeblichen Grund hierfür sieht der Senat an, dass der Kläger als Schulleiter einer Schule mit rund 450 Schülern eine – auch nach außen hin – deutlich hervorgehobene Position im syrischen Verwaltungsapparat innehatte. Die Vergabe und das Innehalten jedenfalls eines solchen hervorgehobenen Amtes ist in diktatorischen Herrschaftssystemen wie dem syrischen der Lebenserfahrung nach mit der Erwartung loyalen Verhaltens der Führung gegenüber verbunden. Das illegale Verlassen des Arbeitsplatzes würde demgemäß nach Ansicht des Senats vom syrischen Regime beachtlich wahrscheinlich als Bruch dieser Loyalität und damit einhergehend als Ausdruck der Gegnerschaft aufgefasst werden, so dass es nahe liegt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr als Oppositioneller behandelt und damit beachtlich wahrscheinlich der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wäre. Hierfür spricht auch der Umstand, dass Deserteuren aus der syrischen Armee – anders als Personen, die sich lediglich einer Einberufung zum Wehrdienst entzogen haben – Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge Verfolgungsmaßnahmen bis hin zur extralegalen Tötung drohen, welche einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende, auf eine vermutete oppositionelle Haltung abzielende Gerichtetheit aufweisen (vgl. dazu bereits Urteil des Senats vom 16. Dezember 2016 – 1 A 10922/16.OVG –, juris, m.w.N.).

49 Besondere Umstände, welche aus Sicht des syrischen Regimes eine abweichende Bewertung rechtfertigen könnten – beispielsweise, dass die Schule in den Händen des IS und der Kläger hierdurch im Zeitpunkt des Verlassens seiner Position dieser faktisch enthoben gewesen wäre (vgl. dazu etwa OVG Bremen, Urteil vom 24. Januar 2018 – 2 LB 194/17 –, juris) – sind vorliegend nicht erkennbar. [...]