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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 29.05.2018 - 1 C 15.17 - asyl.net: M26529
https://www.asyl.net/rsdb/M26529
Leitsatz:

Rücknahme einer Einbürgerung wegen Mehrehe:

1. Das Bestehen einer vom Einbürgerungsbewerber rechtswirksam im Ausland geschlossenen weiteren Ehe schließt im Sinne des § 9 Abs. 1 StAG eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse aus.

2. Eine Einbürgerung ist dann nicht nach § 35 Abs. 1 StAG einer Rücknahme zugänglich, wenn sie im Zeitpunkt der Einbürgerung auf anderer Rechtsgrundlage als jener, die von der Behörde herangezogen worden ist, hätte erfolgen müssen.

3. Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 10 Abs. 1 StAG sind Zeiten, in denen der Ausländer im Besitz einer für einen seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilten Aufenthaltsbewilligung war, nur dann zu berücksichtigen, wenn sie unter der Geltung des Aufenthaltsgesetzes zurückgelegt worden sind (Fortführung von BVerwG, Urteil vom 26. April 2016 - 1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47).

4. Bei der Ermessensentscheidung über die Rücknahme einer rechtswidrigen Einbürgerung nach § 35 Abs. 1 StAG ist ein im Zeitpunkt der Rücknahme bestehender Einbürgerungsanspruch zu berücksichtigen. Bei der Prüfung, ob ein solcher im Zeitpunkt der Einbürgerung besteht, bleiben die unmittelbaren Auswirkungen der (rechtswidrigen) Einbürgerung (Verlust der Ausländereigenschaft und Erlöschen des Aufenthaltstitels) außer Betracht.

5. Eine vom Einbürgerungsbewerber rechtswirksam im Ausland geschlossene weitere Ehe steht einem wirksamen Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG nicht entgegen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Einbürgerung, Doppelehe, Mehrehe, Rücknahme, freiheitliche demokratische Grundordnung, Täuschung, vorsätzliche Täuschung, Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse, Monogamiegebot, Zweitehe,
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1, StAG § 9, StAG § 10, StAG § 35, BGB § 1306, BGB § 1314, StGB § 172,
Auszüge:

[...]

21 [...] Die von dem Kläger geschlossene Doppelehe schließt jedenfalls im Sinne des § 9 Abs. 1 StAG eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse aus (s.a. OVG Münster, Urteil vom 2. September 1996 - 25 A 2106/94 - InfAuslR 1997, 82; VG Schleswig, Urteil vom 19. Februar 2001 - 1 A 178/98 - NordÖR 2001, 315; VG Braunschweig, Urteil vom 4. November 2003 - 5 A 308/03 - juris; VG Berlin, Beschlüsse vom 11. März 2005 - 2 A 161.04 - juris und vom 4. April 2005 - 2 A 32.05 - juris; Urteil vom 16. August 2005 - 2 A 161.04 - juris; VGH München, Urteil vom 4. Mai 2005 - 5 B 03.1371 - juris; Beschlüsse vom 29. September 2009 - 5 ZB 09.1137 - juris und vom 10. März 2011 - 5 ZB 10.1170 - juris; Urteil vom 30. Januar 2013 - 5 BV 12.2314 - juris; VG Saarlouis, Urteil vom 28. Oktober 2005 - 12 K 235/04 - juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Oktober 2006 - 5 B 15.03 - juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 13. Juli 2007 - 13 LC 468/03 - StAZ 2008, 110; VG Minden, Urteil vom 5. Dezember 2007 - 11 K 812/07 - juris; VG Darmstadt, Urteil vom 20. August 2008 - 5 E 840/07 - juris; VG München, Urteil vom 22. Februar 2010 - M 25 K 09.2704 - juris).

22 aa) In der bundesrepublikanischen Gesellschaft wird die Ehe weiterhin prägend als Einehe verstanden. Ungeachtet aller Wandlungen, die der Ehebegriff in den letzten Jahrzehnten genommen hat, und den verschiedenen Formen des Zusammenlebens von Partnern mit oder ohne Kinder ist der Grundsatz unangefochten, dass eine Ehe - so sie denn geschlossen werden soll - jeweils nur mit einer Person geschlossen werden kann und soll. Selbst außereheliche Beziehungen neben einer bestehenden Ehe stellen diesen Grundsatz nicht infrage; sie setzen den Grundsatz der Einehe vielmehr voraus und werden als - individuell lebbare und möglicherweise rechtfertigungsfähige - Abweichungen von einer fortbestehenden gesellschaftlichen Norm gewertet. Die Abschaffung des Straftatbestandes des Ehebruchs (§ 172 StGB <a.F.>) im Jahre 1969 (Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts - 1. StrRG vom 25. Juni 1969, BGBl. I S. 645) hat ebenfalls nichts daran geändert, dass die Achtung und Beachtung des Grundsatzes der Einehe sozial als wichtige Voraussetzung des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewertet wird.

23 bb) Diese gesellschaftlich-kulturelle Perspektive findet zudem im Recht eine klare, hochrangige Verankerung. § 172 StGB stellt unter Strafe, wenn verheiratete oder in Lebensgemeinschaft lebende Personen eine weitere Ehe oder Lebenspartnerschaft eingehen. Dass dieses strafrechtliche Verbot der Doppelehe bei einer nach anzuwendendem Sachrecht zulässigen, durch einen Ausländer in seinem Herkunftsstaat geschlossenen Doppelehe nicht greift und eine so geschlossene Ehe nach internationalem Privatrecht im Rahmen des deutschen ordre public als rechtsgültig betrachtet werden kann, ändert nichts an dem normativen Schutz des Grundsatzes der monogamen Ehe als solchem. Es begrenzt lediglich die innerstaatliche straf- oder zivilrechtliche Sanktionierung einer im Ausland geschlossenen Doppelehe, stellt aber weder normativ noch gesellschaftlich das Konzept der Einehe infrage. Der Grundsatz der Einehe prägt auch den Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG (BVerfG, Urteil vom 29. Juli 1959 - 1 BvR 205/58 u.a. - BVerfGE 10, 59 <66 f.>; Beschlüsse vom 7. Oktober 1970 - 1 BvR 409/67 - BVerfGE 29, 166 <176> und vom 4. Mai 1971 - 1 BvR 636/68 - BVerfGE 31, 58 <69>; OVG Münster, Beschluss vom 6. Januar 2009 - 18 B 1914/08 - NVwZ-RR 2009, 539 <540>; s.a. von Coelln, in: Sachs <Hrsg.>, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 7). Das Monogamiegebot nimmt teil an dem Schutz der Ehe als Institution, den der Gesetzgeber zu achten und zu verwirklichen hat (BVerfG, Beschluss vom 30. November 1982 - 1 BvR 818/81 - BVerfGE 62, 323 <330>). Bei einer Doppel- oder Mehrehe, die nur einem Geschlecht eröffnet ist, wird deren auch gesellschaftliche Ächtung grundrechtlich zusätzlich durch den Grundsatz der Gleichberechtigung (Art. 3 Abs. 2 GG) gestützt.

24 cc) Dieses Zusammenspiel von tiefgreifender gesellschaftlich-kultureller Prägung durch den Grundsatz der Einehe und dessen hochrangiger verfassungs- und strafrechtlicher Verankerung macht diesen zu einem Teil der deutschen Lebensverhältnisse im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 2 StAG, in die sich ein Einbürgerungsbewerber einzuordnen hat. Es gebietet dessen Beachtung durch einen Einbürgerungsbewerber und hindert eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse auch dann, wenn die Doppelehe im Ausland wirksam geschlossen worden ist und auch nicht gegen deutsches Strafrecht verstößt. [...]

26 a) Die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband ist unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage auf eine einheitliche Rechtsstellung gerichtet. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteile vom 17. März 2004 - 1 C 5.03 - NVwZ 2004, 997; vom 20. April 2004 - 1 C 16.03 - BVerwGE 120, 305 <308> und vom 20. März 2012 - 5 C 5.11 - BVerwGE 142, 145 Rn. 35) hat die Einbürgerungsbehörde daher im Rahmen ihrer Zuständigkeit ein Einbürgerungsbegehren hinsichtlich aller in Betracht kommenden Einbürgerungsgrundlagen zu prüfen. Eine Einbürgerung ist grundsätzlich dann nicht im Sinne des § 35 Abs. 1 StAG einer Rücknahme zugänglich, wenn sie auf anderer Rechtsgrundlage als jener, die von der Behörde herangezogen worden ist, hätte erfolgen müssen. Dies gilt namentlich in den Fällen, in denen ein gebundener Anspruch auf eine Einbürgerung nach § 10 Abs. 1 StAG besteht, bei dem die Einbürgerungsbehörde auch nicht hinsichtlich einzelner Einbürgerungsvoraussetzungen eine Ermessensentscheidung zu treffen hat (z.B. nach § 10 Abs. 2 und 3 Satz 2, § 12a Abs. 1 Satz 3 StAG). [...]

29 Der Kläger hielt sich zwar seit seiner Einreise im Jahre 1999 und im Einbürgerungszeitpunkt damit bereits ca. elf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Ein rechtmäßiger gewöhnlicher Aufenthalt liegt indes nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. nur BVerwG, Urteile vom 23. Februar 1993 - 1 C 45.90 - BVerwGE 92, 116 <127> und vom 18. November 2004 - 1 C 31.01 - BVerwGE 122, 199 <202 f.>) nur dann vor, wenn der zur Rechtmäßigkeit des Aufenthalts führende Aufenthaltstitel sich auch auf die Dauerhaftigkeit des Aufenthalts bezieht. Lediglich befristete, zweckgebundene Aufenthaltstitel reichten hiernach jedenfalls dann nicht aus, wenn die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem auch dauernden Aufenthalt rechtlich ausgeschlossen oder bei einer prospektiven Betrachtung nicht zu erwarten war. Hieran hält der Senat für Aufenthaltszeiten bis zum Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes auch gegen Stimmen im Schrifttum (s. nur Berlit, in: GK-StAR, Stand November 2015, § 10 StAG Rn. 129 ff.) fest. Die dem Kläger erteilten Aufenthaltstitel zum Zweck des Studiums nach § 28 AuslG vermittelten schon wegen des grundsätzlichen Verbots, vor der Ausreise eine Aufenthaltsgenehmigung zu einem anderen Zweck zu erteilen oder zu verlängern (§ 28 Abs. 3 AuslG), keinen entsprechenden Daueraufenthalt (s.a. Berlit, in: GK-StAR, Stand November 2015, § 10 StAG Rn. 127).

30 Keine andere Beurteilung rechtfertigt, dass der Senat diese Rechtsprechung dahin fortentwickelt hat, dass sich die Rechtmäßigkeit des gewöhnlichen Aufenthalts eines Ausländers unter Geltung des Aufenthaltsgesetzes auch aus einer für einen seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilten Aufenthaltserlaubnis ergeben kann, wenn dem Ausländer hierdurch bei retrospektiver Betrachtung ein Zugang zu einer dauerhaften Aufenthaltsposition eröffnet worden ist (BVerwG, Urteil vom 26. April 2016 - 1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47). Der Senat hat dies maßgeblich darauf gestützt, dass das Aufenthaltsgesetz - im Gegensatz zum früheren Ausländergesetz - keine eine weitere aufenthaltsrechtliche Verfestigung hindernde Sperrwirkung kennt, die bei einer Änderung des Aufenthaltszwecks der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für diesen geänderten Aufenthaltszweck entgegengehalten werden könnte, so dass bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Daueraufenthalts auch Zeiten zu berücksichtigen sind, in denen der Ausländer unter Geltung des Aufenthaltsgesetzes nur im Besitz einer für einen seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilten Aufenthaltserlaubnis war, wenn ihm auf diesem Wege ein Zugang zu einer dauerhaften Aufenthaltsposition eröffnet worden ist (BVerwG, Urteil vom 26. April 2016 -1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47 Rn. 18). Nur insoweit kann sich die Rechtmäßigkeit eines gewöhnlichen Inlandsaufenthalts in der Rückschau auch aus einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Ausbildung ergeben (BVerwG, Urteil vom 26. April 2016 - 1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47 Rn. 19).

31 Diese Überlegungen sind gerade nicht auf Aufenthaltstitel bzw. Aufenthaltszeiten übertragbar, die vor der Systemumstellung lagen, die durch das Aufenthaltsgesetz bewirkt worden ist. [...]

34 b) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Kläger im Einbürgerungsverfahren den Umstand nicht offenbart, dass neben der Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen, an welche der Einbürgerungsantrag anknüpfte, eine weitere Ehe bestand. Nach der Dauer des Inlandsaufenthalts des Klägers im Zeitpunkt der Antragstellung und den Umständen der Antragstellung ist offenkundig, dass die Bedeutung der Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen für die privilegierte Einbürgerung nach § 9 StAG dem Kläger ebenso bewusst war wie der Umstand, dass eine weitere Ehe eine Einbürgerung hindern würde.

35 Unerheblich hierfür ist die zwischen den Beteiligten strittige Bewertung der Gestaltung des Formulars, unter dessen Nutzung der Kläger seine Einbürgerung beantragt hatte, namentlich der Umstand, dass in dem Formular jedenfalls nicht ausdrücklich nach dem Bestand einer Zweitehe gefragt worden war, und die Tatsache, dass in dem Formular lediglich zu früheren Ehen Angaben abverlangt worden waren. Denn schon bei den Angaben zu dem Ehepartner hatte der Kläger vollständige Angaben zu machen. Bei bestehender Mehrehe sind Angaben auch dann unvollständig, wenn hier Angaben (nur) zu einem Ehepartner gemacht werden. Eine Beschränkung der Felder des Formulars auf nur eine Person begrenzt offenkundig und auch für den Einbürgerungsbewerber eindeutig nicht die Obliegenheit zu Angaben in Bezug auf alle Ehepartner bestehender Ehen; diese hätten entweder in dem Formular selbst (durch Teilung der Felder) oder außerhalb des Formulars gemacht werden können. Angaben nur zu dem Ehegatten, in Bezug auf den sich für den Kläger rechtliche Vorteile ergeben konnten, unterstreichen, dass diesem bewusst war, dass Angaben zu seiner weiteren Ehepartnerin die erstrebte Einbürgerung hindern würden oder doch könnten. [...]

40 a) Zu den Umständen, die bei einer fehlerfreien Ermessensentscheidung nach § 35 Abs. 1 StAG von Amts wegen zu berücksichtigen sind, gehört regelmäßig (zu möglichen Ausnahmen s.o. II.1.2 a) auch ein der Rücknahmeentscheidung entgegenstehender (hypothetischer) Einbürgerungsanspruch (s. BVerwG, Urteil vom 9. September 2003 - 1 C 6.03 - BVerwGE 119, 17 <23>).

41 Bereits die Funktion der Staatsangehörigkeit, verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit zu sein (s. BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - BVerfGE 116, 24 <44>; Beschlüsse vom 24. Oktober 2006 - 2 BvR 696/04 - NJW 2007, 425 Rn. 18 und vom 17. Dezember 2013 - 1 BvL 6/10 - BVerfGE 135, 48 Rn. 28 = juris Rn. 31, gebietet die Berücksichtigung eines im Zeitpunkt der Ermessensentscheidung bestehenden Einbürgerungsanspruchs (BVerwG, Urteil vom 9. September 2003 - 1 C 6.03 - BVerwGE 119, 17 <23>; s.a. OVG Lüneburg, Urteil vom 22. Oktober 1996 - 13 L 7223/94 - NdsRpfl. 1997, 85 <86>; VGH Kassel, Urteil vom 18. Mai 1998 - 12 UE 1542/98 - NVwZ-RR 1999, 274 <276>; VGH Mannheim, Urteil vom 29. November 2002 - 13 S 2039/01 - InfAuslR 2003, 205 <210>). Die Verlagerung auf ein (neuerliches) Einbürgerungsverfahren, das von dem Eingebürgerten einen entsprechenden Antrag erforderte (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 18. März 2005 - 2 A 133.04 - juris Rn. 13 ff.; s.a. Hailbronner/Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 35 StAG Rn. 44), entspräche schon nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach nationalem Recht. Soweit sie zugleich mit dem Verlust der über die deutsche Staatsangehörigkeit vermittelten Unionsbürgerschaft verbunden wäre, steht dem auch in Fällen einer durch Täuschung oder unzureichende Angaben erwirkten Einbürgerung die Beachtung des bei deren Rücknahme zu beachtenden unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-135/08 [ECLI:EU:C:2010:104], Rottmann -) entgegen.

42 Keine andere Beurteilung rechtfertigen mögliche Schwierigkeiten, einen solchen Einbürgerungsanspruch zeitnah zu prüfen. Die Komplexität einer Prüfung eines im Rücknahmezeitpunkt bestehenden Einbürgerungsanspruchs ist regelmäßig nicht so hoch, dass sie innerhalb der absoluten Rücknahmefrist des § 35 Abs. 3 StAG nicht bewältigt werden könnte. Die Rücknahmefrist wird zudem gewahrt, wenn die Rücknahme bis zum Ablauf von fünf Jahren nach der Bekanntgabe der Einbürgerung erfolgt; die Staatsangehörigkeitsbehörde kann in (zeitlichen) Grenzfällen im Rahmen eines etwaigen Widerspruchsverfahrens oder im Verwaltungsprozess (§ 114 Satz 2 VwGO) ihre Ermessenswägungen bei nicht nichtigen Rücknahmeentscheidungen ergänzen.

43 b) Bei bestehendem Einbürgerungsanspruch ist das Ermessen der Staatsangehörigkeitsbehörde allerdings nicht stets und fallunabhängig dahin "auf Null" reduziert, dass von der Rücknahme abzusehen wäre. Der Eingebürgerte ist durch die Berücksichtigung eines (hypothetischen) Einbürgerungsanspruchs nicht schlechter, aber auch nicht besser zu stellen, als wenn er auf die Erwirkung der rechtswidrigen Einbürgerung durch von § 35 Abs. 1 StAG erfasste Handlungen verzichtet hätte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Einbürgerung "für die Vergangenheit" ausscheidet - allzumal bei (erst) im Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung bestehendem Einbürgerungsanspruch.

44 Die Behörde darf bei ihrer Entscheidung daher auch in den Fällen, in denen nach § 35 Abs. 5 StAG eine eigenständige Ermessensentscheidung für Drittbetroffene zu treffen ist oder nach § 17 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 2 StAG zum Wegfall der (vermeintlich) durch Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen nach § 4 Abs. 1 StAG erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit führen kann, berücksichtigen, ob bzw. in welchem Umfange durch die Einbürgerung nach § 4 Abs. 1 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit vermittelt worden ist. Ebenfalls in die Ermessensentscheidung einzustellen ist, dass die nach § 35 Abs. 5 StAG zu treffende, gesonderte Ermessensentscheidung ebenfalls vom Bestehen eines Einbürgerungsanspruchs des rechtswidrig Eingebürgerten bzw. dem Fortbestand der Rücknahmeentscheidung abhängt. [...]

46 2.2 Die Ermessensentscheidung der Beklagten ist nicht schon deswegen fehlerfrei, weil einem Einbürgerungsanspruch nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG durchgreifend die Doppelehe des Klägers entgegensteht; denn diese hindert nicht ein (wirksames) Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

47 Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG hat sich ein Einbürgerungsbewerber zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu bekennen. Dieses Bekenntniserfordernis steht neben der Erklärung, dass er keine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten oder sonst im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 StAG sicherheitsrelevanten Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, und wird in der Sache durch den Ausschluss der Einbürgerung bei tatsächlichen Anhaltspunkten für entsprechende Bestrebungen ergänzt. Neben diesem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung besteht für die Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" (a); beide Begriffe sind auch nicht gleichzusetzen (b). Der Rechtsbegriff des Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist bereichsspezifisch auszulegen, hat aber als festen Begriffskern die Orientierung auf die staatliche Ordnung (c). Hiernach hindert die Zweitehe nicht ein wirksames Bekenntnis (d). Der Gesetzgeber ist aber nicht gehindert, die Anspruchseinbürgerung bei bestehender Mehrehe nicht zuzulassen (e.). [...]

50 b) Die in § 9 Abs. 1 Nr. 2 StAG geforderte "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" ist - entgegen der Rechtsauffassung des Vertreters des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht - nicht von dem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung umfasst. Die Anforderungen und Rechtsfolgen, die im Einzelnen aus dem Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung folgen, ergeben sich im Detail aus dem systematischen Zusammenhang, in dem dieser Begriff verwendet wird. Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hat als Rechtsbegriff allerdings einen auf die Gestaltung der staatlichen Ordnung und ihres Handelns bezogenen Begriffskern, der aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der einfachgesetzlichen Ausformung ableitbar ist und der auch einer an den Zwecken des Staatsangehörigkeitsrechts orientierten Auslegung Grenzen zieht. [...]