VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2018 - 7 E 4941/18 - asyl.net: M26829
https://www.asyl.net/rsdb/M26829
Leitsatz:

Bereithalteverfügung kann auf § 46 Abs. 1 AufenthG gestützt werden:

1. Eine Verfügung, mit der einer im Dublin-Verfahren zu überstellenden Person auf­gegeben wird, sich in der Nachtzeit in dem ihr zugewiesenen Unterkunftsraum für die Überstellung bereit zu halten, kann auf § 46 Abs. 1 AufenthG als Ermächtigungs­grundlage gestützt werden. Hiernach kann die Ausländerbehörde gegenüber vollziehbar Ausreisepflichtigen Maßnahmen zur Förderung der Ausreise treffen. (Entgegen OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.01.2018 - 13 ME 442/17 (Asylmagazin 3/2018, S. 100) - asyl.net: M25921).

2. In der Verfügung muss unter Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes berücksichtigt werden, wann aufgrund der Rückführungspraxis sowohl des überstellenden Staats als auch des Zielstaats der Überstellung ein Vollzug ohnehin nicht stattfinden würde. Im vorliegenden Fall ist die Bereithalteverfügung unverhältnismäßig und somit ermessensfehlerhaft, das sie sich über drei Monate erstreckt und allgemein den Zeitraum 22:00-06:00 Uhr vorgibt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Hausarrest, Bereithalteverfügung, Ermessensfehler, Rechtsgrundlage, Verhältnismäßigkeit, Überstellung, Ordnungsverfügung, Verfügung, Dublinverfahren,
Normen: AufenthG § 46 Abs. 1, VwGO § 114 ,
Auszüge:

[...]

3 1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der insoweit ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage in § 46 Abs. 1 AufenthG sind erfüllt. Auf § 46 Abs. 1 AufenthG ist abzustellen, da die Verfügung auf die Förderung der Ausreise des Antragstellers zielt.

4 a) Das alleinige tatbestandliche positive Erfordernis nach § 46 Abs. 1 AufenthG ist gewahrt; Ausschlussgründe sind nicht einschlägig.

5 Der Antragsteller ist, wie nach der Vorschrift tatbestandlich allein erforderlich (vgl. Hörich in: Kluth / Heusch, Ausländerrecht - Kommentar, 2016, § 46 AufenthG Rn. 5), vollziehbar ausreisepflichtig. [...]

8 b) § 46 Abs. 1 AufenthG ist vorliegend auch nicht etwa deshalb als Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Verfügung auszuschließen, weil die Norm weder auf der Tatbestandsseite noch auf der Rechtsfolgenseite – mit Ausnahme der Zweckbindung, die Ausreise zu fördern, sowie des mit "insbesondere" eingeführten Beispiels (vgl. insoweit OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.1.2018, 13 ME 442/17, juris, Rn. 5) der Wohnsitzbestimmung – zu einem bestimmten Katalog von Maßnahmen ausdrücklich ermächtigt oder sonst näher eingrenzt, welche Maßnahmen getroffen werden dürfen. Eine grundsätzliche Anwendbarkeit dieser gesetzlichen Regelung auf eine Verpflichtung wie die vorliegende dazu, die persönliche Erreichbarkeit für die beabsichtigte Überstellung in den zuständigen Dublinstaat in bestimmter Form zu gewährleisten, ist vielmehr nach Sinn und Zweck im Lichte der Gesetzgebungsgeschichte anzunehmen (aa)) und weder nach der Normsystematik (bb)) noch durch höherrangiges Recht (cc)) ausgeschlossen.

9 aa) Nach dem Willen des Gesetzgebers – hier (vgl. OVG Magdeburg, Beschl. v. 11.3.2013, 2 M 168/12, juris, Rn 6) der Begründung zu dem ursprünglichen Regierungsentwurf zu entnehmen (BT-Drs. 15/420, S. 88) – sollte der Ausländerbehörde ein weites, unterschiedliche Belange der Betroffenen berührendes, nach den jeweiligen Umständen zu konkretisierendes Spektrum von Einwirkungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, um sie in die Lage zu versetzen, die Erfüllung der Ausreisepflicht zu begünstigen:

10 "Dabei kommen alle Maßnahmen in Betracht, die geeignet sind, die Voraussetzungen für die tatsächliche Ausreise des Ausländers zu fördern. Hierzu zählt die Auferlegung von Handlungspflichten, z.B. die regelmäßige Vorsprache bei den zuständigen Behörden oder das Gebot zum Ansparen von finanziellen Mitteln für die Heimreise. Über die Verfügung zur Wohnsitznahme wird die Erreichbarkeit des Ausländers und die Einwirkungsmöglichkeit der Ausländerbehörde erreicht. Hierzu zählt auch die Verpflichtung, in einer Ausreiseeinrichtung zu wohnen (§ 61 AufenthG)."

11 Maßgeblich ist zunächst allein, ob die Maßnahme geeignet erscheint, die freiwillige oder erzwungene Ausreise des Ausländers zu fördern; eine Beschränkung auf einen bestimmten Maßnahmenkatalog ist damit nicht verbunden (vgl. insoweit auch OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.1.2018, aaO., Rn. 5 mwN.). Insbesondere können Maßnahmen ergriffen werden, um den Betroffenen im Falle einer Abschiebung besser erreichen zu können (vgl. VG Lüneburg, Beschl. v. 22.11.2017, 6 B 128/17, juris, Rn. 18 mwN.); dazu soll auch das Auferlegen einer werktäglichen Meldepflicht bei der Ausländerbehörde gehören (so OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.1.2018, aaO., Rn. 6).

12 bb) Die Systematik des § 46 Abs. 1 AufenthG selbst wie auch der Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes insgesamt steht einer Auslegung nicht entgegen, nach der zu den möglichen Maßnahmen auch eine solche gehört, die darauf zielt, die Erreichbarkeit für eine Überstellung zu gewährleisten. [...]

13 cc) Bei der streitgegenständlichen Verfügung handelt es sich um eine Regelung, die einer Verpflichtung zur Wohnsitznahme oder auch einer nach allgemeiner Ansicht durch die Vorschrift ermöglichten Verpflichtung, die Reisekosten auf einem Sperrkonto der Ausländerbehörde anzusparen (vgl. o. sowie Winkelmann, aaO., Rn 8), hinsichtlich der Eingriffsintensität hinlänglich gleicht (aaa)) und der insbesondere nicht die Qualität einer von § 46 Abs. 1 AufenthG mangels Verfahrensgarantien nicht gedeckten Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG zukommt, so dass insoweit auch dem Gebot Rechnung getragen ist, dass es Sache des Gesetzgebers ist, die wesentlichen Entscheidungen zu treffen (bbb)).

14 aaa) Die fragliche Verfügung verlangt dem Antragsteller in der Sache ab, zur Nachtzeit entweder sicherzustellen, dass er innerhalb von 15 Minuten wieder in seinem Zimmer ist, oder aber die Antragsgegnerin vorab per E-Mail davon informiert zu haben, dass er in der Nacht dort nicht erreichbar sein würde: Seinem Text nach gibt der Bescheid vom 6.9.2018 dem Antragsteller für die Zeit bis zum 6.12.2018 unter Bezugnahme auf die Abschiebungsanordnung und mit der Zweckangabe, sicherzustellen, dass der Antragsteller für eine Abschiebung zur Verfügung stehe, auf, sich nachts zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr in dem ihm zugewiesenen Zimmer in der Wohnunterkunft aufzuhalten. Dabei sei ein kurzfristiges Verlassen des Zimmers für jeweils 15 Minuten, um andere Räume der Einrichtung (z.B. Sanitärräume) aufzusuchen oder sich im Freien aufzuhalten, zulässig. Für den Fall, dass der Antragsteller dieser Aufforderung an einem bestimmten Tag einmal nicht nachkommen könnte, sei er aufgefordert, die Antragsgegnerin mindestens 12 Stunden vorher per E-Mail darüber zu informieren. Geschehe dies nicht, gehe man davon aus, dass sich der Antragsteller einer Abschiebung entziehen wolle, und werde unverzüglich Abschiebehaft beantragen. Eine Androhung oder gar bedingte Festsetzung von Zwangsmitteln zur Durchsetzung der Verfügung selbst enthält der Bescheid nicht. Voraussetzungen für die Abmeldung für ganze Nächte sind ebenfalls nicht ersichtlich; für die Beachtlichkeit der Abmeldung reicht – wie die Antragsgegnerin in einem Parallelverfahren auch bestätigt hat – anstelle einer Gestattung durch die Behörde die bloße Information von Seiten des Antragstellers aus. Der Verwendung des Wortes "einmal" kommt hier nicht die Bedeutung zu, dass in dem Geltungszeitraum der Verfügung nur eine Abmeldung akzeptiert werde, denn dafür wäre es dem Satzteil "an einem bestimmten Tag" voranzustellen gewesen. Dementsprechend trifft die Verfügung keinen wirksamen Ausschluss gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Abmeldungen, sondern lediglich gegenüber einer generellen Abmeldung.

15 bbb) § 46 Abs. 1 AufenthG, auf den nach dem Willen des Gesetzgebers alle Maßnahmen, die geeignet sind, die Voraussetzungen für die tatsächliche Ausreise des Ausländers zu fördern, gestützt werden können (vgl. o.), dürfte angesichts der betroffenen Grundrechte und der diesbezüglichen Eingriffsintensität auch als Grundlage für eine Verfügung wie die hier streitgegenständliche den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie genügen.

16 Hiernach hat der demokratisch legitimierte Gesetzgeber "in grundlegenden normativen Bereichen" alle wesentlichen Entscheidungen durch parlamentarisches Gesetz zu treffen. [...]

17 (1) Die streitgegenständliche Verfügung wird sich voraussichtlich nicht als Freiheitsentziehung des Antragstellers darstellen. [...]

23 Es erscheint jedoch unverhältnismäßig, dass die verbleibende belastende Wirkung der Verfügung innerhalb ihres auf drei Monate angelegten Geltungszeitraums nicht weiter beschränkt wird (hierzu unter a)). [...]

24 a) Nach dem Verständnis der Antragsgegnerin soll die streitgegenständliche Verfügung sicherstellen, dass der Antragsteller für eine Abschiebung zur Verfügung steht und dass die zuständige Behörde zu den in der Verfügung genannten Zeiten über den Aufenthaltsort des Antragstellers ständig informiert ist, um die gesetzlich vorgesehene unangekündigte Abholung zur Durchführung der Abschiebung durchführen zu können. Zur Erreichung dieses – für sich betrachtet legitimen (vgl.o.) – Zwecks ist es indes nicht erforderlich, dass der Antragsteller sich in Zeiträumen in der Unterkunft aufhält, in welchen der Vollzug einer Abschiebung bzw. Rückführungsmaßnahmen ohnehin nicht stattfindet bzw. nicht stattfinden könnte. Dies betrifft nach dem Ergebnis der im gerichtlichen Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung zunächst den Zeitraum des Wochenendes (Sonnabend und Sonntag) sowie Freitage. So erscheint es der mit einer Vielzahl von Rückführungsfällen, insbesondere sog. "Dublin-Fällen", befassten Kammer praktisch ausgeschlossen, dass an Wochenenden Rückführungen bzw. Abschiebungen in andere Staaten erfolgen bzw. auf Seiten der jeweiligen Zielstaaten an diesen Tagen überhaupt entsprechende Aufnahmebereitschaft besteht, was Voraussetzung für die Möglichkeit des Vollzugs von Abschiebungen wäre. Speziell für den vorliegenden Fall gilt dabei, dass die belgischen Behörden ausweislich ihrer in der vom Gericht beigezogenen Asylakte des Antragstellers (dort Bl. 105) enthaltenen Mitteilung vom 12.7.2018 eine Überstellung des Antragstellers nur an den Wochentagen Montag bis Donnerstag akzeptieren würden. Eine dementsprechend – jedenfalls nach summarischer gerichtlicher Prüfung – gebotene Beschränkung der Anwesenheitszeiten des Antragstellers in dem ihm zugewiesenen Zimmer in seiner Unterkunft auf diese Wochentage (Montag bis Donnerstag) enthält die streitgegenständliche Verfügung – auch entgegen der in anderen Bundesländern geübten Praxis (vgl. VG Lüneburg, Beschl. v. 22.11.2017, 6 B 128/17, juris, Rn. 4) – indes nicht.

25 Nicht erforderlich zur Erreichung des von der Antragsgegnerin mit der streitgegenständlichen Verfügung verfolgten Zwecks dürfte ferner die von der Antragsgegnerin vorgenommene Bestimmung des Zeitraums sein, in welchem sich der Antragsteller nach dem Inhalt der streitgegenständlichen Verfügung täglich in dem ihm zugewiesenen Zimmer in seiner Wohnunterkunft aufzuhalten hat (22:00 bis 6:00 Uhr). Dieser dürfte nach dem Ergebnis der summarischen gerichtlichen Prüfung zu lang bemessen sein, um in einem noch erforderlichen Maße sicherzustellen, dass der Antragsteller für eine Abschiebung zur Verfügung steht. Auch insofern ist der erkennenden Kammer aus langjähriger Praxis bekannt, dass Abschiebungen im Regelfall nicht in den frühen Nachtstunden durchgeführt werden, sondern meist in den frühen Morgenstunden mit der Abholung des bzw. der Betroffenen an seiner bzw. ihrer Wohnunterkunft beginnen. [...]

20 (2) Die insoweit allenfalls vorliegende Freiheitsbeschränkung – soweit entgegen den obigen Ausführungen hierfür bereits ein durch die Anordnung bzw. durch eine im Einzelfall bei Nichtbefolgung ggf. drohende Anordnung von Abschiebungshaft vermittelter psychischer Zwang ausreichen sollte – bzw. der ansonsten vorliegende Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG dürften entsprechend den obigen Ausführungen nur in leichter bis mittlerer Intensität bestehen, so dass die Anwendung der Rechtsgrundlage des § 46 Abs. 1 AufenthG auf den vorliegenden Sachverhalt, der mit den einschränkenden Vorgaben der "vollziehbaren Ausreisepflicht" und der "Förderung der Ausreise" bereits entsprechende Entscheidungen bzw. Eingrenzungen auf den betreffenden Sachverhalt des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zugrunde liegen, den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie genügt.

21 2. Die Verfügung der Antragsgegnerin kann allerdings deshalb in der gerichtlichen Prüfung keinen Bestand haben, weil die getroffene Ermessensentscheidung im Sinne von § 114 VwGO wegen Überschreitung der Ermessensgrenzen fehlerhaft sein dürfte. [...]