OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.01.2018 - 13 ME 442/17 (Asylmagazin 3/2018, S. 100) - asyl.net: M25921
https://www.asyl.net/rsdb/M25921
Leitsatz:

[Eilrechtsschutz gegen offensichtlich rechtswidrigen nächtlichen Hausarrest im Dublin-Verfahren:]

§ 46 Abs. 1 AufenthG ermöglicht den Erlass einer Wohnsitzauflage, die Zuweisung einer speziellen Unterkunft und die Auferlegung von Meldeauflagen und Anzeigepflichten, nicht jedoch Maßnahmen mit freiheitsbeschränkendem Charakter, wie etwa die Verpflichtung zum nächtlichen Aufenthalt in der zugewiesenen Unterkunft.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Stubenarrestverfügung, Stubenarrest, Anwesenheitspflicht, Abschiebungshaft, vorläufiger Rechtsschutz, Überstellungshaft, Überstellung, Hausarrest, Ordnungsverfügung, Verfügung, Ausreisepflicht, vollziehbar ausreisepflichtig, Anzeigepflicht, Ausreiseförderung, Meldepflicht, Meldeauflage, Aufenthaltsverpflichtung, Wohnsitzauflage, Freiheitsbeschränkung, nächtlicher Hausarrest,
Normen: AufenthG § 46, AufenthG § 46 Abs. 1, AufenthG § 50 Abs. 1, AufenthG § 50 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 28, AufenthG § 2 Abs. 15,
Auszüge:

[...]

4 Nach der im vorliegenden Eilverfahren allein gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die mit Bescheid vom 1. November 2017 gegenüber dem Antragsteller angeordnete Pflicht, sich von Montag bis Freitag zwischen 00.00 und 07.00 Uhr in der ihm zugewiesenen Unterkunft in der D. Str., E. aufzuhalten und die Absicht, sich zu diesen Zeiten nicht in seiner Unterkunft aufzuhalten, spätestens am vorherigen Tag der Ausländerbehörde des Antragsgegners unter Angabe des beabsichtigten Aufenthaltsorts anzuzeigen, als offensichtlich rechtswidrig.

5 Nach § 46 Abs. 1 AufenthG kann die Ausländerbehörde gegenüber einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer Maßnahmen zur Förderung der Ausreise treffen, insbesondere kann sie den Ausländer verpflichten, seinen Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen. Es kommen alle Maßnahmen in Betracht, die geeignet sind, die freiwillige oder erzwungene (vgl. Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 46 AufenthG Rn. 6; GK-AufenthG, § 46 Rn. 9, (Stand April 2006); Hailbronner, AuslR, § 46 AufenthG Rn. 2, (Stand Oktober 2010) Ausreise des Ausländers zu fördern. Hierzu zählt die Auferlegung von Handlungspflichten, z.B. die regelmäßige Vorsprache bei den zuständigen Behörden oder das Gebot zum Ansparen von finanziellen Mitteln für die Heimreise. Über die Verfügung zur Wohnsitznahme wird die Erreichbarkeit des Ausländers und die Einwirkungsmöglichkeit der Ausländerbehörde sichergestellt (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 88 zu § 46). Eine entsprechende Anordnung muss einen sinnvollen Bezug zu diesem zulässigen Verfahrenszweck aufweisen und darf nicht in Schikane mit strafähnlichem Charakter ausarten, auf eine unzulässige Beugung des Willens hinauslaufen oder den Betreffenden im Einzelfall unverhältnismäßig treffen (vgl. OVG Sachsen- Anhalt, Beschl. v. 11.3.2013 - 2 M 168/12 -, juris Rn. 6). In diesem Zusammenhang und unter diesen Voraussetzungen kann auch die Verpflichtung ausgesprochen werden, sich in eine bestimmte Unterkunft zu begeben (vgl. GK-AufenthG, a.a.O., Rn. 13; Hailbronner, a.a.O., Rn. 3; a. A.: Hofmann, AuslR, § 46 Rn.7), denn die in § 46 Abs. 1 AufenthG ausdrücklich genannte Wohnsitzauflage stellt keine abschließende Regelung dar, sondern bildet lediglich ein Beispiel ("insbesondere").

6 Die vom Antragsgegner verfügte nächtliche Aufenthaltsverpflichtung in seiner Unterkunft geht über diese nach § 46 Abs. 1 AufenthG zulässigen Maßnahmen hinaus. Sie erschöpft sich nicht in einer Wohnsitzauflage, der Zuweisung einer speziellen Unterkunft oder einer Meldeverpflichtung, sondern gibt dem Antragsteller positiv die Verpflichtung auf, sich zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort aufzuhalten. Damit weist sie einen freiheitsbeschränkenden Charakter auf, der von § 46 Abs. 1 AufenthG nicht gedeckt ist. Zur Durchführung der Überstellung in einen EU-Mitgliedstaat im Dublin-Verfahren sieht Art. 28 VO (EU) Nr. 604/2013 i.V.m. § 2 Abs. 15 AufenthG unter den dort genannten Voraussetzungen die Inhaftnahme des Ausländers vor. Der Antragsgegner ist gehalten, das dortige Verfahren zu betreiben, wenn er freiheitsentziehende Maßnahmen gegen den Antragsteller erwirken will. Für eine Freiheitsbeschränkung im Sinne eines "nächtlichen Hausarrests" als milderes Mittel gegenüber einer Überstellungshaft als Freiheitsentziehung bietet § 46 Abs. 1 AufenthG keine Grundlage. Die Ausländerbehörde hat demgegenüber nach § 46 Abs. 1 AufenthG - über die ohnehin bestehende gesetzliche Anzeigepflicht des § 50 Abs. 4 AufenthG hinaus - die Möglichkeit, unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer aufzugeben, sich täglich (werktäglich) bei ihr zu melden und eine geplante Abwesenheit zuvor anzuzeigen. Auch auf diesem Wege ist die Erreichbarkeit des Ausländers in hinreichender Weise sichergestellt. Des weitergehenden Eingriffs durch Verpflichtung zum nächtlichen Aufenthalt in seiner Unterkunft bedarf es dazu ersichtlich nicht. [...]