VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.01.2019 - 11 S 1109/18 - asyl.net: M27040
https://www.asyl.net/rsdb/M27040
Leitsatz:

Bindungswirkung verwaltungsgerichtlicher Urteile:

1. Das Bundesland als Träger der zuständigen Fachaufsichts- und Widerspruchsbehörde kann sich nicht darauf berufen, dass ein Urteil, das gegen eine seiner Gemeinden als untere Ausländerbehörde ergangen ist, für das Land nicht bindend sei (Anschluss an HessVGH, Beschluss vom 20.07.2004 - 9 TG 1346/04 -, juris).

2. Das Urteil bindet umgekehrt auch eine später zuständige untere Ausländerbehörde, wenn das Land, zu dem die Ausländerbehörde gehört, an dem vorausgegangenen verwaltungsgerichtlichen Verfahren beteiligt war und an die Rechtskraft des Feststellungsurteils gebunden ist.

3. Die Ausstellung der Aufenthaltskarte darf nicht von der Vorlage eines anerkannten gültigen Passes abhängig gemacht werden, wenn die Identität und das Freizügigkeitsrecht bereits mit anderen Mitteln nachgewiesen wurden. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bindungswirkung, Verwaltungsgericht, gerichtliche Entscheidung, freizügigkeitsberechtigt, drittstaatsangehörige Familienmitglieder, Zuständigkeit, Aufenthaltskarte, Identitätsfeststellung, Pass, Passpflicht, Identitätsnachweis,
Normen: VwGO § 121 Nr. 1, RL 38/2004/EG Art. 10 Abs. 2, RL 38/2004/EG § 5 Abs. 1 S. 1 , RL 38/2004/EG § 5 Abs. 4, RL 38/2004/EG § 5a Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Nichts Anderes als im Falle der Rechtskraftbindung im Verhältnis zwischen Ausgangs- und Widerspruchsbehörde kann im umgekehrten Fall gelten, in dem das Land - wie hier - unstreitig an die Rechtskraft des vorausgegangenen Urteils gebunden ist und am nachfolgenden Verfahren als Widerspruchsbehörde beteiligt war. Die Beklagte nimmt die Aufgaben der unteren Ausländerbehörde im Sinne des FreizügG/EU für das Land als Pflichtaufgabe nach Weisung wahr (vgl. § 71 Abs. 1 AufenthG, § 2 Satz 1 Nr. 3 AAZuVO i.V.m. § 15 Abs. 2 LVG; zur Anwendbarkeit von § 71 Abs. 1 AufenthG im Bereich des FreizügG/EU vgl. BVerwG, Urteil vom 16.07.2015 - 1 C 22.14 -, juris, Rn. 13) und unterliegt hierbei der Fachaufsicht des Landes (§ 21 Abs. 1 und 2 LVG), dessen Fachaufsichtsbehörden ihr gegenüber insoweit über ein unbeschränktes Weisungsrecht verfügen und bei Nichtbefolgung von Weisungen die erforderlichen Maßnahmen an ihrer Stelle treffen können (vgl. § 21 Abs. 3 LVG, § 4 Abs. 4 AAZuVO). Das Land hat die Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung für die Vorfrage der Freizügigkeitsberechtigung seiner Entscheidung im Widerspruchsverfahren auch zutreffend zugrunde gelegt. Da das Land gegenüber der Beklagten schon zuvor unbeschränkt weisungsbefugt war, ist es sachlich nicht zu rechtfertigen, die Wirkung der Rechtskraft erst im Widerspruchsverfahren zur Geltung kommen zu lassen und somit den Kläger gleichsam "ins Widerspruchsverfahren zu zwingen", um den vorangegangenen Urteilsspruch durchzusetzen. Dies gilt zumal, da der Beklagten in diesem Bereich keine eigenen Rechte zukommen, in denen sie durch die vorstehende Betrachtungsweise verletzt sein könnte.

Im Bereich des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts als Pflichtaufgaben nach Weisung bindet die Rechtskraft eines Feststellungsurteils, das gegenüber dem Land als beteiligtem Rechtsträger der zunächst zuständigen Behörde ergangen ist, im sachlichen Umfang ihrer Wirkungen nach alledem auch den ggf. hiervon abweichenden Rechtsträger einer später zuständigen Ausländerbehörde desselben Landes (vgl. in diesem Sinne verallgemeinernd auch Rennert, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 121 Rn. 38 (Bindung "im Verhältnis zwischen Land und Gemeinde")). [...]

Das Verwaltungsgericht führt insoweit aus, das Gesetz ermögliche das Verlangen nach einem anerkannten gültigen Pass (nur) zur sicheren Feststellung der Identität des Familienangehörigen, nicht aber dann, wenn diese mit anderen Mitteln sicher festgestellt werden könne oder gar feststehe. Ernstliche Zweifel an dieser Auffassung zeigt die Beklagte nicht auf: Mit § 5a FreizügG/EU werden die Art. 8 Abs. 3 bis 5 und Art. 10 Abs. 2 RL 2004/38/EG umgesetzt. Die Norm ermächtigt indes nicht dazu, die in ihr genannten Dokumente zu verlangen, wenn das Freizügigkeitsrecht aus anderen Gründen bereits nachgewiesen ist. Vielmehr darf die Ausländerbehörde die Vorlage der in § 5a FreizügG/EU bezeichneten Dokumente nur dann verlangen, wenn das Freizügigkeitsrecht nicht bereits anderweitig nachgewiesen ist (Hoppe, in: HTK-AuslR, § 5a FreizügG/EU, Stand: 18.11.2016, Rn. 1 ff.). Denn das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seines Familienangehörigen kann nach Unionsrecht nicht davon abhängig gemacht werden, dass der Betroffene einen gültigen Personalausweis oder Reisepass vorlegt, sofern seine Identität und seine Staatsangehörigkeit zweifelsfrei mit anderen Mitteln nachgewiesen werden können. Die Verpflichtung zur Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses dient vor diesem Hintergrund nur dazu, die Feststellung des Freizügigkeitsrechts zu erleichtern (vgl. EuGH, Urteil vom 17.02.2005 - Rs. C-215/03 - <Oulane>, juris, Rn. 22 und 26; Dienelt, in: Bergmann/ders., AuslR, 12. Aufl. 2018, § 5a FreizügG/EU Rn. 2 f.; für den Nachweis der Eigenschaft eines "Familienangehörigen" vgl. auch EuGH, Urteil vom 27.06.2018 - Rs. C-246/17 - <Diallo>, juris, Rn. 47). Diese unionsrechtlich begründete Auslegung stellt der Zulassungsantrag nicht in Frage, wenn er der Sache nach lediglich behauptet, die Ausstellung der Aufenthaltskarte könne - selbst im Falle eines nachgewiesenen bzw. durch Urteil festgestellten Freizügigkeitsrechts - versagt werden, wenn ein gültiger Pass nicht rechtzeitig vorgelegt werde. [...]