VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.03.2019 - A 4 S 335/19 - Asylmagazin 5/2019, S. 181 ff. - asyl.net: M27123
https://www.asyl.net/rsdb/M27123
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz, kein Abschiebungsverbot bei Wehrdienstentziehung in Syrien:

"1. Im Falle wehrdienstflüchtiger Männer aus Syrien liegen weiterhin regelmäßig Gründe für die Annahme vor, dass ihnen ernsthafter Schaden aufgrund unmenschlicher Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG droht. Dieser Personengruppe steht deshalb grundsätzlich internationaler Subsidiärschutz zu. Für Erwägungen, syrischen wehrdienstflüchtigen Männern aufgrund der mit russischer und iranischer Unterstützung durchgeführten Machtkonsolidierung des Assad-Regimes nunmehr nur noch den sogenannten nationalen Komplementärschutz als bloßes Verbot der Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zuzuerkennen, besteht derzeit kein Raum. Auch nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes vom 13.11.2018 besteht heute in keinem Teil Syriens interner Schutz und es gibt nirgendwo Rechtssicherheit bzw. Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Folter.

2. Subsidiärschutz wird primär wegen der besonderen Schwere der drohenden Rechtsgutverletzung gewährt. Internationaler Flüchtlingsschutz hingegen kann nur gewährt werden, wenn eine Verletzung fundamentaler Rechte in diskriminierender Weise gegeben ist, weil Verfolgung bzw. Ausgrenzung individuell droht gerade wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Bei wehrdienstflüchtigen Männern aus Syrien kann der-zeit nicht angenommen werden, ausnahmslos jeder Mann werde als "Oppositioneller" mit regimekritischer Meinung oder Grundhaltung verfolgt (im Anschluss an VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.10.2018 - A 3 S 791/18 - [asyl.net: M26715], Juris).

3. Internationaler Flüchtlingsschutz kann dieser Personengruppe regelmäßig auch nicht pauschal im Hinblick auf die illegale Ausreise aus Syrien und das Stellen eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland, auf die Religion bzw. Ethnie oder die regionale Herkunft etwa aus einer (zeitweiligen) Rebellenhochburg gewährt werden.

4. Auch einer Person dieser Gruppe kann die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nur dann zuerkannt werden, wenn in einer Einzelfallprüfung, gestützt auf entsprechende Erkenntnisquellen besondere, individuell gefahrerhöhende Umstände aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe feststellbar sind."

(Amtliche Leitsätze)

Anmerkung der Redaktion:

  • In diesem Fall gewährte das BAMF subsidiären Schutz. Auf Klage des Betroffenen hob das VG Freiburg den Bescheid auf und verpflichtete das BAMF zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Auf Berufung des BAMF ändert der VGH durch diese Entscheidung das Urteil des VG und bestätigt die Zuerkennung subsidiären Schutzes durch das BAMF. Bemerkenswert ist, dass der VGH trotz bereits erfolgter subsidiärer Schutzgewährung durch das BAMF ausdrücklich betont, dass die Gewährung lediglich von Abschiebungsverboten bei Wehrdienstentziehung nicht in Frage kommt.
  • Zu geänderten Länderleitsätzen des BAMF siehe asyl.net Meldung vom 11.4.2019
Schlagwörter: Syrien, Upgrade-Klage, Aufstockungsklage, Wehrdienstentziehung, subsidiärer Schutz, Militärdienst, Abschiebungsverbot, Wehrpflicht, politische Verfolgung, Flüchtlingseigenschaft, Verfolgungsgrund, Rückkehrgefährdung, Asylantrag, Asylantragstellung, Auslandsaufenthalt, illegale Ausreise, bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, extreme Gefahrenlage, Europäische Menschenrechtskonvention, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, interner Schutz, Rebellenhochburg,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, RL 2011/95/EU Art. 15 Bst. b, RL 2011/95/EU Art. 15, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2, AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 1 Bst. e, RL 2011/95/EU Art. 12 Abs. 2, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

I. Die Beklagte hat dem Kläger zu Recht gemäß § 4 AsylG internationalen Subsidiärschutz zuerkannt. Für Erwägungen, syrischen wehrdienstflüchtigen Männern aufgrund der mit russischer und iranischer Unterstützung durchgeführten Machtkonsolidierung des Assad-Regimes nunmehr nur noch den sogenannten nationalen Komplementärschutz als bloßes Verbot der Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zuzuerkennen, sieht der Senat derzeit keinen Raum. Auf Grundlage der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ist vielmehr weiterhin davon auszugehen, dass Flüchtlinge aus dieser Personengruppe regelmäßig Anspruch auf internationalen Subsidiärschutz haben. [...]

2. Nach diesen Maßstäben liegen im Falle wehrdienstflüchtiger Männer aus Syrien auch aus den inzwischen vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten weiterhin regelmäßig Gründe für die Annahme vor, dass ihnen dort jedenfalls ernsthafter Schaden aufgrund unmenschlicher Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG droht. [...]

a. Diese Gefahr besteht insbesondere für syrische Männer, die ihr Land verlassen haben, obwohl sie der Wehrpflicht unterlagen, was beim Kläger trotz seines Alters von über 42 Jahren nicht mit der notwendigen Sicherheit auszuschließen ist. Gemäß Art. 46 der syrischen Verfassung ist Militärdienst eine heilige Pflicht. Der 3. Senat des erkennenden Verwaltungsgerichtshofs hat hierzu im Urteil vom 23.10.2018 (- A 3 S 791/18 -, Juris Rn. 26 ff.) im Einzelnen treffend ausgeführt: [...]

b. Auch der Bericht des Auswärtigen Amtes vom 13.11.2018 über die Lage in Syrien gibt keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass sich die Gefährdungssituation für wehrdienstflüchtige Männer aufgrund der mit russischer und iranischer Unterstützung durchgeführten Machtkonsolidierung des Assad-Regimes inzwischen rechtserheblich abgeschwächt haben könnte. Im Gegenteil führt der Bericht im Wesentlichen aus, dass trotz Abflauens der Bürgerkriegskämpfe und teilweiser Stabilisierung der militärischen Lage zugunsten der syrischen Regierung nach wie vor ein im dargestellten Sinne bestehendes "real risk" für Leib und Leben anzunehmen ist. In keinem Teil Syriens bestehe interner Schutz und es gebe keine Rechtssicherheit bzw. Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Folter. Hinsichtlich der Repressionen durch den syrischen Staat bestätigt der Bericht eindrucksvoll, dass jener gegen jedermann allgemein willkürlich auch mit unumschränkter Gewalt vorgeht. Der Krieg in Syrien hat zwar die Wirtschaft stark geschwächt, das Assad-Regime faktisch jedoch gestärkt. Das Regime hat heute wohl die volle Unterstützung des Militärs sowie aller militärischen und zivilen Geheimdienste. Diese werden von engen Vertrauten oder Verwandten des Präsidenten geleitet. Die Geheimdienste unterhalten eigene Gefängnisse und zum Teil auch Krankenhäuser sowie Verhöreinrichtungen, bei denen es sich de facto um weitgehend rechtsfreie Räume handelt (AA, Bericht vom 13.11.2018, S. 8 ff., 15 ff.). [...]

Die geheimdienstlichen Verhaftungskampagnen gegen Zivilisten unterscheiden nicht zwischen Dissidenten und neutralen Bürgern. Auch Alter oder Geschlecht sind meist irrelevant. Wer nicht verhaftet wird, hat oftmals einfach Glück (M. Hayed, Syrian Society is Failing Female Survivors of Torture and Detention, 05.10.2018). [...] Mit den gesammelten Beweismitteln auch des von der UN gegründeten IIIM (https://iiim.un.org/) führte dies im Juni 2018 zu einem ersten Verfahren mit internationalem Haftbefehl gegen den Chef des syrischen Luftwaffengeheimdienstes durch die Bundesanwaltschaft. Wird das Verfahren weiter-geführt und erhält es zunehmende Aufmerksamkeit, dann besteht die Möglichkeit, dass das syrische Regime Rückkehrer gerade aus Deutschland tatsächlich als Oppositionelle wahrnehmen könnte bzw. als Personen, die mit Oppositionellen in Europa in Verbindung stehen. Sicher ist derzeit, dass mit dem Rückgang der Kampfhandlungen der Einfluss der Sicherheits- und Geheimdienste wieder steigt. Neuere Fälle sind dokumentiert, in denen Rückkehrer aus Europa verhaftet wurden und dauerhaft "verschwunden" sind (S. Hayden/Z. Ghandour, Die Zeit vom 10.12.2017; The Syrian Times vom 24.03.2018).

Sicherheit vor willkürlicher Verhaftung und Folter durch die syrischen Sicherheits- und Geheimdienste gibt es damit auch heute in keinem Teil des Landes, was insbesondere für Gebiete unter Regimekontrolle gilt (AA, Bericht vom 13.11.2018, S. 23). Willkür bedeutet allerdings nicht wahlloses Handeln, sondern das Abstellen auf unvorhersehbare bzw. unkalkulierbare Umstände (Einreise aus einem europäischen Land, Aufgreifen an einem Checkpoint, Eintrag auf einer Geheimdienstliste, Verlust von Dokumenten bzw. die fehlende Ausweismöglichkeit, Verwandtschaftsverhältnis mit gesuchten Personen, bestimmter Herkunftsort, etc.). Willkür ist insoweit im Sinne eines Patrimonialismus zu begreifen, d.h. als Teil eines totalitären politischen Herrschaftsprinzips, das bewusst Angst und Unvorhersehbarkeit produziert. Konkret für Syrien bedeutet dies, dass jemand auch ohne jeglichen Grund bei der Einreise festgehalten werden kann und erst im Laufe der Verhaftung ein "politischer Fall" konstruiert wird. Sicher ist, dass gerade auch syrische Männer im wehrdienstfähigen Alter - weil der Staat an ihnen ein besonderes militärisches bzw. strafrechtliches Interesse hat - heute an sämtlichen Landgrenzübergängen und Flughäfen festgehalten und verhört werden und dadurch der unmittelbaren Gefahr ausgesetzt sind, ganz unabhängig von einer Einstufung als Regimegegner willkürliche Verhaftung und auch Folter zu erleiden (vgl. UNHCR, Herkunftslandinformationen Syrien, 2/2017, S. 5 ff.).

Damit aber bestehen für den Senat derzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, die Gefährdungssituation in Syrien für wehrdienstflüchtige Männer hätte sich dergestalt verbessert, dass die Voraussetzungen des internationalen Subsidiärschutzes weggefallen wären. [...]

Internationaler Schutz wird insoweit im Sinne eines den Flüchtlingsschutz wegen individueller politischer Verfolgung ergänzenden zusätzlichen Schutzes auch unabhängig von den fünf anerkannten Verfolgungsgründen gewährt allein wegen der besonderen Schwere der drohenden Rechtsgutverletzung.

II. In dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) bestehen hingegen keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Begehren des Klägers, ihm zusätzlich zum Subsidiärschutz die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Senat ist sich bewusst, dass durch die Versagung der begehrten "Aufstockung" des internationalen Schutzes zugleich sowohl ein Familiennachzug gemäß Art. 9 bis 12 der Richtlinie 2003/86/EG erschwert als auch kein möglicherweise verstärkter Schutz im Rahmen eines eventuellen Widerrufsverfahrens gemäß §§ 73, 73b AsylG gewährt wird, sollte sich eines Tages die Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien rechtserheblich geändert haben. Die Aspekte des Familiennachzugs bzw. verstärkten Widerrufsschutzes aber dürfen für den dem Gesetz unterworfenen Richter keinen Einfluss auf die Frage haben, ob die normativen Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes erfüllt sind. [...]

1. Der Kläger ist in diesem Sinne nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. [...]

2. Es ist mithin nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger bereits vor seiner Ausreise politische Verfolgung erlitten hätte noch, dass diese ihm unmittelbar bevorstand, er also bereits ins Visier potenzieller Verfolger geraten wäre. Zur Begründung einer bei Rückkehr drohenden Verfolgung kann sich der Kläger ins-besondere nicht auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG berufen. Hiernach können als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten, "Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 fallen"; § 3 Abs. 2 AsylG erfasst Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Falle des Klägers greift § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zum einen schon deshalb nicht ein, weil er den Wehrdienst nicht im Gesetzessinne "verweigert" hat und deswegen (vor-)verfolgt worden wäre, sondern sich einer möglichen Einziehung durch Flucht entzogen hat, es also an der erforderlichen expliziten Ablehnung fehlt. Zum anderen beruht § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG unionsrechtlich auf Art. 9 Abs. 1 lit. e, 12 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU (vgl. Bergmann/Dienelt, a.a.O., AsylG § 3a Rn. 6). Hierzu hat der EuGH im Urteil vom 26.02.2015 (Rs. C-472/13 <Shepherd>) hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs entschieden, dass dieser nur gegeben ist, wenn der Antragsteller mit hinreichender Plausibilität darlegt, dass von der militärischen Einheit, der er angehört, mit hoher Wahrscheinlichkeit als Kriegsverbrechen einzustufende Handlungen begangen worden seien oder begangen würden. Der Kläger jedoch war vor seiner Ausreise überhaupt noch keiner militärischen Einheit in Syrien zugeteilt und es ist völlig unklar, wann und wo und mit welchen Aufgaben er gegebenenfalls einmal eingesetzt worden wäre. Im Übrigen sprechen Quellen davon, die syrische Armee habe für Kampfeinsätze, die nach Berichten auch kriegsverbrecherisch den Einsatz von Fassbomben auf zivile Ziele und Chemiewaffen umfassten, vorrangig auf Elitetruppen, loyale Milizen und Unterstützung aus dem Ausland gesetzt. Wehrpflichtige Syrer seien hieran kaum beteiligt worden; diese würden vor allem für administrative und logistische Tätigkeiten verwendet (Danish Refugee Council, August 2017, S. 9, 67, 85). Damit aber fehlt es im Falle des Klägers in jeder Hinsicht am erforderlichen "real risk", Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung von Militäreinsätzen mit Kriegsverbrechen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ausgesetzt zu werden.

3. Zur Begründung einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgefahr kann sich der Kläger weiter nicht auf Wehrdienstflucht bzw. den Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG berufen. [...] Der 3. Senat des erkennenden Verwaltungsgerichtshofs hat im Urteil vom 23.10.2018 (- A 3 S 791/18 -, Juris Rn. 14 ff.) rechtsgrundsätzlich entschieden, dass nicht davon ausgegangen werden kann, ausnahmslos jeder Mann im wehrdienstpflichtigen Alter, der sich dem syrischen Wehrdienst entzogen hat, werde - bei hypothetischer Rückkehr in die Heimat - in diesem Sinne als "Oppositioneller" mit regimekritischer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung beachtlich wahrscheinlich verfolgt. In Übereinstimmung mit der bundesweit inzwischen ganz überwiegenden neueren obergerichtlichen Rechtsprechung (zuletzt OVG NRW, Urteil vom 12.12.2018 - 14 A 847/18.A -; Nds. OVG, Beschluss vom 22.01.2019 - 2 LB 811/18 -; OVG Schl.-Hol., Urteil vom 07.03.2019 - 2 LB 29/18 -; alle Juris) schließt sich der Senat dieser Bewertung an. Denn es gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte für die pauschale Annahme, eine Bestrafung wegen Wehrdienstflucht sei in Syrien nicht primär eine Sanktion wegen Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten, deren Erfüllung grundsätzlich auch totalitäre Staaten einfordern können (BVerwG, Urteile vom 24.04.2017 - 1 B 22.17 -, Juris Rn. 14, und vom 19.04.2018 - 1 C 29.17 -, Juris Rn. 8 ff.), sondern immer politische Verfolgung. [...]

Dem schließt sich der Senat an, weil es sich bei der mit der Flucht aus Syrien verbundenen Wehrdienstentziehung potentiell wehrpflichtiger Männer offenkundig um ein Massenphänomen handelt und es an belastbaren Erkenntnissen fehlt, die den Schluss zuließen, dass das Assad-Regime unterschiedslos alle Männer, die sich dem Dienst in der syrischen Armee durch Flucht entzogen haben, als Oppositionelle ansieht und deswegen - allein in Anknüpfung daran gleichsam als Gruppe - verfolgt. [...]

Dies illustriert schließlich der Umstand, dass unter den vor dem Bürgerkrieg Geflüchteten auch eine nicht bekannte Anzahl von regimetreuen Aktivisten ist, die teilweise offen pro Assad agieren und auftreten. [...]

Ob ein allein an eine Wehrdienstentziehung anknüpfender flüchtlingsrechtsrelevanter Politmalus bei echten Deserteuren in Frage kommt, d.h. bei Männern im wehrpflichtigen Alter, die bereits in einer bestimmten militärischen Einheit aktiv gedient haben und dann aus ihrem Kriegseinsatz heraus geflohen sind, kann offenbleiben. Eine solche Desertion als aktiver Militärangehöriger war seit Ausbruch des Bürgerkrieges allerdings regelmäßig nur mit Hilfe der Opposition möglich (Danish Refugee Council, August 2017, S. 33). Bei Rückkehr nach Syrien könnte es beachtlich wahrscheinlich sein, dass solche Deserteure als Gefahr wahrgenommen und auch nicht mehr in die Armee wiedereingegliedert werden. Sie nahmen deshalb auch regelmäßig ihre gesamte Familie mit auf die Flucht, weil sie befürchten mussten, dass die Armee aktiv nach ihnen suchen und auch ihre Familie unter Druck setzen wird bzw. im Sinne von Sippenhaft als Oppositionelle verfolgt. [...]

4. Wehrdienstflüchtigen Männern aus Syrien kann die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG damit nur dann zuerkannt werden, wenn bei ihnen zusätzliche individuell gefahrerhöhende Umstände feststellbar sind, die ihre Wahrnehmung als Regimefeind annehmen lässt. Hierfür genügt weder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Ethnie noch die Herkunft oder Abstammung aus einem aktuell oder ehemals von der Opposition beherrschten Gebiet. Vielmehr bedarf es insoweit einer sorgfältigen Prüfung gegebenenfalls gefahrerhöhender Umstände im jeweiligen Einzelfall. [...]

Dennoch ist derzeit davon auszugehen, dass die Tatsache, einer bestimmten Religion oder Ethnie anzugehören, auch bei der hier vorzunehmenden Beurteilung der Einreisesituation für sich genommen keine entscheidungserhebliche Relevanz hat. Entsprechende Berichte sind jedenfalls in den Erkenntnisquellen nicht ersichtlich. [...]

b. Auch die Herkunft aus einer "Rebellenhochburg" bzw. einem aktuell oder ehemals von der Opposition beherrschten Gebiet begründet für sich genommen kein "real risk" der Verfolgung gerade wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen spricht nichts Hinreichendes für die Annahme, dass allein eine solche Herkunft, erst recht nicht der letzte Wohnort, dazu führt, dass das Assad-Regime jedem Rückkehrer eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und ihn deshalb verfolgt. [...] Diese Einschätzung deckt sich mit der Beobachtung, dass zahlreiche ehemalige Oppositionsgebiete mittlerweile vom Assad-Regime zurückerobert wurden, ohne dass es dort zu flächendeckenden Verfolgungsmaßnahmen gekommen ist. Das Regime bietet vielmehr regelmäßig den Abschluss eines Versöhnungsabkommens an. Versöhnungsabkommen sind Vereinbarungen, die ein Gebiet, das zuvor unter der Kontrolle einer oppositionellen Gruppierung stand, offiziell wieder unter die Kontrolle des Regimes bringen sollen. Derartige Abkommen sehen häufig eine "Evakuierung", also eine zwangsweise Umsiedlung oppositioneller Kämpfer sowie den Einzug der Männer zur syrischen Armee vor (BFA, August 2017, S. 35; vgl. auch SFH v. 23.03.2017, S. 7). Auch letzteres illustriert, dass das Regime allein anknüpfend an die Herkunft keine Regimegegnerschaft unterstellt. Versöhnungsabkommen schließen eine individuelle Verfolgung allerdings nicht aus. [...] Solche individuellen Umstände müssen aber im Rahmen einer konkreten Prüfung des Einzelfalles festgestellt werden und können nicht sämtlichen Syrern mit Herkunft aus (ehemals) oppositionellen Gebieten unterstellt werden. Denn für jedermann und damit auch das Assad-Regime ist offensichtlich, dass es sich bei den vielen tausend betroffenen Personen um diejenigen handelt, die das Land in Anbetracht der Brutalität der Kriegsparteien aus begründeter Furcht um Leib und Leben verlassen und sich also gerade gegen ein aktives Tätigwerden als Oppositionelle entschieden haben. [...]

5. Eine Flüchtlingsanerkennung kommt auch nicht wegen Ereignissen und einer damit einhergehenden Furcht vor Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG in Betracht, die als Nachfluchttatbestände im Sinne von § 28 Abs. 1a AsylG durch die Ausreise eingetreten sind oder nachdem der Kläger sein Herkunftsland verlassen hat. Wie ausgeführt, kann internationaler Flüchtlingsschutz auch wehrdienstflüchtigen syrischen Männer nur zuerkannt werden, wenn individuell gefahrerhöhende Umstände vorliegen, die zu einem "real risk" der Verfolgung gerade wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe führen, was immer einer besonderen Würdigung des Einzelfalles bedarf. [...]

Die Umstände der illegalen Ausreise, Stellung eines Asylantrags in Verbindung mit einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland (sog. Trias) sind für sich genommen nicht dergestalt individuell gefahrerhöhend, dass ein "real risk" der Verfolgung gerade wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe angenommen werden könnte. [...] Dafür, dass das Assad-Regime insoweit gerade mit einem längeren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland eine oppositionelle Gesinnung verknüpft, gibt es ungeachtet der zwischenzeitlich aufgenommen strafrechtlichen Ermittlungen gegen einzelne Funktionäre wegen des Verdachts der Beteiligung an Kriegsverbrechen bislang keine hinreichenden Anhaltspunkte. [...]

Dass Rückkehrer nach Syrien derzeit in einer gewissen, wenn auch nicht quantifizierbaren Anzahl von Fällen misshandelt und inhaftiert werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht vom 13.11.2018, S. 21 ff.; UNHCR, April 2017, S. 20 ff.; SFH, 21.03.2017, S. 10 f.), führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn bei jedem Kontakt mit syrischen Sicherheitskräften drohen willkürliche Gewalt und Inhaftierung. Jeder Rückkehrer ist daher grundsätzlich in einem gewissen Maße gefährdet. Dies führt dazu, dass jedenfalls für wehrdienstflüchtige Syrer, wie ausgeführt, derzeit regelmäßig ein Anspruch auf internationalen Subsidiärschutz besteht. Diese ernstliche Gefährdung knüpft aber gerade nicht an Verfolgungsgründe im Sinne von § 3b AsylG an, weshalb sie für sich genommen nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. [...]