OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 07.05.2019 - 3 B 102/19 - asyl.net: M27284
https://www.asyl.net/rsdb/M27284
Leitsatz:

Duldungsanspruch für werdenden Vater:

"1. Auch die Vaterschaft eines im Bundesgebiet lebenden Ausländers für ein noch ungeborenes Kind einer deutschen Staatsangehörigen kann unter bestimmten Voraussetzungen einen Umstand darstellen, der unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen entfaltet.

2. Auf solche aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen kann sich der Ausländer insbesondere berufen, wenn die Mutter und das ungeborene Kind auf seine Hilfe aktuell angewiesen sind. Zu dieser Fallgruppe zählen sog. Risikoschwangerschaften sowie Fälle, in denen die Mutter aus sonstigen Gründen aktuell dringend auf die Unterstützung des Vaters des ungeborenen Kindes angewiesen ist.

3. Nicht mit Art. 6 GG vereinbar ist eine Abschiebung eines ausländischen Vaters eines ungeborenen Kindes darüber hinaus in den Fällen, in denen die werdende Mutter bereits dem Beschäftigungsverbot des § 3 Abs. 1 Satz 1 MuSchG unterliegt.

4. Darüber hinaus ist eine Abschiebung eines ausländischen werdenden Vaters auch dann mit Art. 6 GG unvereinbar, wenn dieser mit der Mutter des Ungeborenen in Verhältnissen lebt, welche eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung hinreichend sicher erwarten lassen und ihm eine (vorübergehende) Ausreise zur Durchführung eines Sichtvermerkverfahrens nicht mehr zumutbar ist, weil eine rechtzeitige Rückkehr bis zum Beginn des Zeitraums des Beschäftigungsverbots des § 3 Abs. 1 Satz 1 MuSchG bei Durchführung des regulären Sichtvermerkverfahrens im Heimatland unwahrscheinlich ist und zudem aufenthaltsrechtlich nicht sichergestellt ist, dass er bis dahin in das Bundesgebiet zurückkehren kann."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Vaterschaft, eheliches ungeborenes Kind, eheliches Kind, ungeborenes Kind, familiäre Beistandsgemeinschaft, Ausweisungsinteresse, Täuschung über Identität, öffentliches Interesse,
Normen: GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 5 Abs. 2, AufenthG § 60a,
Auszüge:

[...]

Dem Antragsteller steht derzeit jedenfalls ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu, wonach die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen ist, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Zwar dürfte das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss zu Recht festgestellt haben, dass die Eheschließung mit der deutschen Staatsangehörigen allein noch kein rechtliches Abschiebungshindernis wegen aufenthaltsrechtlicher Vorwirkung des Schutzgebotes aus Art. 6 GG begründet. In Zusammenschau mit der im Beschwerdeverfahren belegten Schwangerschaft der Ehefrau des Antragstellers und seiner bevorstehenden Vaterschaft hat der Antragsteller im Beschwerdeverfahren eine solche aufenthaltsrechtliche Vorwirkung für den Schutz der Familie aus Art. 6 GG jedoch glaubhaft gemacht. Zwar liegen keine Anhaltspunkte für eine Risikoschwangerschaft oder dafür vor, dass die Ehefrau des Antragstellers aus anderen Gründen hilfsbedürftig und aktuell auf seine Anwesenheit angewiesen ist. Gleichwohl hat die Beschwerde Erfolg, weil seitens des Antragsgegners aufenthaltsrechtlich nicht sichergestellt ist, dass der Antragsteller rechtzeitig zu Beginn des Mutterschutzes seiner Ehefrau in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren kann.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet Art. 6 Abs. 1 GG die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten und kommt es auch im Falle einer Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienmitgliedern nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27. August 2010 - 2 BvR 130/10 - juris Rn. 39 ff. m. w. N.). Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird, der Vater damit - allein oder gemeinsam mit der sorgeberechtigten Mutter - wesentliche elterliche Betreuungsleistungen erbringen kann, die gegebenenfalls als Beistandsgemeinschaft aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG entfalten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 7 m.w.N.).

Nach der Rechtsprechung des Senats steht jedoch nicht nur eine bereits bestehende Vaterschaft unter dem Schutz von Art. 6 GG. Auch die Vaterschaft eines im Bundesgebiet lebenden Ausländers für ein noch ungeborenes Kind einer deutschen Staatsangehörigen kann unter bestimmten Voraussetzungen einen Umstand darstellen, der unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen entfaltet (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 2. Oktober 2009 - 3 B 482/09 -, juris Rn. 4; Beschl. v. 15. September 2006 - 3 BS 189/06, juris Rn. 2; so auch: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27. Februar 2019 - 11 S 7.19 -, juris Rn. 7; BayVGH, Beschl. v. 11. Oktober 2017 - 19 CE 17.2007 -, juris Rn. 9).

Geht es um ein nichteheliches Kind, ist Voraussetzung für solche Vorwirkungen, dass der Ausländer seine Vaterschaft vorgeburtlich wirksam anerkannt hat. Sind der Ausländer und die deutsche Staatsangehörige - wie hier - verheiratet, ist dies angesichts der Vaterschaftsvermutung nach § 1592 Nr. 1 BGB nicht erforderlich. Danach ist Vater des Kindes der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist.

Auf solche aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen kann sich der Ausländer insbesondere berufen, wenn die Mutter und das ungeborene Kind auf seine Hilfe aktuell angewiesen sind. Zu dieser Fallgruppe zählen sog. Risikoschwangerschaften sowie Fälle, in denen die Mutter aus sonstigen Gründen aktuell dringend auf die Unterstützung des Vaters des ungeborenen Kindes angewiesen ist (SächsOVG, Beschl. v. 2. Oktober 2009 a.a.O., Rn. 6; Beschl. v. 15. September 2006 a.a.O., Rn. 4). Hierfür bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte. Die Kopie des vorgelegten Mutterpasses spricht gegen eine Risikoschwangerschaft. Dass die Ehefrau des Antragstellers auf die Unterstützung des Antragsteller dringend angewiesen ist, ist weder vorgetragen worden, noch ersichtlich.

Nicht mit Art. 6 GG vereinbar ist eine Abschiebung eines ausländischen Vaters eines ungeborenen Kindes darüber hinaus in den Fällen, in denen die werdende Mutter bereits dem Beschäftigungsverbot des § 3 Abs. 1 Satz 1 MuSchG unterliegt. Nach der in § 3 Abs. 1 Satz 1 MuSchG zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertung ist - unabhängig von einer konkret glaubhaft gemachten Hilfsbedürftigkeit - regelmäßig davon auszugehen, dass die werdende Mutter dann auf Hilfe angewiesen ist, wenn sie diesem Beschäftigungsverbot unterliegt. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 MuSchG darf der Arbeitgeber eine schwangere Frau in den letzten sechs Wochen vor der Entbindung nicht beschäftigen (Schutzfrist vor der Entbindung), soweit sie sich nicht zur Arbeitsleistung ausdrücklich bereit erklärt. Dieses Beschäftigungsverbot, das grundsätzlich in den letzten sechs Wochen vor der Entbindung und bis regelmäßig zum Ablauf von acht Wochen nach der Entbindung (§ 3 Abs. 2 Satz 1 MuSchG) gilt, lässt erkennen, dass die Ehefrau des Antragstellers in diesem Zeitraum grundsätzlich keine Arbeit verrichten darf und daher auch im häuslichen Bereich auf Unterstützung angewiesen ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg a. a. O. Rn. 8). Voraussetzung für den Eintritt der Schutzwirkungen des Art. 6 GG in einem solchen Fall ist, dass der Ausländer mit der schwangeren Frau in Verhältnissen lebt, welche eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung sicher erwarten lassen.

Diese Voraussetzungen liegen schon deswegen nicht vor, weil die Schutzfrist vor der Entbindung für die Ehefrau des Antragstellers aktuell noch nicht begonnen hat. Diese beginnt ausgehend von dem errechneten Geburtstermin (... 2019) erst am ... 2019.

Darüber hinaus ist eine Abschiebung eines ausländischen werdenden Vaters auch dann mit Art. 6 GG unvereinbar, wenn dieser mit der Mutter des Ungeborenen in Verhältnissen lebt, welche eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung hinreichend sicher erwarten lassen und ihm eine (vorübergehende) Ausreise zur Durchführung eines Sichtvermerkverfahrens nicht mehr zumutbar ist, weil eine rechtzeitige Rückkehr bis zum Beginn des Zeitraums des Beschäftigungsverbots des § 3 Abs. 1 Satz 1 MuSchG bei Durchführung des regulären Sichtvermerkverfahrens im Heimatland unwahrscheinlich ist und zudem aufenthaltsrechtlich nicht sichergestellt ist, dass er bis dahin in das Bundesgebiet zurückkehren kann (OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O. Rn. 7). In Anbetracht der aufgezeigten gesetzgeberischen Wertung hält der Senat nicht mehr am Zeitpunkt der Geburt des Kindes als maßgeblichen zeitlichen Bezugspunkt fest (so noch SächsOVG, Beschl. v. 2. Oktober 2009 a.a.O. Rn. 5), sondern sieht in Fortentwicklung seiner Rechtsprechung vielmehr bereits den Beginn des Zeitraums des Beschäftigungsverbots als maßgeblichen Bezugspunkt an. Denn Bezugspunkt ist hier nicht der Schutz des Verhältnisses zwischen dem neugeborenen Kind und seinem Vater, sondern die besondere, durch die Schwangerschaft ausgelöste Schutzbedürftigkeit der werdenden Mutter. [...]