VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 29.03.2019 - 38 K 27.18 V - Asylmagazin 6-7/2019, S. 260 ff., gleichlautend: Az. 38 K 26.18 V, VG 38 K 41.19 V - asyl.net: M27329
https://www.asyl.net/rsdb/M27329
Leitsatz:

Kein Elternnachzug zu volljährig gewordenen subsidiär Schutzberechtigten:

"1. Mit dem Eintritt der Volljährigkeit eines subsidiär schutzberechtigten Kindes erlischt die Möglichkeit der Eltern, auf der Grundlage der im August 2018 eingeführten Regelung des § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG zum Kind nachzuziehen.

2. Das Unionsrecht verlangt keine andere Auslegung von § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Die Richtlinie 2003/86/EG vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung findet auf subsidiär Schutzberechtigte keine Anwendung [unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 12.04.2018 - C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - Asylmagazin 5/2018, S. 176 ff. - asyl.net: M26143].

3. Sonstiges höherrangiges Recht gebietet es ebenfalls nicht, für den Zeitpunkt der Minderjährigkeit darauf abzustellen, wann das Kind den Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes gestellt hat, wann ihm der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist oder wann die Eltern den Nachzugsantrag gestellt haben."

(Amtliche Leitsätze; diese Entscheidung ist rechtskräftig; weitestgehend gleichlautend: VG Berlin, Urteil vom 3.4.2019 - 38 K 26.18 V (gegen diese Entscheidung wurde Berufung eingelegt) und VG Berlin, Urteil vom 28.06.2019 - 38 K 41.19 V)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Familienzusammenführung, Familiennachzug, Elternnachzug, minderjährig, Volljährigkeit, Gleichheitsgrundsatz, Flüchtlingseigenschaft, EuGH, Rechtssicherheit, Kontingentverfahren, A und S, A. und S., Kind,
Normen: AufenthG § 6 Abs. 3, AufenthG § 36a Abs. 1 S. 2, AufenthG § 29, AufenthG § 5, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3, RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 2, RL 2003/86/EG Art. 9, RL 2003/86/EG Art. 3 Abs. 2 Bst. c, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 5, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 2, UN-KRK Art. 3 Abs. 1, UN-KRK Art. 9 Abs. 1, UN-KRK Art. 10 Abs. 1, EMRK Art. 8, GG Art. 6 Abs. 1, GR-Charta Art. 7, GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

15 Die Klage ist allerdings unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Botschaft der Beklagten in Beirut vom . November 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, weil er keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums hat (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO).

16 I. Ein Anspruch des Klägers folgt nicht aus § 6 Abs. 3 in Verbindung mit § 36a Abs. 1 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten (Familiennachzugsneuregelungsgesetz) vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1147) – AufenthG –. Nach § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist für einen längerfristigen Aufenthalt ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Gemäß Satz 2 der Bestimmung richtet sich die Erteilung nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften. Nach § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG kann den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 zweite Alternative AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält.

17 Diese Voraussetzungen liegen nicht sämtlich vor, weil der als subsidiär Schutzberechtigte anerkannte Sohn des Klägers ... seit dem . Januar 2019 kein minderjähriger Ausländer im Sinne der Vorschrift (mehr) ist. Nach Auffassung der Kammer ist für die Frage, ob der Ausländer, zu dem der Familiennachzug begehrt wird, im Sinne von § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG minderjährig ist oder nicht, – wie regelmäßig bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels – auf die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz abzustellen; eine Antragstellung vor Erreichen der Volljährigkeit reicht nicht aus, um die Nachzugsmöglichkeit nach § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG zu erhalten (so auch: Zeitler, HTK-AuslR, § 36a AufenthG, Stand: August 2018, Rn. 3; a.A.: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: November 2018, § 36a AufenthG, Rn. 39; BeckOK AuslR/Kluth, Stand: November 2018, § 36a AufenthG, Rn. 7).

18 1. Dies folgt zwar nicht aus Wortlaut und Systematik des § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG, die insoweit unergiebig sind. [...]

19 2. Die von der Kammer vertretene Auffassung folgt aber aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift.

20 Der in § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG geregelte Elternnachzug zum minderjährigen Kind dient dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigten und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern (vgl. die Gesetzesbegründung zum Familiennachzugsneuregelungsgesetz, BT-Drs. 19/2438, S. 23), nicht jedoch eigenständigen Interessen  er Eltern am Zusammenleben mit ihrem Kind (vgl. Hailbronner, a.a.O., Rn. 36 und 90; zum Elternnachzug allgemein BVerwG, Urteile vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 9.12 - juris Rn. 21, und vom 13. Juni 2013 - BVerwG 10 C 24.12 - juris Rn. 9; für die Anwendbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch auf den Zuzug zu subsidiär Schutzberechtigten vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2016 - OVG 3 B 18.15 - juris Rn. 19). Dies zeigt sich daran, dass der Gesetzgeber den nachgezogenen Eltern mit Erreichen der Volljährigkeit ihres Kindes (sowohl beim Nachzug zum subsidiär Schutzberechtigten als auch beim Nachzug zum Flüchtling) grundsätzlich kein eigenständiges Aufenthaltsrecht einräumt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2016, a.a.O., Rn. 19; Hailbronner, a.a.O., Rn. 41). Der Zweck des Elternnachzugs erfordert aus Sicht des Gesetzgebers also gerade keine Sicherung einer mit der Visumsbeantragung eröffneten aufenthaltsrechtlichen Perspektive für die Eltern. [...]

21 Ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung für die Beurteilung der Minderjährigkeit könnte außerdem aufgrund der Besonderheiten des in § 36a AufenthG geregelten Kontingentverfahrens (Begrenzung auf 1.000 nationale Visa pro Monat, § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) dazu führen, dass den Eltern eines inzwischen volljährigen Kindes – das weiterhin als minderjährig im Sinne der Vorschrift anzusehen wäre – aufgrund der Kontingentierung der Vorrang vor den Eltern eines (tatsächlich) minderjährigen Kindes eingeräumt würde. Dies wäre mit einer vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls nicht vereinbar.

22 3. Diese Auffassung führt auch nicht dazu, dass die Behörden ein auf § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG gestütztes Nachzugsbegehren durch Verfahrensverzögerung vereiteln könnten. Denn die Betroffenen haben die Möglichkeit zur Erhebung einer Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO. Darüber hinaus steht ihnen die Möglichkeit offen, ihr Nachzugsbegehren mithilfe einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO rechtzeitig vor Erreichen der Volljährigkeit des Kindes effektiv durchzusetzen. [...]

23 4. Die Kammer sieht sich in ihrer Auslegung bestätigt von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 36 AufenthG in den seit dem 26. November 2011 bis zum 31. Juli 2018 geltenden Fassungen (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. April 2013. a.a.O. und vom 13. Juni 2013, a.a.O.). [...]

24 5. Die Auffassung der Kammer zur Auslegung des § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG steht auch im Einklang mit Unionsrecht.

25 a. Insbesondere ist eine gegenteilige Auslegung nicht wegen der Richtlinie 2003/86/EG vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung – im Folgenden: Familienzusammenführungsrichtlinie – geboten. Nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Familienzusammenführungsrichtlinie gestatten die Mitgliedstaaten einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling ungeachtet der in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung. Die Vorschrift stellt schon ihrem Wortlaut nach auf minderjährige Flüchtlinge ab, nicht hingegen auf subsidiär Schutzberechtigte (vgl. auch Thym, Obergrenze für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, NVwZ 2018, 1340, 1343). [...] Bei dieser Sachlage kommt es auf die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Auslegung der Familienzusammenführungsrichtlinie bzw. zum Elternnachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nicht an (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 12. April 2018, Rs. C-550/16, juris; VG Berlin, Urteile vom 1. Februar 2019 - VG 15 K 936.17 V - juris [Sprungrevision anhängig zu BVerwG 1 C 9.19], vom 30. Januar 2019 - VG 20 K 538.17 V - juris und vom 26. Februar 2019 - VG 13 K 341.17 V -; siehe auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 19. Dezember 2018 - OVG 3 S 98.18 - juris Rn. 12, vom 4. September 2018 - 3 S 47.18 / 3 M 52.18 - juris Rn. 6 und vom 27. April 2018 - OVG 3 M 23.18 - juris Rn. 5), weil sie nach Vorstehendem nicht auf subsidiär Schutzberechtigte zu übertragen ist.

26 b. Auch aus Art. 20 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie) folgt keine andere Bewertung. Danach haben die Mitgliedstaaten zwar sowohl für Flüchtlinge als auch für subsidiär Schutzberechtigte die spezielle Situation von schutzbedürftigen Minderjährigen zu beachten und das Wohl des Kindes vorrangig zu beachten. Ein Recht auf Familienzusammenführung lässt sich der Vorschrift jedoch nicht entnehmen (vgl. Hailbronner, a.a.O., Rn. 14). Ein solches Recht ergibt sich auch nicht aus Art. 23 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie, nach der die Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung des Familienverbandes Sorge zu tragen haben. [...]

27 6. Die von der Kammer vertretene Auffassung steht auch im Einklang mit sonstigem höherrangigen Recht.

28 a. Insbesondere ergibt sich aus dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (BGBl 1992 II, S. 121) – UN-Kinderrechtskonvention (KRK) – keine andere Auslegung des § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG. [...]

29 b. Aus Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Schutz des Privat- und Familienlebens) ergibt sich kein Anspruch auf Einreise und Aufenthalt (vgl. EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006, Rs. C-540/03, juris Rn. 53; Zeitler, HTK-AuslR, a.a.O., Rn. 5.1; BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - BVerwG 10 C 16.12 - juris Rn. 22); diese Vorschrift verpflichtet zu einer Abwägung nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - BVerwG 10 C 16.12 - juris Rn. 24; EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2014, Jeunesse, Nr. 12738/10, Rn. 104 ff.). Gleiches gilt für Art. 7 der Grundrechtecharta (vgl. EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006, a.a.O., Rn. 58 ff.) und Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - juris Rn. 96).

30 c. Der vorgenommenen Auslegung steht auch der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht entgegen. Die Gründe für die Zuerkennung eines unterschiedlichen Schutzstatus (einerseits Flüchtlingseigenschaft, andererseits subsidiärer Schutz) rechtfertigen bei generalisierender und typisierender Betrachtung auch unterschiedliche Regelungen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Volljährigkeit beim Familiennachzug. Subsidiär Schutzberechtigten wird im Hinblick auf eine Sondersituation im Heimatland – ganz überwiegend Kriegsverhältnisse – zunächst in der Erwartung vorübergehender Schutz gewährt, dass eine Rückkehr in das Heimatland und zu den dort verbliebenen Familienmitgliedern erfolgen wird, regelmäßig aber nicht eine dauerhafte Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelandes. Diese Erwartung besteht bei anerkannten Flüchtlingen von vornherein nicht, weil diese wegen individueller Verfolgung ein Bleiberecht erhalten. [...]

32 d. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit ist ebenfalls zu verneinen. [...]

34 II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums auf der Grundlage von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Hiernach kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG) müssen grundsätzlich ebenfalls vorliegen. Die vorgenannten Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. [...]