VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 24.07.2019 - Au 9 K 19.50235 - asyl.net: M27561
https://www.asyl.net/rsdb/M27561
Leitsatz:

Pflicht zur Prüfung des Selbsteintritts, wenn nur ein Elternteil in einem anderem EU-Mitgliedstaat anerkannt wurde:

1. Der Asylantrag eines Kindes, das in Deutschland geboren wurde, nachdem den Eltern in einem anderen EU-Staat internationaler Schutz gewährt wurde, ist in teleologischer Erweiterung des Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO in entsprechender Anwendung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig anzusehen (unter Bezug auf VGH Bayern, Beschluss vom 22.11.2018 - 21 ZB 18.32867 - juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2018 - A 4 S 544/18 - Asylmagazin 6/2018, S. 211 f. - asyl.net: M26115).

2. Dies gilt jedoch nicht, wenn einem sorgeberechtigten Elternteil des Kindes kein internationaler Schutz in einem anderen EU-Staat gewährt, sondern dessen Asylgesuch in Deutschland abgelehnt wurde, die Wiederaufnahme des Verfahrens jedoch geprüft wird. Dann muss das BAMF die Möglichkeit des Selbsteintritts nach Art. 17 Dublin-VO unter familiären Gesichtspunkten prüfen. Dabei besteht ein weiter Ermessensspielraum.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unzulässigkeit, in Deutschland geborenes Kind, Dublinverfahren, internationaler Schutz in EU-Staat, Familieneinheit, Selbsteintritt, Ermessensausfall, Asylantrag, Italien,
Normen: VO 604/2013 Art. 17, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, VO 604/2013 Art. 20 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

18 1) Die von der Beklagten getroffene Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig, weil bei der Prüfung der Zulässigkeit des Asylantrags die Situation des sorgeberechtigten Vaters der Klägerin nicht berücksichtigt wurde. [...]

19 a) Zwar ist zutreffend, dass der in Deutschland gestellte Asylantrag der Mutter der Klägerin nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist, weil ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union - hier Italien - bereits internationalen Schutz im Sinn von § 1 Abs. 2 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Zwischen den Beteiligten ist unstrittig, dass der Mutter der Klägerin in Italien subsidiärer Schutz gewährt wurde.

20 b) Weil das Asylgesetz keine Regelung für den Fall enthält, wie der in Deutschland gestellte Asylantrag eines Kindes zu behandeln ist, das geboren wurde, nachdem den Eltern zuvor in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationaler Schutz gewährt wurde, ist nach der Rechtsprechung diese planwidrige Regelungslücke im Wege der teleologischen Erweiterung zu schließen und auch der Asylantrag des Kindes in entsprechender Anwendung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig anzusehen (hierzu BayVGH, B.v. 22.11.2018 - 21 ZB 18.32867 - juris Rn. 19 ff.; im Ergebnis ebenso OVG Lüneburg, B.v. 26.2.2019 - 10 LA 218/18 - juris Rn. 5 ff.; VGH BW, B.v. 14.3.2018 - A 4 S 544/18 - juris Rn. 9 ff.). Begründet wird diese erweiternde Auslegung mit dem das Gemeinsame Europäische Asylsystem beherrschenden Grundsatz, wonach der Asylantrag eines Drittstaatsangehörigen (nur) von einem einzigen Mitgliedstaat zu prüfen ist (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO), und dem die Dublin III-VO beherrschenden Grundsatz der Familieneinheit. Diesem Grundsatz wird in Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO Rechnung getragen, wonach der Familieneinheit folgend Kinder, die nach der Ankunft der Eltern im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, untrennbar mit deren Situation verbunden sind und ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese Kinder nicht eingeleitet werden muss (OVG Schleswig-Holstein, B.v. 27.3.2019 - 4 LA 68/19 - Rn. 6-7 - juris).

21 c) Diese Rechtsprechung ist allerdings auf den vorliegenden Fall nicht uneingeschränkt übertragbar. Denn im Unterschied zu der oben dargestellten Sachlage hat nur die Mutter der Klägerin in Italien einen Asylantrag gestellt, mit der Folge dass nur im Hinblick auf diese eine Unzulässigkeitsentscheidung des Asylantrags der Klägerin auf der Grundlage der Dublin III-VO im Rahmen einer teleologischen Erweiterung von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO in Betracht kommt. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach dieser Vorschrift käme nicht in Betracht, sofern bezüglich der Zuständigkeitsregelungen auf den sorgeberechtigten Vater der Klägerin abgestellt würde. Dieser hat nach seiner Einreise im Jahr 2012 in Deutschland einen Asylantrag gestellt, über den die Beklagte im nationalen Verfahren (negativ) entschieden hat. Derzeit wird von der Beklagten die Wiederaufnahme des Verfahrens geprüft. [...]

23 d) Ob auch in diesem Fall die Unzulässigkeitsentscheidung auf die teleologischen Erweiterung von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO gestützt werden kann, kann vorliegend offenbleiben, da es die Beklagte im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit des in Deutschland gestellten Asylantrags der Klägerin unterlassen hat, die Möglichkeiten des Selbsteintritt nach Art. 17 Dublin III-VO zu prüfen.

24 aa [...] Darüber hinaus ist in Art. 17 Dublin III-VO bestimmt, dass abweichend von den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen von Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO jeder Mitgliedsstaat beschließen kann, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

25 bb) Die in der Dublin III-VO getroffenen Regelungen sind im Lichte der Grund- und Menschenrechte auszulegen und anzuwenden. Mit dem Instrumentarium des Selbsteintritts unter familiären Gesichtspunkten kann und gegebenenfalls muss den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art 6 Abs. 1 und 2 GG, den unionsrechtlichen Gewährleistungen nach Art. 7 und Art. 24 Abs. 3 GRCh sowie den völkerrechtlichen Vorgaben nach Art. 8 EMRK entsprochen werden. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass auch im Rahmen des Dublin-Regimes das in Art. 24 Abs. 2 GRCh verankerte Kindeswohl zu berücksichtigen ist (vgl. EuGH, U.v. 6.6.2013 - C-648/11, M. A. u.a. - InfAuslR 2013, 299 Rn. 56 ff.). Dieses vermittelt den Mitgliedern der aus Vater, Mutter und den minderjährigen Kindern bestehenden Kernfamilie, vor allem wenn zu dieser noch sehr kleine Kinder gehören, das subjektive Recht, auch während eines laufenden Asylverfahrens ein schon zuvor gelebtes Familienleben fortsetzen zu können.

26 cc) Diese Gesichtspunkte hat die Beklagte bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt, sondern ausschließlich auf die Situation der Mutter der Klägerin abgestellt, ohne die rechtliche Stellung des sorgeberechtigten Vaters in den Blick zu nehmen. [...]

28 Da die Beklagte das ihr nach Art. 17 Dublin III-VO zustehende Ermessen nicht erkannt und nicht ausgeübt hat, ist die Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylverfahrens unter Ziffer 1 des Bescheides rechtswidrig.

29 2. Eine Verpflichtung der Beklagten, das Asylverfahren der Klägerin in Deutschland zu prüfen, ist angesichts des weiten Ermessensspielraums, der der Beklagten im Rahmen von Art. 17 Dublin III-VO einzuräumen ist, nicht auszusprechen. Insbesondere ist auch zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Möglichkeiten bestehen, dem Kindeswohl Rechnung zu tragen und die Wahrung der Familieneinheit sicherzustellen. Das Bundesamt wird daher unter Berücksichtigung der familiären Situation über die Zulässigkeit des Asylantrags der Klägerin erneut zu entscheiden haben. Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung auf Null in dem Sinn, dass ausschließlich die Familieneinheit in der Bundesrepublik Deutschland gewahrt werden kann, bestehen nicht. [...]