VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 12.06.2019 - 2 A 272/17 - asyl.net: M27572
https://www.asyl.net/rsdb/M27572
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Iraker wegen erst im Klageverfahren vorgetragener Homosexualität:

Homosexuelle Personen bilden im Irak eine soziale Gruppe, der staatliche Verfolgung droht.

(Leitsatz der Redaktion; unter Bezug auf VG Berlin, Urteil vom 5.6.2018 - 25 K 327.17 A - juris und VG Göttingen, Urteil vom 8.11.2019 - 2 A 292/17 - juris)

Schlagwörter: Irak, homosexuell, Flüchtlingsanerkennung, soziale Gruppe, Strafbarkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG §3e,
Auszüge:

[...]

Gemessen hieran ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Es ist nach Auffassung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei Rückkehr in den Irak einer asylrechtlich relevanten Verfolgung durch (insbesondere schiitische) Milizen aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen ausgesetzt sein würde (vgl. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4, 3c Nr. 3 AsylG), ohne dass ihm wirksamer staatlicher Schutz (vgl. § 3d AsylG) oder eine inländische Fluchtalternative (vgl. § 3e AsylG) zur Verfügung stünde. [...]

Homosexuelle bilden im Irak eine soziale Gruppe, die eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Hierzu hat das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 05.06.2018 (25 K 327.17 A, juris Rn. 18 f.) ausgeführt:

"Homosexuelle im Irak sind eine soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Eine Gruppe gilt danach insbesondere dann als eine soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet.

Dies ist bezogen auf Homosexuelle im Irak der Fall (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 - AN 10 K 17.31735 -, juris Rn. 21 m w N ). Sie haben eine gemeinsame unveränderliche Eigenschaft und teilen eine eindeutige Identität. Man kann von ihnen auch nicht abverlangen, ihre Neigung zu unterdrücken bzw. geheim zu hatten. Von einem Homosexuellen ist insoweit auch nicht mehr Zurückhaltung als von einem Heterosexuellen abzuverlangen (vgl. EuGH, Urteil vom 07. November 2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris). Die irakische Gesellschaft nimmt Homosexuelle als andersartig war. Sie diskriminiert sie und grenzt sie sozial aus (Auswärtiges Amt, Lagebericht, 12. Februar 2018, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13. März 2018, S. 2)."

Diese zutreffenden Ausführungen macht sich das Gericht für den vorliegenden Fall vollumfänglich zu eigen.

Es ist ferner beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger als Homosexueller im Irak von (insbesondere schiitischen) Milizen verfolgt werden würde. Innerstaatlichen Schutz (vgl. § 3d AsylG) oder inländische Fluchtalternativen (vgl. § 3e AsylG) hat der Kläger nicht. Das Verwaltungsgericht Berlin hat mit Blick auf die Lage der sozialen Gruppe der Homosexuellen im Irak zur Verfolgungshandlung, den möglichen Akteuren der Verfolgung und den Möglichkeiten innerstaatlichen Schutzes und inländischen Fluchtalternativen in seinem Urteil vom 05.06.2018 (- 25 K 327.17 A, juris Rn. 21 ff.) ausgeführt:

"Im Irak sind Homosexuelle betroffen von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die gem. § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsyIG in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (vgl. insoweit für auch westlich geprägte Afghaninnen: OVG Lüneburg, Urteil vom 21. September 2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 31; wohl von einem Nachfluchtgrund für Homosexuelle im Irak ausgehend: VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 - AN 10 K 17.31735 -, juris Rn. 26). Insbesondere droht ihnen physische oder psychische Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG). Dies ergibt sich aus den gerichtlichen Erkenntnissen: [...]

Entsprechend der jüngsten Rechtsprechung der Kammer (VG Göttingen, Urt. v. 08.11.2018 - 2 A 292/17, juris) macht sich das Gericht auch diese Ausführungen im Grundsatz vollumfänglich zu eigen. Das Gericht schließt sich den in dem soeben zitierten Urteil der Kammer geäußerten Zweifeln daran an, dass aus Art. 394 Irakisches Strafgesetzbuch formalrechtlich eine Strafbarkeit jedweden außerehelichen Geschlechtsverkehrs - und damit auch jedweden homosexuellen Geschlechtsverkehrs - folgt, weil sich die Vorschrift ihrem Wortlaut nach auf Geschlechtsverkehr mit Menschen unter 18 Jahren zu beziehen scheint. Aufgrund der Zweifel stellt das Gericht nicht auf die möglicherweise gegebene Gefahr einer Freiheitsstrafe für außerehelichen (homosexuellen) Geschlechtsverkehr ab (diese würde bei Vorliegen einer entsprechenden Behördenpraxis schon per se eine Verfolgung durch den Staat Irak begründen, vgl. EuGH, Urt. v. 07.11.2013 - C-199/12 u.a., juris Rn. 56 ff.). Vielmehr wird darauf abgestellt, dass die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere schiitische Milizen, nach der zitierten Erkenntnislage gegeben ist. [...]