OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 04.09.2019 - 13 LA 146/19 - asyl.net: M27656
https://www.asyl.net/rsdb/M27656
Leitsatz:

Zeitlich zurückliegende Täuschungen als Versagungsgrund beim Bleiberecht bei nachhaltiger Integration zu berücksichtigen:

1. Zeitlich zurückliegende Täuschungen über Identität und Staatsangehörigkeit stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration nach § 25b AufenthG entgegen, wenn sie aufgrund ihrer Art oder Dauer so bedeutsam sind, dass sie das Gewicht der relevanten Integrationsleistungen beseitigen (sich anschließend an: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.07.2015 - 18 B 486/14 - asyl.net: M23135).

2. Hinsichtlich des Vorliegens eines Ausweisungsinteresses findet neben dem zwingenden Versagungsgrund des § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG auch die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG Anwendung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Täuschung über Identität, Integration, Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration, Versagungsgrund, Regelerteilungsvoraussetzung, Ausweisungsinteresse, Bleiberecht,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 25b Abs. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

4 a) [...] Zu Recht hat das Verwaltungsgericht unter Heranziehung der obergerichtlichen Rechtsprechung im Hinblick auf die langjährige Identitätstäuschung des Klägers die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 AufenthG verneint.

5 Wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, fällt die von 2007 bis 2014 andauernde Identitätstäuschung nicht unter den zwingenden Ausschlusstatbestand des § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Danach ist die Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG u.a. zu versagen, wenn der Ausländer die Aufenthaltsbeendigung durch Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit verhindert oder verzögert. Durch die Verwendung der Zeitform des Präsens hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass nur aktuelle Täuschungshandlungen die Voraussetzungen dieses Ausschlusstatbestandes erfüllen sollen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 21.7.2015 - 13 B 486/14 -, juris Rn. 11; OVG Sachs.-Anh., Beschl. v. 23.9.2015 - 2 M 121/15 -, juris Rn. 10; OVG Hamburg, Beschl. v. 19.5.2017 - 1 Bs 207/16 -, juris Rn. 31, offenlassend: Sächs. OVG, Beschl. v. 2.9.2016 - 3 B 168/16 -, juris Rn. 6; OVG Rheinl.-Pfalz, Beschl. v. 18.10.2016 - 7 B 10201/16 -, juris Rn. 4).

6 Das heißt jedoch nicht, dass in der Vergangenheit liegende Täuschungshandlungen völlig unberücksichtigt bleiben. In der Begründung des Regierungsentwurfs heißt es zu § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG (BT-Drs. 18/4097, S. 44):

7 "Diese Regelung knüpft nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers an, ist jedoch keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren. Anders als bei bisherigen Regelungen können beispielsweise zu Beginn des Verfahrens begangene Täuschungshandlungen zur Staatsangehörigkeit/Identität unberücksichtigt bleiben, sofern diese nicht allein kausal für die lange Aufenthaltsdauer gewesen sind. Diese Regelung ist einerseits eine Umkehrmöglichkeit für Ausländer, die in einer Sondersituation getroffenen Fehlentscheidungen zu korrigieren, andererseits ein Lösungsweg für langjährig anhaltende ineffektive Verfahren zwischen dem Ausländer einerseits und den staatlichen Stellen andererseits, die ansonsten weiterhin keiner Lösung zugeführt werden könnten."

8 Diese Formulierung lässt nur offen, wie in der Vergangenheit spielende Täuschungshandlungen normsystematisch berücksichtigt werden sollen. Überwiegendes spricht dafür, diese Umstände bereits bei der Frage zu berücksichtigen, ob ein Ausnahmefall vorliegt, der trotz Erfüllung der nach § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG "regelmäßig" zu erfüllenden Integrationsvoraussetzungen wegen Fehlens einer nachhaltigen Integration einer Titelerteilung entgegensteht (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 42; OVG NRW, Beschl. v. 21.7.2015, a.a.O., Rn. 9; a.A.: OVG Hamburg, Beschl. v. 19.5.2017, a.a.O., Rn. 33). Grundsätzlich sollen nur Ausländer, die sich an Recht und Gesetz halten, wegen ihrer vorbildlichen Integration begünstigt werden (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 45 (zu § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG)).

9 Ob ein Ausnahmefall von der regelmäßig anzunehmenden Integration vorliegt, beurteilt sich allein danach, ob besondere, atypische Umstände vorliegen, die das sonst ausschlaggebende Gewicht der Regelung des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG beseitigen. Maßgebend ist somit, ob die bei Vorliegen der Maßgaben von Satz 2 Nrn. 1 bis 5 eingreifende Regelvermutung der nachhaltigen Integration widerlegt ist, weil im Einzelfall Integrationsdefizite festzustellen sind, die dazu führen, dass den erzielten Integrationsleistungen bei wertender Gesamtbetrachtung ein geringeres Gewicht zukommt. (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 21.7.2015, a.a.O., Rn. 10). Ein Ausnahmefall liegt demnach vor, wenn die Täuschungshandlung aufgrund ihrer Art oder Dauer so bedeutsam ist, dass sie das Gewicht der nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG relevanten Integrationsleistungen für die Annahme der erforderlichen nachhaltigen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse beseitigt (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 21.7.2015, a.a.O., Rn. 15; OVG Sachs.-Anh., Beschl. v. 23.9.2015, a.a.O., Rn. 10). Das ist vorliegend der Fall.

10 Der Kläger hat von 2007 bis 2014 über seine Identität und Staatsangehörigkeit getäuscht. Dies hat seine Rückführung in sein Heimatland über sieben Jahre unmöglich gemacht. Er hat seine wahre Identität erst offenbart, als er glaubte, seinen weiteren Aufenthalt durch die Anerkennung der Vaterschaft zu einem deutschen Kind sichern zu können. Auch wenn dieses Geschehen nunmehr fünf Jahre zurückliegt, hat der Kläger sich auf diese Weise doch einen langjährig geduldeten Aufenthalt und damit die wesentliche Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG erschlichen. Ob dies auch im Hinblick auf die Anerkennung der Vaterschaft zu einem deutschen Kind gilt, dessen Vater er nach der Entscheidung des Amtsgerichts ... vom ... 2016 nicht ist, kann hier offen bleiben. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG kommt im vorliegenden Fall jedenfalls frühestens erst dann in Betracht, wenn der Kläger unabhängig von dem erschlichenen Zeitraum die zeitliche Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG erfüllt.

11 Art. 8 EMRK und Art 6 GG führen zu keiner anderen Betrachtungsweise. Dem Schutz der Familie und des Privatlebens wird hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass der Kläger im Hinblick auf die familiäre Beziehung zu seiner als Flüchtling anerkannten minderjährigen Tochter weiter im Bundesgebiet geduldet wird (vgl. Senatsbeschl v. 5.9.2017 - 13 LA 129/17 -, S. 8 f. des Beschlusses). Einer weitergehenden Legalisierung dieses Aufenthalts durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bedarf es dazu nicht.

12 b) Erfüllt der Kläger danach die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 AufenthG nicht, kommt es für den Ausgang des Klageverfahrens nicht mehr darauf an, ob es auch an der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mangelt. Sein darauf bezogenes Zulassungsvorbringen vermag folglich auch ernstliche Richtigkeitszweifel am maßgeblichen Ergebnis der erstinstanzlichen Entscheidung nicht zu begründen. Der Senat weist daher nur zur Klarstellung darauf  hin, dass das Verwaltungsgericht die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG zu Unrecht auch auf die Nichterfüllung der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gestützt hat.

13 Diese Vorschrift ist entgegen dem Zulassungsvorbringen allerdings auch im Rahmen einer Entscheidung über einen Aufenthaltstitel nach § 25b AufenthG anwendbar. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG enthält lediglich eine Abweichungsbefugnis ("soll") von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wir hingegen nicht genannt. Das Erfordernis des Nichtbestehens eines Ausweisungsinteresses wird auch nicht durch die Regelung des § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG eingeschränkt. Diese Bestimmung greift lediglich einige dem Gesetzgeber als besonders gewichtig erscheinende Ausweisungsinteressen heraus, bei denen die Ausländerbehörde die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25b AufenthG zwingend zu versagen hat. In der Rechtsfolge begründet § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG für die dort bezeichneten Ausweisungsinteressen daher eine Verschärfung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, da die Ausländerbehörde auch in atypischen Fällen nicht von diesem Erfordernis absehen kann. Im Übrigen gelten im Rahmen des § 25b AufenthG auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG, so dass gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die Titelerteilung nach § 25b AufenthG in der Regel voraussetzt, dass kein Ausweisungsinteresse besteht (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 45; OVG NRW, Beschl. v. 21.9.2015, a.a.O., Rn. 17 ff.; Sächs. OVG, Beschl. v. 2.9.2016, a.a.O., Rn. 9; OVG Hamburg, Beschl. v. 19.5.2017, a.a.O., Rn. 40; Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 25b Rn. 33). [...]