SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Beschluss vom 23.12.2019 - S 50 AY 166/19 ER - Asylmagazin 3/2020, S. 98 f. - asyl.net: M28027
https://www.asyl.net/rsdb/M28027
Leitsatz:

Keine Leistungskürzung bei "Anerkannten" bei unzumutbarer Ausreise:

1. Auch bei einer Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 4 S. 2 Nr. 1 AsylbLG bei Personen, denen in einem anderen europäischen Staat bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, muss eine tatsächliche zumutbare Ausreisemöglichkeit nach § 1a Abs. 1 S. 1 AsylbLG vorliegen. Diese ist unzumutbar, wenn bei Rückkehr eine Verletzung der Menschenwürde droht. Dies ist in Hinblick auf Griechenland zu bejahen.

2. Das Berliner "Welcome-Ticket" deckt den notwendigen Bedarf an öffentlichem Nahverkehr hinreichend, so dass zumindest kein Eilbedürfnis bezüglich dieser Bedarfsdeckung besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Sozialrecht, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Anspruchseinschränkung, Leistungsminderung, internationaler Schutz in EU-Staat, Griechenland, einstweilige Anordnung, Menschenwürde,
Normen: SGG § 86b Abs. 2, AsylbLG § 1a Abs. 4 S. 2 Nr. 1, AsylbLG § 3, AsylbLG § 3a, AsylbLG § 1a Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Dem Grunde nach ist der Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden. Hierzu im Einzelnen:

Die Antragsteller unterfallen einfachgesetzlich § 1a Absatz 4 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG.

Im Rahmen der Änderungen des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (BGBl. I, S. 1294) ist seit August 2019 vorgesehen, dass vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer, denen von einem anderen EU-Mitgliedsstaat internationaler Schutz gewährt worden ist, keinen Anspruch auf Leistungen haben, falls der nationale Schutz fortbesteht.

Die Antragsteller zu 1) bis 3) legten am 25. Oktober 2019 gültige Aufenthaltspapiere in Form eines griechischen Reisepasses für anerkannte Asylberechtigte sowie einer griechischen Asyl-Identitätskarte vor und erklärten unter dem 29. Oktober 2019, dass diese Dokumente bis zum 11. März 2022 gültig seien. Der in Griechenland gewährte internationale Schutz sei bis zur Ausreise auch nicht widerrufen worden.

Rechtsfolge hieraus ist die entsprechende Anwendung des § 1a Absatz 1 AsylbLG. Diese Vorschrift bestimmt, dass Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 5, für die ein Ausreisetermin und eine Ausreisemöglichkeit feststehen, ab dem auf den Ausreisetermin folgenden Tag keinen Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2,3 und 6 AsylbLG haben, es sei denn, die Ausreise konnte aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden. Ihnen werden nach § 1a Absatz 1 Satz 2 AsylbLG bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt werden. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können ihnen auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG gewährt werden, also Kleidung und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts (notwendiger Bedarf). Vom notwendigen persönlichen Bedarf sind sie dem Wortlaut nach ausgeschlossen.

Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 - bestehen nunmehr seitens des Antragstellervertreters verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Rechtsfolge des § 1a AsylbLG.

Diese Kammer geht im Eilverfahren zunächst von folgendem aus:

Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschrift des § 1a des Asylbewerberleistungsgesetzes in der geltenden Fassung derzeit noch nicht für verfassungswidrig erklärt.

Die Kammer vertritt des Weiteren im Einklang mit dem Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 12.05.2017 - B 7 AY 1/16 R - juris Rn 29 ff.) die Auffassung, dass der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt ist, zur Durchsetzung von asyl- und aufenthaltsrechtlichen Mitwirkungspflichten im AsylbLG belastende Anspruchseinschränkungen vorzusehen. Insbesondere hält es die Kammer für mit dem Verfassungsrecht vereinbar, dass der Gesetzgeber ordnungspolitische Erwägungen durchaus auch in das Leistungsrecht nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einfließen lässt. [...]

Die Verweisung des § 1a Absatz 4 Satz 2 AsylbLG ist allerdings nicht eine bloße Rechtsfolgenverweisung, denn es wird nicht nur auf die Vorschrift des § 1a Absatz 1 Satz 2-4 AsylbLG verweisen. Die Verweisung erfasst auch Satz 1 des § 1a Absatz 1 AsylbLG. Danach ist ein Ausschluss von Leistungen nach § 3 AsylbLG an eine Ausreisemöglichkeit geknüpft. Eine reale Ausreisemöglichkeit besteht zur Überzeugung der Kammer aber für Ausländer mit Schutzstatus im Sinne des § 1a Absatz 4 Satz 2 AsylbLG nur, wenn die Rückkehr in den schutzgewährenden Staat auch zumutbar ist, ohne dass die Menschenwürde verletzt wird. Insoweit ist § 1a AsylbLG verfassungskonform teleologisch auszulegen. [...]

Wie auch sonst in § 1a Absatz 1 AsylbLG muss aber vor einer Leistungskürzung eine Ausreisemöglichkeit festgestellt werden. Der Begriff ist dabei nicht rein real zu verstehen, denn innerhalb Europas besteht mittels Flugzeug, Bus und Bahn immer eine Rückkehrmöglichkeit in das den Schutz gewährende Land - hier Griechenland. Der Begriff ist im Lichte des Verfassungsrechts stets auch dahingehend zu prüfen, ob die Möglichkeit der Rückkehr ohne Verletzung der Menschenwürde zumutbar ist. Der von einem anderen Staat erteilte Schutzstatus wirkt dabei auch bei der zu treffenden behördlichen Entscheidung im Rahmen der Verweisung des § 1a Absatz 4 Satz 2 AsylbLG fort. Stets ist zu prüfen, ob die uneingeschränkte Durchsetzung der Rückkehr in das Land, das den Schutzstatus erteilt hat, nicht schlussendlich die Menschenwürde verletzt. Dabei ist zu bedenken, dass der Gesetzgeber bei den Staaten im Sinne des § 1a Absatz 4 AsylbLG von der Idealvorstellung in etwa vergleichbarer Verhältnisse mit Deutschland ausgegangen ist. Dort, wo dies der Fall ist, also z.B. Skandinavien, besteht eine auch objektiv zumutbare Ausreisemöglichkeit im Sinne des § 1a Absatz 1 Satz 1 AsylbLG. Vorliegend geht es um Griechenland. Aus den Medien ist allgemein bekannt, dass Griechenland mit der Fülle der dort ankommenden Menschen, die Asyl suchen, derzeit überfordert ist und die dortigen Unterbringungen den hiesigen Maßstäben eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht im Ansatz entsprechen. Eine Ausreisemöglichkeit im Sinne einer objektiv zumutbaren Ausreisemöglichkeit im Sinne des § 1a Absatz 1 AsylbLG sieht die Kammer hier nicht.

Im Ergebnis bedeutet dies hinsichtlich des geltend gemachten Anordnungsanspruches dem Grunde nach, dass die zwar tatbestandlich dem § 1a Absatz 4 Satz 2 AsylbLG unterfallenden Antragsteller mangels einer objektiv zumutbaren Ausreisemöglichkeit im Sinne des § 1a Absatz 1 Satz 1 AsylbLG grundsätzlich nicht von Leistungen nach §§ 2, 3 und 6 AsylbLG ausgeschlossen sind, solange die Ausreisemöglichkeit objektiv - wie hier - nicht zumutbar ist. [...]

Zur Überzeugung der Kammer ist der Bedarf an öffentlichem Nahverkehr hinreichend mit dem bewilligten Welcome-Ticket gedeckt. In diesem Umfang ist zumindest aber ein Anordnungsgrund zum Zeitpunkt der Beschlussfassung nicht glaubhaft gemacht. [...]