VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 13.01.2020 - 7 L 1317/19 - Asylmagazin 4/2020, S. 134 ff. - asyl.net: M28140
https://www.asyl.net/rsdb/M28140
Leitsatz:

Zur Zumutbarkeit von Mitwirkungspflichten im Rahmen der Neuregelung zur Duldung für Personen mit ungeklärter Identität:

1. Ob ein Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO oder auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO gegen eine Duldung für Personen mit ungeklärter Identität nach § 60b AufenthG statthaft ist, wird hier offengelassen.

2. Trotz möglicherweise bestehender Minderjährigkeit und fehlender familiärer Unterstützung in Guinea liegen keine Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot vor, da der Antragsteller gesund, jung und arbeitsfähig ist und sich durch ihm unbekannte Länder bis nach Europa durchschlagen konnte.

3. Die in § 60b Abs. 3 S. 1 AufenthG aufgeführten regelmäßig zumutbaren Mitwirkungshandlungen zur Passbeschaffung sind nicht abschließend. Alle Umstände des Einzelfalls sind bei der Prüfung ihrer Zumutbarkeit zu berücksichtigen.

4. In Bezug auf die Zumutbarkeit kann auf die bisherige Rechtsprechung des OVG NRW zu Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung zurückgegriffen werden (Beschluss vom 14.03.2006 - 18 E 924/04 - asyl.net: M8098). Insbesondere kann von einer ausreisepflichtigen Person erwartet werden, zur Erlangung von Identitätsnachweisen in ihrem Herkunftsland Mittelspersonen oder anwaltliche Unterstützung einzuschalten. Ggf. ist von der betreffenden Person eine entsprechende sozialrechtliche Finanzierung zu organisieren.

5. Dass die guineische Botschaft möglicherweise keine Pässe ausstellt, steht der Zumutbarkeit nicht entgegen, da nach Auskunft des Auswärtigen Amts die Ausstellung von anderweitigen Papieren für die Rückreise möglich ist.

6. Auch einer Einstiegsqualifizierung nach § 54a SGB III steht das Beschäftigungsverbot des § 60b Abs. 5 S. 2 AufenthG entgegen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Duldung light, Passbeschaffung, Identitätsfeststellung, Identitätsnachweis, Mitwirkungspflicht, Zumutbarkeit, Guinea, Abschiebungsverbot, statthafte Antragsart, vorläufiger Rechtsschutz, Passbeschaffungsshandlungen, Auswärtiges Amt, Einstiegsqualifizierung, Beschäftigungsverbot, Arbeitsverbot,
Normen: AufenthG § 60b Abs. 3 S. 1, AufenthG § 60b Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60b Abs. 5 S. 2, SGB III § 54a, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

A) Hinsichtlich des mit den Anträgen zu 1. verfolgten Begehrens – keine Duldung als Person mit ungeklärter Identität - lässt die Kammer dahinstehen, welcher der diesbezüglich gestellten Anträge statthaft ist (I.). Sowohl ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO als auch einer nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO bleiben ohne Erfolg, denn die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller zu Recht eine Duldung als Person mit ungeklärter Identität erteilt (II.).

I. Nach der Konzeption des Gesetzgebers spricht Vieles dafür, dass einstweiliger Rechtsschutz in der vorliegenden Fallkonstellation nicht durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO, sondern in dem gemäß § 123 Abs. 5 VwGO vorrangigen Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu gewähren ist. [...] Aufgrund der damit gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) spricht Vieles für die Statthaftigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer – hier noch zu erhebenden – Anfechtungsklage gegen die Erteilung einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität (vgl. Wittmann/Röder: Aktuelle Rechtsfragen der Duldung für Personen mit ungeklärter Identität gem. § 60 b AufenthG, ZAR 2019, 362 (367 f.)).

Die Kammer hat jedoch Zweifel, ob dem Antragsteller mit dieser Konzeption effektiver einstweiliger Rechtsschutz im Sinne des Art 19 Abs. 4 GG gewährt wird. Sofern der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO aufgrund offensichtlicher Rechtswidrigkeit der Erteilung einer Duldung nach § 60b AufenthG erfolgreich wäre, wäre dies für den Betroffenen nämlich nicht von Nutzen. § 60b Abs. 6 AufenthG verweist auch auf § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsaktes, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt lassen. Der Gesetzgeber ist nach der Gesetzesbegründung der Ansicht, diese Regelung sei auch für eine Duldung nach § 60b AufenthG passend (vgl. BT-Drs. 19/10706, S. 14).

Anders als bei dem originären Anwendungsbereich der Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, der bei einer aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen eine Ausweisung oder einen sonstigen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendenden Verwaltungsakt aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber dem Ausländer nicht zulässt, gereicht die aufschiebende Wirkung dem Ausländer allerdings hier überhaupt nicht zum Vorteil. Denn die Wirkungen des § 60b AufenthG treten nach der Verweisung unabhängig von einer aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs ein. So dürfte der Verweis auf § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu verstehen sein. Insbesondere soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während des laufenden Gerichtsverfahrens unabhängig von der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs ausgeschlossen sein. [...]

Mithin wird davon auszugehen sein, dass durch den Verweis auf die Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sämtliche Wirkungen einer Duldung nach § 60b AufenthG (siehe insbesondere § 60b Abs. 5 AufenthG bezüglich der nicht möglichen Anrechnung als Vorduldungszeiten, des Erwerbstätigkeitsverbots sowie der Wohnsitzauflage) unabhängig von der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs eintreten. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch eine gerichtliche Entscheidung ist daher zur Abwendung unmittelbar eintretender Nachteile – wie dem Erwerbstätigkeitsverbot – auch dann nicht geeignet, wenn die Rechtswidrigkeit der Entscheidung nach § 60b AufenthG offensichtlich ist. [...]

II. Letztendlich kommt es im vorliegenden Fall jedoch nicht darauf an, ob aufgrund der vorstehenden Ausführungen auch die Statthaftigkeit eines Antrages nach § 123 VwGO anzunehmen ist, da sämtliche Anträge jedenfalls unbegründet sind. [...]

2. Der Antragsteller erfüllt (offensichtlich) die Voraussetzungen, die die Antragsgegnerin verpflichten, ihm eine Duldung für Personen mit ungeklärter Identität auszustellen. [...]

Soweit angezeigt sein könnte, das Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbotes inzident zu prüfen (vgl. Wittmann/Röder, a.a.O., S. 366), liegen hier keine Anhaltspunkte dafür vor, für den Antragsteller ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG anzunehmen. Unabhängig von seiner möglicherweise bestehenden Minderjährigkeit wird es dem Antragsteller in Guinea voraussichtlich gelingen, sein Existenzminimum durch eine legale Tätigkeit auch ohne familiäre Unterstützung sicherzustellen. Der Antragsteller ist ein gesunder, junger und arbeitsfähiger Mann. Anhaltspunkte für eine allgemeine Erwerbsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen liegen – schon mit Blick auf den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens – nicht vor. Zudem hat der Antragsteller durch seine Reise nach Europa, bei der er noch deutlich jünger war als zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt, unter Beweis gestellt, dass er sich in für ihn ungekannten Ländern und Umgebungen durchschlagen kann und dass er in der Lage ist, seine Existenz beispielsweise als Tagelöhner zu sichern (vgl. VG Minden, Urteil vom 25. April 2019 - 12 K 9388/17.A -). [...]

b) Der Antragsteller hat auch die besondere Passbeschaffungspflicht des § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG verletzt. Zwar ist hier nicht ersichtlich, dass der Antragsteller eine der ihm nach § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG regelmäßig zumutbaren Mitwirkungshandlungen unterlassen hat. Insbesondere hat er bei der guineischen Botschaft vorgesprochen, um ein Personaldokument zu erhalten. Da der Antragsteller jedoch keinerlei Unterlagen zu seiner Identität vorlegen konnte, konnte ihm die Botschaft kein Dokument ausstellen (vgl. Bl. 13 GA). Allein mit diesem erfolglosen Versuch hat der Antragsteller der besonderen Passbeschaffungspflicht jedoch nicht genügt. Die Liste des § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist nicht abschließend. Sie enthält lediglich eine vom Gesetzgeber als zumutbar erachtete typisierende Aufzählung von Mitwirkungshandlungen. Entscheidend für die Zumutbarkeit der Passbeschaffungshandlungen sind nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG alle Umstände des Einzelfalles (vgl. Wittmann/Röder, a.a.O., S. 366).

Unter Rückgriff auf die übrige ständige Rechtsprechung der Kammer und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen zu Mitwirkungspflichten bei der Pass(-ersatz-)papierbeschaffung (vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2006 - 18 E 924/04 -, juris Rn. 6 ff.; VG Minden, Beschluss vom 1. Oktober 2019 - 7 K 2638/19) hat ein ausreisepflichtiger Ausländer – wie der Antragsteller – alle zur Erfüllung seiner Ausreisepflicht erforderlichen Maßnahmen, und damit auch die zur Klärung seiner Identität und zur Beschaffung eines gültigen Passes oder Passersatzpapiers erforderlichen Handlungen, grundsätzlich ohne besondere Aufforderung durch die Ausländerbehörde unverzüglich einzuleiten. Dabei hat er sich gegebenenfalls unter Einschaltung einer Mittelsperson in seinem Heimatland um erforderliche Dokumente und Auskünfte zu bemühen, wobei es grundsätzlich auch zumutbar ist, einen Rechtsanwalt im Herkunftsstaat zu beauftragen.

Derartige Handlungen können nur dann nicht verlangt werden, wenn sie von vornherein aussichtslos sind (zur Übertragung dieser Rechtsprechung auf § 60b AufenthG vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 8 K 9489/17 –, juris Rn. 66 ff.). [...]

Dass die Botschaft der Republik Guinea in Berlin möglicherweise keine Reisepässe ausstellt, spricht nicht gegen die Zumutbarkeit weiterer Bemühungen um einen Identitätsnachweis, da die Ausstellung von zur Rückreise berechtigenden Papieren nach der vorliegenden Erkenntnislage möglich ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Guinea (Stand: Mai 2019), S. 14). [...]

Soweit dem Antragsteller möglicherweise keine ausreichenden finanziellen Mittel zur wirksamen Kontaktaufnahme mit Personen in seinen Herkunftsstaat zur Verfügung stehen, obliegt es ihm, eine entsprechende sozialrechtliche Finanzierung zu organisieren (vgl. VG Minden, Urteil vom 29. Juli 2019 - 7 K 2503/17 -). [...]

Da dem Antragsteller zu Recht eine Duldung für Personen mit ungeklärter Identität erteilt wurde, steht der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis für die Einstiegsqualifizierung jedenfalls § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG entgegen, wonach dem Inhaber einer Duldung mit dem Zusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden darf. Darunter fällt auch die hier begehrte Aufnahme einer Einstiegsqualifizierung nach § 54a SGB III. [...]