VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.04.2020 - 11 S 1325/19 - asyl.net: M28450
https://www.asyl.net/rsdb/M28450
Leitsatz:

Mitwirkungsflicht zur Beschaffung von Identitätspapieren trotz vorhandener personenbezogener Daten:

"Durch das Vorhandensein personenbezogener Daten eines Asylbewerbers im Visa-Informationssystem und die Abrufbarkeit dieser Daten für die mit der Ausführung des Asylgesetzes betrauten Behörden entfällt nicht die Verpflichtung eines Asylbewerbers nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Mitwirkungspflicht, Identitätsnachweis, Beschäftigungserlaubnis, Arbeitserlaubnis, Visum, Schengen-Visum, Visa-Informationssystem, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Ermessensfehler,
Normen: VO 767/2008 Art. 2, VO 767/2008 Art. 5, VO 767/2008 Art. 8, VwGO § 114, AsylG § 15 Abs. 2, AsylG § 61 Abs. 2, GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

[...]

b) Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten zum hier maßgeblichen Zeitpunkt auf einem nach § 114 VwGO relevanten Ermessensfehler beruht hat.

aa) Der oben bereits angesprochene Maßstab, an dem sich die Beklagte bei der Ausübung ihres Ermessens nach § 61 Abs. 2 Satz 1 AsylG a.F. orientiert hat, ist nicht zu beanstanden. Ebenso wenig begegnet es Bedenken, wenn die Beklagte in Konkretisierung dieses Maßstabs - der Würdigung aller Gesichtspunkte des Einzelfalls - den Themen Erfüllung asylverfahrensrechtlicher Mitwirkungspflichten, Bestehen von Ausweisungsinteressen sowie Umfang etwaiger Integrationsbemühungen besonderes Gewicht zugemessen hat. Hierbei handelt es sich nicht um sachfremde Erwägungen, die bei der Ermessensausübung nach § 61 Abs. 2 Satz 1 AsylG a.F. keine Berücksichtigung finden durften. Ebenso wenig ist es zu beanstanden, wenn die Beklagte bei der Würdigung der konkreten Gegebenheiten des Falles der Klägerin der Nichterfüllung asylverfahrensrechtlicher Mitwirkungspflichten letztlich größeres Gewicht zugemessen hat als dem Umstand, dass die Klägerin im laufenden Klageverfahren Nachweise für durchaus relevante Integrationsbemühungen erbracht hat.

bb) Auch die Anwendung des von der Beklagten herangezogenen Maßstabs lässt im Falle der Klägerin keinen relevanten Ermessensfehler erkennen.

(1) So hat die Beklagte bei der Ermessensausübung zu Recht auf die Nichterfüllung von asylverfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten der Klägerin abgestellt. Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin zum hier maßgeblichen Zeitpunkt ihren Mitwirkungspflichten nicht hinreichend nachgekommen war.

Dies gilt auch dann, wenn man den Einlassungen der Klägerin Glauben schenkt, dass sie tatsächlich nicht in der Lage sei, den Anforderungen des § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG nachzukommen, also den mit der Ausführung des Asylgesetzes betrauten Behörden einen Pass oder Passersatz vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Denn in diesem Fall ist die Klägerin nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG verpflichtet, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken. Hierauf hat die Beklagte die Klägerin hingewiesen und den Erlass der beantragten Beschäftigungserlaubnis ausdrücklich von der Erfüllung dieser Pflicht abhängig gemacht. Diese Haltung der Ausländerbehörden war der Klägerin bereits aus einem von ihr im Mai 2017 betriebenen Erlaubniserteilungsverfahren bekannt. Jedenfalls zum hier maßgeblichen Zeitpunkt hatte das Verwaltungsgericht keinen Anlass für die Annahme, dass die Klägerin ihrer Verpflichtung aus § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG bereits hinreichend nachgekommen war.

(a) Diese Verpflichtung hat entgegen der Auffassung der Klägerin zum hier maßgeblichen Zeitpunkt bestanden. Anderes ergibt sich nicht aus dem von der Klägerin geltend gemachten Umstand, dass in den Jahren 2014 und 2015 im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Visumsanträgen durch spanische und italienische Behörden personenbezogene Daten der Klägerin im Visa-Informationssystem gespeichert wurden. Durch das Vorhandensein und die Abrufbarkeit dieser Daten für die mit der Ausführung des Asylgesetzes betrauten Behörden entfällt nicht die Verpflichtung eines Asylbewerbers nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken. Dies erklärt sich daraus, dass der Gesetzgeber die Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG mit Blick darauf geschaffen hat, dass für den Asylbewerber im Falle eines für ihn negativen Abschlusses des Asylverfahrens zur Durchführung seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat dort anerkannte Identitätspapiere benötigt werden. Es geht also darum, die Möglichkeit der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu gewährleisten (Bergmann, in: ders/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 15 AsylG Rn. 11; Sieweke/Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 24. Edition 01.11.2019, § 15 AsylG Rn. 7). Allein durch die Nutzung personenbezogener Daten des Asylbewerbers aus dem Visa-Informationssystem wird aber nicht gewährleistet, dass der Herkunftsstaat des Asylbewerbers dessen Rückkehr zulässt. Das Visa-Informationssystem dient zwar unter anderem auch dem Zweck, zur Identifizierung von Personen beizutragen, die die Voraussetzungen für die Einreise in das Unionsgebiet oder den dortigen Aufenthalt nicht beziehungsweise nicht mehr erfüllen (vgl. Art. 2 Buchst. e der Verordnung <EG> Nr. 767/2008 <VIS-Verordnung>). Insofern erfüllt es auch Funktionen im Rahmen der Rückführung von Drittstaatsangehörigen aus dem Unionsgebiet. Das Visa-Informationssystem beinhaltet aber lediglich die in Art. 5 der VIS-Verordnung aufgeführten Kategorien von Daten (alphanumerische Daten über den Antragsteller und über Visa, Fotos, Fingerabdruckdaten und Verknüpfungen zu anderen Anträgen). Hierzu zählen zwar auch Informationen über Reisedokumente, die der Drittstaatsangehörige bei der Visumsbeantragung vorgelegt hat (Art und Nummer des Reisedokuments, der Code des ausstellenden Staates, das Datum des Ablaufs der Gültigkeitsdauer des Reisedokuments, die ausstellende Behörde sowie das Datum der Ausstellung des Dokuments; vgl. Art. 9 Nr. 4 Buchst. b bis d der VIS-Verordnung). Das Visa-Informationssystem umfasst aber keine Sammlung von Identifikationspapieren (oder auch nur authentischen Abbildungen), die benötigt werden, um im Falle einer Rückführung des Drittstaatsangehörigen dessen Aufnahme im Herkunftsstaat zu gewährleisten. Für einen Herkunftsstaat besteht keine Veranlassung, die im Visa-Informationssystem zu einem Asylbewerber gespeicherten Informationen als für eine Einreise in sein Staatsgebiet ausreichenden Identitätsnachweis anzuerkennen. Daher ist ein Asylbewerber auch dann verpflichtet, an der Beschaffung eines Identifikationspapiers mitzuwirken, wenn seine Identität für die mit der Durchführung des Asylgesetzes betrauten Behörden aufgrund der Informationen im Visa-Informationssystem über die betreffende Person hinreichend geklärt ist.

(b) Das Verwaltungsgericht hat auch zu Recht angenommen, dass die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Pflicht zur Mitwirkung an der Beschaffung eines Identitätspapiers noch nicht hinreichend nachgekommen war.

Von einem Asylbewerber kann zwar vor dem negativen Abschluss seines Asylverfahrens nicht uneingeschränkt verlangt werden, zu Behörden seines Herkunftsstaates persönlich Kontakt aufzunehmen, um dort die Ausstellung von Identitätspapieren zu erwirken (vgl. hierzu VG Freiburg, Beschluss vom 04.09.2019 - A 9 K 1479/19 -, juris Rn. 2 ff.; Bergmann, in: ders./Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 15 AsylG Rn. 11). Dies hat die Beklagte von der Klägerin aber auch nicht verlangt. Vielmehr hat die Beklagte die Klägerin wiederholt aufgefordert, anstelle des als entwendet bezeichneten Passes - auf welche Weise auch immer - ein sonstiges Dokument herbeizuschaffen, das zum Nachweis ihrer Identität geeignet sein kann (Personalausweis, Geburtsurkunde, Staatsangehörigkeitsurkunde, Familienbuch, Führerschein oder ähnliches). Hierauf ist aber zunächst keine sachangemessene Reaktion der Klägerin erfolgt. Vor Erhebung der Klage hat nichts darauf hingedeutet, dass sich die Klägerin in irgendeiner Weise um die Beschaffung eines der von der Beklagten angesprochenen Dokumente bemüht. Vielmehr hat sie sich auf die nicht näher erläuterte Behauptung beschränkt, dass sie keinen Zugang zu solchen Dokumenten habe und dass ihre Identität bereits hinreichend geklärt sei. Hierdurch war die Klägerin von ihren Mitwirkungspflichten aber nicht befreit. Vielmehr wäre zumindest zu erwarten gewesen, dass sie der Beklagten darlegt, welche Anstrengungen sie unternommen hat, über Verwandte oder Bekannte im Herkunftsstaat auf die Beschaffung von geeigneten Dokumenten hinzuwirken, beziehungsweise weshalb es aussichtslos sein wird, in dieser Richtung (weiter) tätig zu werden. [...]