VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 07.05.2020 - Au 1 K 18.30870 - asyl.net: M28481
https://www.asyl.net/rsdb/M28481
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen Mann wegen fehlender Existenzgrundlage in Gambia:

1. Auch ein junger, alleinstehender und arbeitsfähiger Mann kann im Einzelfall außerstande sein, in Gambia ohne familiäre Unterstützung seine Existenz eigenständig zu sichern.

2. Ob diese Möglichkeit besteht, hängt wesentlich von persönlichen Faktoren und Fähigkeiten ab, wie Durchsetzungfähigkeit und Eigenständigkeit. Die Frage, ob diese Eigenschaften vorliegen oder nicht, zeigt sich z.B. daran, ob die betroffene Person auch nach Erreichen der Volljährigkeit noch auf Hilfe vom Jugendamt in Form von Heimerziehung angewiesen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Gambia, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

14 [...] Der volljährige Kläger macht geltend, aufgrund seines noch jungen Alters und seiner besonderen Hilfsbedürftigkeit ohne familiäre Unterstützung in Gambia in existentielle Not zu geraten. Dem folgt das Gericht. Es hat nach Durchführung der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr bzw. Abschiebung nach Gambia einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht mehr gesichert wären.

15 a) Das Verwaltungsgericht Augsburg geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein volljähriger, arbeitsfähiger und gesunder Mann, der mangels familiärer Bindungen keine Unterhaltslasten zu tragen hat, regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Gambia in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Ob wegen besonderer individueller Umstände eine Ausnahme vorliegt, lässt sich aber nicht allgemein beantworten. Es ist vielmehr eine Frage des konkreten Einzelfalls, ob eine abweichende Beurteilung geboten ist. Aus dem aktuellen Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 5. August 2019 (Stand: Juli 2019 - Lagebericht -, S. 9, 10) ergibt sich dabei, dass die Grundversorgung der Bevölkerung in Gambia mit Nahrungsmitteln nur beschränkt gewährleistet ist. Sozialhilferegelungen bestehen ebenso wenig wie staatliche Einrichtungen zur Aufnahme von Rückkehrern. In der Regel erfolgt eine Aufnahme durch die gambische (Groß-) Familie.

16 b) Vor diesem Hintergrund ergibt sich nach Überzeugung des Gerichts wegen der Persönlichkeit des Klägers und der allgemeinen Versorgungslage eine existenzielle Gefahr bei einer Abschiebung nach Gambia. Das Gericht geht nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon aus, dass der Kläger aufgrund seines jungen Alters und seiner Persönlichkeit im Falle einer Rückkehr in eine existentielle Notlage geraten würde. Seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland lebt er in einer Jugendhilfeeinrichtung und wird dort betreut. Er wird ohne Hilfe nicht in der Lage sein, sich bei einer Rückkehr nach Gambia eine Existenzgrundlage zu schaffen. Entscheidend ist hierbei, dass er zum einen auf kein soziales Netzwerk zurückgreifen kann und zum anderen, dass er bereits im Alter von 13 Jahren aus Gambia ausgereist ist und dort über keine verlässlichen Bezugspersonen verfügt. [...]

Das Gericht ist weiter zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur eine Aufnahme durch ihm vertraute Personen in Gambia unabdingbar benötigen würde. Die Stadt Kaufbeuren hat dem Kläger nach der Vollendung des 18. Lebensjahres mit Bescheid vom 9. Januar 2020 Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung gewährt. Sie sah sich dazu veranlasst, da er weiterhin Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung benötigt. Deshalb wird er weiterhin in einer heilpädagogischen Wohngruppe betreut. Die in der mündlichen Verhandlung anwesende Bezugsbetreuerin der Jugendeinrichtung, in welcher der Kläger lebt, führte bei ihrer informatorischen Anhörung durch das Gericht aus, der Kläger sei sehr unsicher und schüchtern. Aufgrund seiner emotionalen Instabilität benötige er dringend Beistand in vielen alltäglichen Situationen. Er habe Schwierigkeiten, Vertrauen zu fremden Personen zu fassen und bedürfe stets des Rückhalts vertrauter Personen. Insbesondere in Konfliktsituationen und in unbekannten Situationen benötige er Beistand.

Unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsstruktur des Klägers ist das Gericht der Überzeugung, dass es diesem nicht gelingen kann, sich im Kampf um die wenigen Arbeitsplätze, eine Wohnmöglichkeit oder beim Zugang zu Hilfeleistungen Dritter gegenüber denjenigen durchzusetzen, denen die Anpassung an die Verhältnisse leichter fällt. Ein selbständiges Leben hat der Kläger bislang nicht geführt und ist dazu gegenwärtig auch noch nicht in der Lage. Die Notwendigkeit einer fachkundigen Begleitung und weiteren Heimerziehung wurde von Fachkräften des Jugendamts festgestellt. Auch auf das Gericht machte der Kläger bei seiner informatorischen Befragung den Eindruck eines zurückhaltenden, noch sehr jugendlich wirkenden Erwachsenen. Die fachliche Einschätzung, dass er bislang nicht in der Lage ist, eigeninitiativ für sein Leben zu sorgen, ist nachvollziehbar. [...]